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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 7. Mai 2015(1)

Rechtssache C‑216/14

Strafverfahren

gegen

Gavril Covaci

(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Laufen [Deutschland])

„Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2010/64/EU – Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Rahmen von Strafverfahren – Möglichkeit, ein Rechtsmittel gegen ein Strafurteil in einer anderen Sprache als der Verfahrenssprache einzulegen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Zustellung eines Strafurteils an einen Zustellungsbevollmächtigten und Übermittlung mit einfacher Post an die beschuldigte Person – Ab der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten laufende Rechtsmittelfrist gegen dieses Urteil“





1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bietet dem Gerichtshof erstmals Gelegenheit, zwei Richtlinien auszulegen, die auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassen wurden. Diese Bestimmung ist die Rechtsgrundlage für den Erlass von Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension. Insbesondere erlaubt Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 2 Buchst. b AEUV dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union, Mindestvorschriften betreffend die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren zu erlassen.

2.        Die beiden Richtlinien, um deren Auslegung gebeten wird, sind zum einen die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren(2) und zum anderen die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren(3)

3.        Die erste Frage gibt dem Gerichtshof die Gelegenheit, die Tragweite des Rechts auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Fall der Einlegung eines Rechtsmittels gegen einen Strafbefehl in einer anderen Sprache als der Verfahrenssprache zu präzisieren.

4.        Die zweite Frage bezieht sich darauf, ob die deutschen Rechtsvorschriften, die einen Mechanismus der Zustellung von Strafbefehlen an einen Zustellungsbevollmächtigten, gefolgt von einer Übermittlung mit einfacher Post an die beschuldigte Person(4), vorsehen, den Erfordernissen der Richtlinie 2012/13 und insbesondere dem Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Art. 6 dieser Richtlinie entsprechen.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Richtlinie 2010/64

5.        Die Richtlinie 2010/64 sieht das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren vor. Sie stellt das erste in der Europäischen Union erlassene Instrument zur Stärkung der Verfahrensgarantien der verdächtigen oder beschuldigten Person im Bereich der Strafverfolgung durch die Schaffung von Mindestvorschriften gemäß Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 2 Buchst. b AEUV dar.

6.        Die Erwägungsgründe 14, 17 und 33 dieser Richtlinie lauten:

„(14) Das Recht von Personen, die die Verfahrenssprache des Gerichts nicht sprechen oder nicht verstehen, auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ergibt sich aus Artikel 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten(5)] in dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese Richtlinie erleichtert die praktische Anwendung dieses Rechts. Zu diesem Zweck zielt diese Richtlinie darauf ab, das Recht von verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren im Hinblick auf die Wahrung des Rechts dieser Personen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(17)      Diese Richtlinie sollte gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird.

(33)      Die Bestimmungen dieser Richtlinie, die den durch die EMRK oder die Charta [der Grundrechte der Europäischen Union(6)] gewährleisteten Rechten entsprechen, sollten entsprechend diesen Rechten, wie sie in der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgelegt werden, ausgelegt und umgesetzt werden.“

7.        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2010/64 lautet:

„(1)      Diese Richtlinie regelt das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.

(2)      Das in Absatz 1 genannte Recht gilt für Personen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

…“

8.        Art. 2 („Recht auf Dolmetschleistungen“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, unverzüglich Dolmetschleistungen während der Strafverfahren bei Ermittlungs- und Justizbehörden, einschließlich während polizeilicher Vernehmungen, sämtlicher Gerichtsverhandlungen sowie aller erforderlicher Zwischenverhandlungen, zur Verfügung gestellt werden.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Dolmetschleistungen für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand in unmittelbarem Zusammenhang mit jedweden Vernehmungen und Verhandlungen während des Verfahrens oder bei der Einlegung von Rechtsmitteln oder anderen verfahrensrechtlichen Anträgen zur Verfügung stehen, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(8)      Nach diesem Artikel zur Verfügung gestellte Dolmetschleistungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, wobei insbesondere sicherzustellen ist, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

9.        Art. 3 („Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(2)      Zu den wesentlichen Unterlagen gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil.

(3)      Die zuständigen Behörden entscheiden im konkreten Fall darüber, ob weitere Dokumente wesentlich sind. Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihr Rechtsbeistand können einen entsprechenden begründeten Antrag stellen.

…“

2.      Richtlinie 2012/13

10.      Die Richtlinie 2012/13 ist das zweite Instrument, das zur Stärkung der Verfahrensgarantien des Verdächtigen oder der beschuldigten Person in Strafsachen in der Union erlassen wurde. Sie sieht das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren vor.

11.      Die Erwägungsgründe 27, 28, 40 und 41 dieser Richtlinie lauten:

„(27) Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.

(28)      Die Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, sollte umgehend erfolgen und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde und ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen. Eine Beschreibung der Umstände der strafbaren Handlung, deren die Person verdächtigt oder beschuldigt wird, einschließlich, sofern bekannt, der Zeit und des Ortes sowie der möglichen rechtlichen Beurteilung der mutmaßlichen Straftat sollte – je nach Stadium des Strafverfahrens, in der sie gegeben wird – hinreichend detailliert gegeben werden, so dass ein faires Verfahren gewährleistet und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.

(40)      Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um auch in Situationen, die von dieser Richtlinie nicht ausdrücklich erfasst sind, ein höheres Schutzniveau zu bieten. Das Schutzniveau sollte nie unter den Standards der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen.

(41)      Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Mit dieser Richtlinie sollen insbesondere das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte gefördert werden. Sie sollte entsprechend umgesetzt werden.“

12.      Art. 1 dieser Richtlinie legt ihren Gegenstand wie folgt fest:

„Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. …“

13.      Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 grenzt ihren Anwendungsbereich wie folgt ab:

„Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

14.      Art. 3 dieser Richtlinie regelt das Recht auf Rechtsbelehrung wie folgt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

c)      das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

…“

15.      Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.

…“

B –    Deutsches Recht

16.      Nach § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes (im Folgenden: GVG) ist die Gerichtssprache Deutsch.

17.      § 187 GVG in der infolge der Umsetzung der Richtlinien 2010/64 und 2012/13 geänderten Fassung lautet:

„(1)      Das Gericht zieht für den Beschuldigten oder Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist oder der hör- oder sprachbehindert ist, einen Dolmetscher oder Übersetzer heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Das Gericht weist den Beschuldigten in einer ihm verständlichen Sprache darauf hin, dass er insoweit für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann.

(2)      Erforderlich zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ist in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen. …

…“

18.      § 132 Abs. 1 der Strafprozessordnung (im Folgenden: StPO) regelt die Bestellung von Zustellungsbevollmächtigten wie folgt:

„(1)      Hat der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt, liegen aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vor, so kann, um die Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen, angeordnet werden, dass der Beschuldigte

1.      eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet und

2.      eine im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person zum Empfang von Zustellungen bevollmächtigt.“

19.      In § 410 StPO betreffend den Einspruch gegen den Strafbefehl heißt es:

„(1)      Der Angeklagte kann gegen den Strafbefehl innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bei dem Gericht, das den Strafbefehl erlassen hat, schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegen. …

(3)      Soweit gegen einen Strafbefehl nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, steht er einem rechtskräftigen Urteil gleich.“

II – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

20.      Bei einer polizeilichen Kontrolle am 25. Januar 2014 in der Bundesrepublik Deutschland wurde festgestellt, dass Herr Covaci, ein rumänischer Staatsangehöriger, ein Kraftfahrzeug führte, für das kein gültiger Haftpflichtversicherungsvertrag bestand, und dass die vorgewiesene grüne Versicherungskarte gefälscht war.

21.      Herr Covaci wurde daraufhin zu diesem Sachverhalt unter Hinzuziehung eines Dolmetschers polizeilich vernommen.

22.      Bei dieser Gelegenheit erteilte Herr Covaci drei Bediensteten des Amtsgerichts Laufen (Deutschland) in rumänischer Sprache eine unwiderrufliche, schriftliche Zustellungsvollmacht, da er keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt im deutschen Hoheitsgebiet hatte. In diesem Dokument wurde darauf hingewiesen, dass alle gerichtlichen Urkunden an diese Zustellungsbevollmächtigten zugestellt und Rechtsmittelfristen bereits mit Zustellung an diese Zustellungsbevollmächtigten zu laufen beginnen würden.

23.      Nach Abschluss der Ermittlungen reichte die Staatsanwaltschaft Traunstein (Deutschland) am 18. März 2014 einen Strafbefehlsantrag beim Amtsgericht Laufen gegen Herrn Covaci zur Verhängung einer Geldstrafe für sämtliche Straftaten ein.

24.      Der Strafbefehl ist ein vereinfachtes Strafverfahren, in dem einseitig ohne Verhandlung eine Strafe festgesetzt werden kann. Der Strafbefehl ist eine vorläufige Entscheidung, die auf Antrag der Staatsanwaltschaft von einem Gericht für weniger schwere Straftaten, bei denen das persönliche Erscheinen des Beschuldigten nicht erforderlich ist, erlassen wird. Er steht nach Ablauf der Einspruchsfrist von zwei Wochen ab seiner Zustellung, gegebenenfalls an die Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten, einem rechtskräftigen Urteil gleich. Der Einspruch kann innerhalb der vorgeschriebenen Frist schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden und führt zur Durchführung einer Gerichtsverhandlung.

25.      In ihrem Strafbefehlsantrag beantragte die Staatsanwaltschaft Traunstein die Zustellung des Strafbefehls an den Beschuldigten über seine Zustellungsbevollmächtigten und verlangte darüber hinaus, dass schriftliche Erklärungen, einschließlich der Einlegung eines Rechtsmittels gegen den Strafbefehl, in deutscher Sprache erfolgen.

26.      Das mit dem Antrag auf Erlass des Strafbefehls befasste Amtsgericht Laufen stellt sich die Frage, ob der Antrag der Staatsanwaltschaft Traunstein mit den Richtlinien 2010/64 und 2012/13 vereinbar ist. Zum einen fragt sich das vorlegende Gericht, ob die sich aus § 184 GVG ergebende Verpflichtung zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen den Strafbefehl in deutscher Sprache mit der Richtlinie 2010/64 vereinbar ist, die eine unentgeltliche sprachliche Unterstützung für beschuldigte Personen in Strafverfahren vorsieht. Zum anderen hegt dieses Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit des Verfahrens der Zustellung des Strafbefehls an Zustellungsbevollmächtigte, gefolgt von einer Übermittlung mit einfacher Post, mit der Richtlinie 2012/13 und insbesondere mit dem Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf.

27.      Das Amtsgericht Laufen hat daher beschlossen, das Strafbefehlsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 1 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 8 der Richtlinie 2010/64 dahin gehend auszulegen, dass sie einer richterlichen Anordnung entgegenstehen, die in Anwendung des § 184 GVG von beschuldigten Personen verlangt, Rechtsmittel wirksam nur in der Gerichtssprache, hier auf Deutsch, einzulegen?

2.      Sind Art. 2, Art. 3 Abs. 1 lit. c, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 dahin gehend auszulegen, dass sie der Anordnung zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten durch eine beschuldigte Person entgegenstehen, wenn bereits mit Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten die Frist zur Einlegung von Rechtsmitteln zu laufen beginnt und es letztlich unerheblich ist, ob die beschuldigte Person überhaupt Kenntnis vom Tatvorwurf erhält?

III – Würdigung

A –    Vorbemerkungen

28.      Die auf der Grundlage von Art. 82 AEUV erlassenen Richtlinien sind nach Maßgabe der Ziele des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und insbesondere der Ziele der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen auszulegen.

29.      Nach Art. 82 Abs. 1 AEUV beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen. Aus Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 2 Buchst. b AEUV geht auch hervor, dass der Unionsgesetzgeber zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Mindestvorschriften betreffend die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren erlassen kann.

30.      Es ist nämlich offensichtlich, dass diese sogenannten „Mindest“-Vorschriften, die in Wahrheit zentrale Grundsätze wie u. a. die Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren betreffen, von denen die Mitgliedstaaten nicht abweichen dürfen, das gegenseitige Vertrauen – die Grundlage der gegenseitigen Anerkennung, die ihrerseits zum Eckstein des Aufbaus des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erhoben wird – schaffen oder verstärken sollen.

31.      Hinsichtlich der Auslegung solcher sogenannter „Mindest“-Vorschriften und allgemeiner der Richtlinien, in denen sie enthalten sind, hat dies meines Erachtens drei Konsequenzen.

32.      Erstens darf der Ausdruck „Mindestvorschriften“, dem ich persönlich den der „unabdingbaren Vorschriften“ vorziehe, nicht, wie dies allzu häufig und nicht ohne Hintergedanken geschieht, einschränkend dahin ausgelegt werden, dass er Vorschriften von geringerer Bedeutung bezeichnet. Wie soeben ausgeführt, handelt es sich tatsächlich um einen zwingenden Grundstock von verfahrensrechtlichen Grundsätzen, die im Rahmen des Strafverfahrens die Umsetzung und die Wahrung der Grundrechte gewährleisten, die die Grundlage gemeinsamer Werte bilden und aus der Union ein auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit beruhendes System machen.

33.      Zweitens sind vor diesem Hintergrund die auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassenen Vorschriften in dem Sinne auszulegen, dass ihre volle praktische Wirksamkeit gewährleistet wird, da eine solche Auslegung, die den Schutz der Rechte verstärken wird, gleichzeitig das gegenseitige Vertrauen stärken und folglich die gegenseitige Anerkennung erleichtern wird. Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschriften durch eine am Wortlaut haftende Auslegung kann dazu führen, diese gegenseitige Anerkennung und daher die Schaffung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu behindern.

34.      Drittens führt die in Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 1 letzter Satz AEUV angeführte Verpflichtung des Unionsgesetzgebers, die Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, dazu, dass kein einheitliches Verfahrenssystem vorgeschrieben werden kann. Gleichwohl müssen die staatlichen Verfahrenssysteme in ihrer Vielfalt die in Rede stehenden Grundsätze bei ihrer Umsetzung beachten, sollen sie nicht als unwirksam angesehen werden. Die Kontrolle liegt insoweit in erster Linie in der Verantwortung der nationalen Gerichte, die bei Zweifeln die Möglichkeit haben, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen. Hierzu weise ich darauf hin, dass Fragen des Strafrechts, insbesondere im engeren Sinne, in der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte liegen und dass die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten diese zu den Hütern der persönlichen Freiheiten machen.

35.      Die geprüften Richtlinien liegen aufgrund ihres Gegenstands und ihrer durch ihre Erwägungsgründe verdeutlichten Bestimmungen unstreitig im Rahmen von Art. 82 AEUV, so dass die soeben beschriebene und dem Gerichtshof vorgeschlagene Auslegungstechnik auf sie anzuwenden ist.

B –    Zur ersten Frage

36.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob Art. 1 Abs. 2 sowie Art. 2 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine Person, gegen die ein Strafbefehl ergangen ist und die der Verfahrenssprache des diesen Strafbefehl erlassenden Gerichts nicht mächtig ist, daran gehindert wird, gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel in ihrer eigenen Sprache einzulegen.

37.      Zunächst ist eine etwaige Unklarheit auszuräumen, die die Formulierung dieser ersten Frage im Hinblick auf die Freiheit, über die die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung der Verfahrenssprache verfügen, hervorrufen könnte.

38.      Die Richtlinie 2010/64 zielt weder darauf ab noch bewirkt sie, die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Wahl der Verfahrenssprache zu beschränken, d. h. der Sprache, in der die Akten und Verfahrensunterlagen abgefasst werden und in der die Justizbehörden sich ausdrücken. Diese Richtlinie hat im Gegenteil das Ziel, diese Freiheit zu erhalten und sie gleichzeitig mit dem Schutz der Rechte der Person, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird, in Einklang zu bringen, indem ihr das Recht auf unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gewährleistet wird, wenn sie die Verfahrenssprache nicht spricht oder versteht(7).

39.      Daher steht § 184 GVG, der die deutsche Sprache als Verfahrenssprache festlegt, nicht im Widerspruch zur Richtlinie 2010/64(8).

40.      Es ist aber für Verdächtige oder beschuldigte Personen faktisch nicht möglich, sich in einer Sprache auszudrücken, deren sie nicht mächtig sind. Ihre wirksame Beteiligung am Strafverfahren und die Ausübung ihrer Verteidigungsrechte erfordern unweigerlich die Beiziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers. Das war im Übrigen hier in der Phase der polizeilichen Untersuchung geschehen, da Herr Covaci unter Hinzuziehung eines Dolmetschers von der Polizei vernommen wurde.

41.      Dieses sprachliche Hindernis besteht während des gesamten Verfahrens. Daher kann für die Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine gerichtliche Entscheidung auf die Leistungen eines Dolmetschers oder Übersetzers nicht verzichtet werden, damit der von der beschuldigten Person in der von ihr beherrschten Sprache ausgedrückte Wille zum Einspruch in der Verfahrenssprache geäußert wird.

42.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass entgegen dem, was aus der Vorlageentscheidung geschlossen werden könnte, das deutsche Recht, wie sich aus den Erklärungen der deutschen Regierung ergibt, einer beschuldigten Person wie Herrn Covaci zu erlauben scheint, Einspruch gegen einen Strafbefehl in einer Sprache einzulegen, deren er mächtig ist. Überdies scheint dieses Recht und insbesondere § 187 GVG einer solchen Person eine angemessene sprachliche Unterstützung zu gewährleisten, um ein solches Rechtsmittel in die Verfahrenssprache übersetzen zu lassen.

43.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht der folgenden Erörterungen die Vereinbarkeit des deutschen Rechts mit den maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 2010/64 zu prüfen.

44.      Die Richtlinie 2010/64 sieht das Recht auf unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung vor, damit verdächtige und beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und damit ein faires Verfahren gewährleistet wird. Wie die deutsche Regierung zu Recht ausführt, stellt sich hier daher die Frage, ob diese sprachliche Unterstützung im Rahmen der Einlegung eines Rechtsmittels geleistet werden muss(9). Konkreter geht es darum, zu klären, ob die Last der Beiziehung eines Übersetzers oder Dolmetschers in diesem Rahmen von der Verteidigung zu tragen und diese somit verpflichtet ist, ein Rechtsmittel in deutscher Sprache einzulegen, oder ob sie von der Strafverfolgung zu tragen ist, so dass es der Verteidigung gestattet ist, ein Rechtsmittel in einer anderen Sprache als der Verfahrenssprache einzulegen.

45.      An dieser Stelle scheint mir der Hinweis wichtig, dass meine Antwort sich nicht auf den Fall des Strafbefehls beschränken kann. Das Aufeinandertreffen der Verfahrenssprache und der Sprache der beschuldigten Person und die notwendige Vermittlung zwischen beiden sind nämlich keine Schwierigkeiten, die dieser Form eines vereinfachten Verfahrens eigen wären.

46.      Das vereinfachte Verfahren, das der Strafbefehl darstellt, weist zwar Besonderheiten im Hinblick auf die Ausübung der Verteidigungsrechte auf. Dass der Beschuldigte nicht in einer mündlichen Verhandlung erscheint, nimmt ihm jede Möglichkeit, seine Version des Sachverhalts vor der Einlegung eines Rechtsmittels gegen den gegen ihn erlassenen Strafbefehl vor einem Gericht darzulegen. Unter Hervorhebung dieser Besonderheit des Strafbefehls vertritt die Europäische Kommission die Auffassung, dass die fehlende mündliche Verhandlung der Verteidigung die Möglichkeit nehme, ihr Recht auf Dolmetschleistungen auszuüben, und sie daher nur die Möglichkeit, ein Rechtsmittel in ihrer Sprache einzulegen, in die Lage versetze, sich sodann vor einem Gericht zu verteidigen und in einer mündlichen Verhandlung Dolmetschleistungen zu erhalten(10).

47.      Ich werde der Argumentation der Kommission nicht folgen. Es wäre nämlich zu restriktiv, das Rechtsmittel gegen einen Strafbefehl als ein Mittel anzusehen, um in den Genuss des Rechts auf Dolmetschleistungen in einer mündlichen Verhandlung zu gelangen. Zum einen geht der Anwendungsbereich des Rechts auf Dolmetschleistungen, wie es von der Richtlinie 2010/64 geschützt ist, weit über den Bereich der Gerichtsverhandlung hinaus. Zum anderen ist entgegen dem, was die Kommission anzunehmen scheint, die Gerichtsverhandlung nicht der einzige Abschnitt, der es erlaubt, Verfahrensgerechtigkeit sicherzustellen. Die Verfahrensgarantien wirken während des gesamten Strafprozesses. Da die Einlegung eines Rechtsmittels ein eigenständiger Verfahrensabschnitt ist, scheint es mir nicht angemessen, das Rechtsmittel als ein Mittel zum Zugang zur Ausübung der Verteidigungsrechte in der mündlichen Verhandlung anzusehen und nicht selbst als ein Mittel der Verteidigung zur Ausübung der Rechte, die sie während des gesamten Verfahrens genießt.

48.      Meiner Ansicht nach ist es daher von wesentlicher Bedeutung, die erste Frage allgemein zu prüfen und festzustellen, ob der Beschuldigte in jeglichem Strafverfahren, sei es vereinfacht oder klassisch, die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers im Rahmen der Einlegung eines Rechtsmittels beanspruchen kann. Es ist insoweit unerheblich, ob eine solche Person anlässlich einer mündlichen Verhandlung, die der Einlegung eines Rechtsmittels vorangegangen ist, bereits einen Dolmetscher oder Übersetzer hinzugezogen hat.

49.      Eine Handlung, mit der ein Rechtsmittel eingelegt wird, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einspruch gegen einen Strafbefehl, weist die Besonderheit auf, dass sie eine Handlung im Strafverfahren ist, die von der beschuldigten Person ausgeht und sich an die zuständigen Justizbehörden richtet, und nicht eine von diesen Behörden ausgehende Handlung, die an die beschuldigte Person gerichtet ist. Die Frage des vorlegenden Gerichts veranlasst mich daher zu der Untersuchung, inwieweit das Recht auf sprachliche Unterstützung auf eine Handlung dieser Art anzuwenden ist.

50.      Art. 1 der Richtlinie 2010/64 sieht das Recht auf sprachliche Unterstützung im Rahmen der Strafverfahren vor. Diese Richtlinie schützt konkret zum einen das Recht auf Beiziehung eines Dolmetschers und zum anderen das Recht auf Beiziehung eines Übersetzers, wobei sie diesen Rechten jeweils einen eigenen Artikel mit dem Ziel widmet, ihren Schutz zu stärken(11). Dieser Ansatz unterscheidet sich im Übrigen von dem der EMRK, die in ihrem Art. 6 Abs. 3 Buchst. e nur das Recht auf Beiziehung eines Dolmetschers vorsieht, wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Recht auf die Übersetzung bestimmter Verfahrensunterlagen ausgedehnt hat(12).

51.      Meines Erachtens besteht kein Zweifel, dass eine Handlung, mit der ein Rechtsmittel eingelegt wird, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2010/64 fällt, den der Unionsgesetzgeber besonders weit fassen wollte, d. h. so, dass er das gesamte Strafverfahren abdeckt.

52.      Nach Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie gilt nämlich das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen „für Personen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats … davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“(13).

53.      Wie ich bereits ausgeführt habe, umfasst das Recht auf sprachliche Unterstützung in der Richtlinie 2010/64 zwei komplementäre Rechte, nämlich zum einen das Recht auf Dolmetschleistungen gemäß Art. 2 dieser Richtlinie und zum anderen das Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen nach Art. 3 dieser Richtlinie.

54.      Eine der Schwierigkeiten der hier geprüften Frage besteht darin, zu bestimmen, welcher dieser beiden Artikel in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die maßgebliche Bestimmung darstellt. Diese Schwierigkeit hat zur Folge, dass, obwohl Einigkeit darüber besteht, dass das Recht, Einspruch oder Berufung gegen ein Strafurteil einzulegen, ein wesentliches Verteidigungsrecht darstellt, der beschuldigten Person die konkrete Möglichkeit der Ausübung dieses Rechts verweigert werden kann, was darauf hinaus läuft, ihr den vom nationalen Recht vorgesehenen Rechtsbehelf zu entziehen. Wie ich in meinen Vorbemerkungen ausgeführt habe, sind daher die Artikel der Richtlinie 2010/64 gemäß dem Ziel, die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren zu stärken, weit auszulegen. Unter diesem Blickwinkel ist festzustellen, ob sich Art. 2 oder Art. 3 dieser Richtlinie, deren Lücken angesichts der entscheidenden Bedeutung der in ihr enthaltenen Bestimmungen verwundern, besser geeignet ist, um der beschuldigten Person das Recht zu gewährleisten, die vom nationalen Recht gebotenen Rechtsbehelfe wirksam zu nutzen.

55.      Bei einer Handlung, mit der ein Rechtsmittel eingelegt wird, kommt meiner Ansicht nach die Anwendung des Rechts auf Übersetzung, wie es von Art. 3 der Richtlinie 2010/64 geschützt wird, nicht in Betracht, vielmehr ist Art. 2 dieser Richtlinie anzuwenden.

56.      Nach Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie muss die beschuldigte Person in einem Strafverfahren eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten. Abgesehen von Anordnungen einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Anklageschriften und Urteilen, die ausdrücklich in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 genannt sind, werden die wesentlichen Unterlagen, die eine schriftliche Übersetzung erfordern, von den zuständigen Behörden frei bestimmt.

57.      Die Handlung, mit der ein Rechtsmittel eingelegt wird, ist zwar für die Ausübung der Verteidigungsrechte wesentlich. Die Verteidigung kann jedoch ihre Übersetzung in die Verfahrenssprache auf der Grundlage von Art. 3 dieser Richtlinie nicht verlangen. Dieser Art. 3 soll nämlich nach seinem Wortlaut nur die Übersetzung der wesentlichen Unterlagen aus der Verfahrenssprache in eine Sprache, die die beschuldigte Person versteht, regeln. Dies folgt aus der Tatsache, dass die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 aufgeführten wesentlichen Unterlagen, auch wenn diese Aufzählung nicht abschließend ist, Unterlagen sind, die von der zuständigen Justizbehörde erstellt wurden. Außerdem ergibt sich aus Art. 3 Abs. 4 dieser Richtlinie klar, dass die Übersetzung der wesentlichen Unterlagen nach dem System dieser Richtlinie insbesondere dem Zweck dienen soll, „dass die verdächtigen oder beschuldigten Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird“.

58.      Die verdächtige oder beschuldigte Person kann sich auf das Recht auf Übersetzung eines wesentlichen Dokuments nur berufen, wenn sie die Sprache, in der es abgefasst wurde, nicht versteht. Ein Dokument verstehen, seinen Sinn erfassen, impliziert seinen Erhalt, nicht aber seine Erstellung durch die Verteidigung. Folglich betrifft Art. 3 der Richtlinie 2010/64 nur die Übersetzung von Unterlagen, die die zuständigen Justizbehörden erstellt haben und die von der beschuldigten Person verstanden werden müssen, wie z. B. Anordnungen freiheitsentziehender Maßnahmen und Urteile.

59.      Daher ist die Frage der sprachlichen Unterstützung im Hinblick auf die Einlegung eines Rechtsmittels durch eine Person, gegen die ein Strafurteil ergangen ist, im Licht von Art. 2 dieser Richtlinie zu prüfen.

60.      In diesem Art. 2 ist das Recht auf Dolmetschleistungen verankert. Er sieht Dolmetschleistungen während des gesamten Strafverfahrens vor, wenn die verdächtige oder beschuldigte Person die Verfahrenssprache nicht spricht oder versteht. Anders als nach Art. 3 dieser Richtlinie kann die Verteidigung die sprachliche Unterstützung im Rahmen von Art. 2 der Richtlinie 2010/64 „nicht nur um zu verstehen, sondern auch um sich verständlich zu machen“, verlangen.

61.      Wenn die beschuldigte Person nicht in der Lage ist, sich in der Verfahrenssprache auszudrücken, hat sie daher das Recht auf Dolmetschleistungen, damit die Äußerungen in einer Sprache, deren sie mächtig ist, mündlich, schriftlich oder gegebenenfalls in der Gebärdensprache für hör- und sprachgeschädigte Personen, in die Verfahrenssprache übersetzt werden.

62.      Folglich ist Art. 2 der Richtlinie 2010/64 anwendbar sowohl auf an die Verteidigung gerichtete Erklärungen oder Handlungen als auch auf Erklärungen oder Handlungen der Verteidigung, die an die zuständigen Justizbehörden gerichtet sind,.

63.      Im Übrigen ergibt sich, wie dargelegt, klar aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass das Recht auf sprachliche Unterstützung einen weiten Anwendungsbereich hat und dass die Verteidigung die unentgeltlichen Dolmetschleistungen während des gesamten Verfahrens, also auch im Rahmen der Einlegung eines Rechtsmittels, verlangen kann.

64.      Außerdem sollen zwar Dolmetschleistungen in den mündlichen Verhandlungen erfolgen, doch ist nach dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 eine solche Unterstützung keineswegs auf diesen mündlichen Abschnitt des Strafverfahrens beschränkt. Die Beiziehung eines Dolmetschers kann daher in dem Verfahrensabschnitt, den die Einlegung eines Rechtsmittels gegen ein Strafurteil darstellt, verlangt werden.

65.      Diese Auslegung wird durch den Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie bestätigt, der unentgeltliche Dolmetschleistungen für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand vorsieht.

66.      Aus dieser Bestimmung ergibt sich nämlich, dass verdächtige oder beschuldigte Personen Dolmetschleistungen für die Verständigung mit ihrem Rechtsbeistand „bei der Einlegung von Rechtsmitteln oder anderen verfahrensrechtlichen Anträgen“ in Anspruch nehmen können, soweit dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

67.      Ich sehe keinen Grund, für eine beschuldigte Person, die keinen Anwalt hat, die Möglichkeit auszuschließen, einen Dolmetscher auch im Hinblick auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen ein Strafurteil in Anspruch zu nehmen.

68.      Der nach Abschluss eines vereinfachten Strafverfahrens erlassene Strafbefehl ist eine gerichtliche Entscheidung, gegen die die beschuldigte Person ohne Rechtsbeistand schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts, das den Strafbefehl erlassen hat, Einspruch einlegen kann. Wäre Herr Covaci im Rahmen eines klassischen Verfahrens unter Hinzuziehung eines Rechtsanwalts beschuldigt worden, hätte er unentgeltliche Dolmetschleistungen in Anspruch nehmen können, um ein Rechtsmittel gegen das gegen ihn erlassene Urteil einzulegen.

69.      Meines Erachtens kann das Recht auf unentgeltliche Dolmetschleistungen bei der Einlegung eines Rechtsmittels nicht von der Beiziehung eines Rechtsanwalts abhängig gemacht werden, ohne die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person, die Verfahrenshandlungen allein vornehmen möchte, erheblich zu beeinträchtigen.

70.      Die Zielsetzung der Richtlinie 2010/64 spricht für die Auslegung, dass eine beschuldigte Person, die der Verfahrenssprache nicht mächtig ist, ein Rechtsmittel gegen ein Strafurteil in einer Sprache, deren sie mächtig ist, einlegen und Dolmetschleistungen für die Übersetzung dieses Rechtsmittels in die Verfahrenssprache in Anspruch nehmen können muss.

71.      Insoweit heißt es im 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie eindeutig, dass diese „gewährleisten [sollte], dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird“.

72.      Unter diesem Gesichtspunkt verlangt eine umfassende Ausübung der Verteidigungsrechte zum einen, dass die beschuldigte Person in einer Sprache, deren sie mächtig ist, ein Rechtsmittel gegen ein Strafurteil einlegen kann, und zum anderen, dass sie Dolmetschleistungen in Anspruch nehmen kann, um dieses Rechtsmittel in die Verfahrenssprache zu übersetzen. Im Ergebnis bedeutet dies, dass im Rahmen der Formulierung eines Rechtsmittels die Dolmetschleistung in Bezug auf den Willen der beschuldigten Person, gegen ihre Verurteilung vorzugehen, durch die Übersetzung dieses Rechtsmittels in die Verfahrenssprache erbracht wird.

73.      Die Beiziehung eines Dolmetschers erlaubt der beschuldigten Person, der zuständigen Justizbehörde ihre Argumente und Verteidigungsmittel vorzutragen oder, nach den Worten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, darzulegen, „dass sie sich selbst verteidigen und vor allem vor Gericht ihre Version der Ereignisse schildern kann“(14). Die Einlegung eines Rechtsmittels gegen ein Strafurteil erlaubt der beschuldigten Person, die Gründe vorzubringen, aus denen dieses Urteil anfechtbar ist. Ihr Dolmetschleistungen im Rahmen der Einlegung eines solchen Rechtsmittels zu verweigern, würde die Ausübung der Verteidigungsrechte dieser Person beeinträchtigen oder sie sogar zunichtemachen.

74.      In der mündlichen Verhandlung hat die französische Regierung die Auslegung vertreten, dass die Richtlinie 2010/64 es einem Mitgliedstaat nicht verwehre, von einer Person bei Meidung der Unzulässigkeit zu verlangen, ein Rechtsmittel in der Verfahrenssprache des zuständigen Gerichts einzulegen, sofern er dieser Person im Vorfeld Dolmetsch- oder Übersetzungsleistungen zur Verfügung stelle. Eine solche Stellungnahme ist meiner Ansicht nach symptomatisch für das Unverständnis gegenüber dem Begriff der Mindestvorschriften. Die französische Regierung stützt nämlich ihre auf eine einschränkende Auslegung dieser Richtlinie abzielenden Ausführungen auf das Argument, dass diese nur den Erlass von Mindestvorschriften vorsehe. Wie ich in meinen Vorbemerkungen ausgeführt habe, scheint mir diese Argumentationsweise unzutreffend. Das Ziel der effizienteren justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen durch eine Stärkung der Verfahrensrechte der verdächtigen oder beschuldigten Personen im Rahmen eines Strafverfahrens verlangt im Gegenteil eine weite Auslegung der Richtlinie 2010/64, nämlich die Auslegung, die den Schutz der Verteidigungsrechte der betroffenen Personen am besten gewährleistet.

75.      Meines Erachtens besteht aber kein Zweifel, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren, die durch eine relativ kurze Rechtsmittelfrist, nämlich zwei Wochen, gekennzeichnet ist, der Person, gegen die ein Strafbefehl ergangen ist, gestattet werden muss, zuerst Einspruch gegen diesen Strafbefehl einzulegen, um diese Frist zu wahren, während der Dolmetscher erst danach beigezogen wird, um die Übersetzung des Rechtsmittels in die Verfahrenssprache sicherzustellen. Die von der französischen Regierung vertretene Lösung, die darin besteht, sich mit einer Beiziehung eines Dolmetschers vor der Einlegung eines Rechtsmittels zu begnügen, könnte in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren dazu führen, dass die fristgemäße Einlegung des Rechtsmittels übermäßig erschwert oder unmöglich gemacht wird. Zu diesem Problem tritt die Frage hinzu, in welcher Sprache die Person, gegen die ein Strafurteil ergangen ist, ihren Antrag auf Dolmetschleistungen stellen müsste, um ihr Rechtsmittel abfassen zu können. Die ihr hierzu in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage hat die französische Regierung nicht beantwortet.

76.      Schließlich ist festzustellen, dass die Richtlinie 2010/64 den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum bei der Wahl der Form der erbrachten Dolmetschleistungen lässt, solange sie unentgeltlich und von ausreichender Qualität für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens und die Ausübung der Verteidigungsrechte sind.

77.      Die Unterstützung durch einen Dolmetscher kann je nach den Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens verschiedene Formen annehmen. Sie kann selbstverständlich mündlich erfolgen, wenn der Dolmetscher persönlich anwesend ist und die Äußerungen der Verteidigung oder die an diese gerichteten Äußerungen simultan dolmetscht. Sie kann auch in Form der Gebärdensprache erfolgen, z. B. für eine hör- oder sprachgeschädigte Person, die sich mündlich nicht ausdrücken kann. Art. 2 Abs. 6 der Richtlinie 2010/64 sieht außerdem vor, dass Kommunikationstechnologien, wie etwa Videokonferenzen, Telefon oder Internet, verwendet werden können, wenn die persönliche Anwesenheit des Dolmetschers nicht unerlässlich ist. Denkbar ist auch, dass die sprachliche Unterstützung in Form eines übersetzten oder zweisprachigen Einspruchsformulars erfolgt, wie die Kommission vorschlägt(15). So wäre es möglich, der Entscheidung selbst, mit der eine strafrechtliche Verurteilung erfolgt – und die unstreitig übersetzt werden muss, wofür eine klare Rechtsgrundlage besteht –, bei ihrer Zustellung oder Übersendung an den Betroffenen ein Formular in dessen Sprache beizufügen, das dieser, wenn er es für angebracht hält, nur ausfüllen und an das Gericht, bei dem das Rechtsmittel einzulegen ist, zurückschicken müsste.

78.      Außerdem kommt das Recht auf Dolmetschleistungen nicht nur in einer mündlichen Unterstützung der Person, die die Verfahrenssprache nicht spricht, zum Ausdruck. Dieses Recht kann auch die Form eines Anspruchs auf eine schriftliche Übersetzung der Äußerungen der Verteidigung in einem Dokument wie einer Rechtsmittelschrift haben.

79.      Umgekehrt kann, wie ausdrücklich aus Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 2010/64 hervorgeht, die Übersetzung wesentlicher Unterlagen in mündlicher Form erfolgen.

80.      Im vorliegenden Fall kann die Unterstützung durch einen Dolmetscher im Rahmen des Einspruchs gegen einen Strafbefehl sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Form erfolgen. Nach § 410 Abs. 1 StPO kann der Einspruch gegen einen Strafbefehl schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts, das diesen Strafbefehl erlassen hat, eingelegt werden. Da die Beiziehung eines Dolmetschers im Rahmen eines mündlich bei der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts eingelegten Rechtsmittels gewährleistet ist, besteht meines Erachtens kein Zweifel, dass eine solche Unterstützung ebenso sichergestellt werden muss, wenn das Rechtsmittel schriftlich eingelegt wird.

81.      Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass Art. 1 Abs. 2 sowie Art. 2 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, die die Verwendung einer bestimmten Sprache als Verfahrenssprache vor den Gerichten dieses Staates vorsehen. Diese Bestimmungen sind jedoch dahin auszulegen, dass sie einer Person, gegen die ein Strafurteil ergangen ist und die der Verfahrenssprache nicht mächtig ist, erlauben, ein Rechtsmittel gegen ein solches Urteil in ihrer eigenen Sprache einzulegen, wobei es dem zuständigen Gericht obliegt, in Anwendung des Rechts der beschuldigten Person auf Dolmetschleistungen nach Art. 2 dieser Richtlinie, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Übersetzung des Rechtsmittels in die Verfahrenssprache sicherzustellen.

C –    Zur zweiten Frage

1.      Vorbemerkungen

82.      Im Strafverfahren setzt der Vollzug einer Entscheidung, mit der eine Verurteilung ausgesprochen wird, voraus, dass diese vollstreckbar ist. Unter bestimmten Umständen, insbesondere unter den im Folgenden dargelegten, unterscheidet sich dieser Begriff vom Begriff der endgültigen Entscheidung.

83.      Der Vollzug einer Entscheidung, mit der eine Verurteilung ausgesprochen wird, setzt voraus, dass die Rechtsbehelfe ausgeschöpft wurden, was hier nicht der Fall ist, oder dass die verurteilte Person keine Rechtsbehelfe eingelegt hat.

84.      Dieser zweite Fall setzt voraus, dass die verurteilte Person von der Entscheidung über die Verurteilung Kenntnis erlangt und sie in Kenntnis der Sachlage nicht angefochten hat.

85.      Wenn der Betroffene bei der Verkündung der Entscheidung über die Verurteilung anwesend war, besteht keine Schwierigkeit und die Entscheidung wird nach Ablauf der Rechtsmittelfrist vollstreckbar und in diesem Fall auch endgültig.

86.      Wenn der Betroffene bei der Verkündung der verurteilenden Entscheidung nicht anwesend war, ist ihm diese Entscheidung zur Kenntnis zu bringen, wobei die Verurteilung erst vollstreckbar wird, sobald sie der Person zugestellt wurde und die Rechtsmittelfristen, die mit der Erfüllung dieser Formalität in Lauf gesetzt werden, abgelaufen sind.

87.      Möglich ist auch, dass die Zustellung die verurteilte Person aus Gründen nicht erreicht, die dieser zugerechnet werden können (z. B. Flucht) oder nicht (z. B. Versagen der mit der Zustellung beauftragten Dienste). In diesen Fällen muss das Urteil dennoch vollstreckt werden und daher vollstreckbar sein. Diese Vollstreckbarkeit wird ihm durch eine Zustellung formaler Art, im vorliegenden Fall an einen Zustellungsbevollmächtigten, verliehen, durch die das Urteil nicht endgültig werden darf, und erlaubt daher die Inanspruchnahme eines Rechtsbehelfs, wenn die betroffene Person im Stadium der Vollstreckung gefunden und/oder vom Vorliegen eines Strafurteils unterrichtet wurde.

88.      Was die von mir als „formal“ eingestufte Art der Zustellung anbelangt, sind die Mitgliedstaaten frei, sie so auszugestalten, wie sie es für am geeignetsten halten.

89.      Das deutsche Verfahrenssystem, wie es in der mündlichen Verhandlung erläutert wurde, sieht für den Fall, dass von Anfang an zu befürchten ist, dass es schwierig sein könnte, den Betreffenden in der Folge zu erreichen (hier im Fall eines Wohnsitzes im Ausland), die Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten vor, der meines Erachtens in Wirklichkeit eine offizielle Kontaktstelle zwischen der Justizbehörde und der beschuldigten Person ist. Die Bestellung dieses Zustellungsbevollmächtigten bringt Verpflichtungen für die Justizbehörde (Verpflichtung, die Zustellungen über ihn durchzuführen), für den Zustellungsbevollmächtigten (Verpflichtung, die erhaltenen Schriftstücke an die beschuldigte Person weiterzuleiten) und für die beschuldigte Person mit sich, die sich bei ihm informieren muss, um den Stand des Verfahrens zu erfahren.

90.      Die Übermittlung der zuzustellenden Entscheidung an den Zustellungsbevollmächtigten durch das Gericht stellt die Verfahrenshandlung dar, durch die die Frist in Lauf gesetzt wird, bei deren Ablauf die verurteilende Entscheidung vollstreckbar wird.

91.      Dieses vom deutschen Gesetzgeber gewählte Verfahrenssystem ist für sich genommen nicht zu beanstanden, sei es auch nur mit Rücksicht auf Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 1 letzter Satz AEUV, wonach die auf der Grundlage dieses Absatzes erlassenen Vorschriften die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen.

92.      Allerdings muss dieses Verfahrenssystem im Stadium seiner Umsetzung dem Erfordernis genügen, der beschuldigten Person die Ausübung ihrer Verteidigungsrechte zu ermöglichen, was im Rahmen der Antwort auf die zweite Frage zu prüfen ist.

2.      Würdigung

93.      Mit seiner zweiten Frage möchte das Amtsgericht Laufen im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c sowie Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13 dahin gehend auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die die Bestellung eines Bevollmächtigten durch die beschuldigte Person, die in diesem Staat nicht wohnhaft ist, im Rahmen eines Strafverfahrens für die Zustellung eines gegen sie erlassenen Strafbefehls, gefolgt von einer Übermittlung dieses Strafbefehls durch den Zustellungsbevollmächtigten an die beschuldigte Person mit einfacher Post, vorsehen, wobei die Einspruchsfrist von zwei Wochen ab der Zustellung dieses Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten läuft.

94.      In seiner Vorlageentscheidung führt das Amtsgericht Laufen aus, die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten habe gemäß den §§ 116, 127a und 132 StPO zur Folge, dass die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine im Strafverfahren erlassene Entscheidung mit der Zustellung einer solchen Entscheidung an den Zustellungsbevollmächtigten zu laufen beginne. Letzterer leite dann diese Entscheidung mit einfacher Post ohne Nachweis des Versands und/oder des Erhalts an die beschuldigte Person weiter. Es sei daher insbesondere für die Berechnung der Rechtsmittelfrist unerheblich, ob bzw. wann die beschuldigte Person eine in einem Strafverfahren erlassene Entscheidung tatsächlich erhalte. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass es bei einem Strafbefehl Sache der beschuldigten Person sei, selbst sicherzustellen, dass sie der Strafbefehl tatsächlich erreiche und ihr damit der erste Zugang zu Gericht eröffnet werde.

95.      Die Richtlinie 2012/13 schützt nach ihrem Art. 1 „das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf“.

96.      Diese beiden Aspekte – Recht auf Belehrung und Recht auf Unterrichtung – werden von zwei verschiedenen Artikeln dieser Richtlinie geregelt, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht. Art. 3 dieser Richtlinie betrifft nach seiner Überschrift das „Recht auf Rechtsbelehrung“. Art. 6 der Richtlinie 2012/13 regelt das „Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“.

97.      Nach Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie „[stellen d]ie Mitgliedstaaten … sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über [die] Verfahrensrechte [nach den Buchst. a bis e] in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen“. Zu den angeführten Verfahrensrechten zählt nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie „das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6“.

98.      Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 „[stellen d]ie Mitgliedstaaten … sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.“

99.      Außerdem sieht Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … sicher[stellen], dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden“.

100. Aus Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 ergibt sich, dass diese einen besonders weiten Anwendungsbereich hat. Nach dieser Bestimmung „gilt [diese Richtlinie] ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“(16).

101. Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13 ist in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie zu lesen. Da der Unionsgesetzgeber die Anwendung der Richtlinie 2012/13 während des gesamten Verfahrens, vom ersten Verdacht bis zur Verkündung des Urteils, gegebenenfalls nach Ausschöpfung des Rechtswegs, klar vorgesehen hat, ist davon auszugehen, dass das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf nach Art. 6 Abs. 1 und 3 dieser Richtlinie das Recht der beschuldigten Person umfasst, über eine Entscheidung, mit der sie strafrechtlich verurteilt wird, vor und zum Zweck der etwaigen Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine solche Entscheidung unterrichtet zu werden.

102. Daher umfasst das Erfordernis nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13, wonach „spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird“ detaillierte Informationen über den Tatvorwurf zu erteilen sind, den Fall, dass ein Strafbefehl gegen eine beschuldigte Person ergeht und sie Einspruch gegen diesen Strafbefehl erheben kann, was erneut dazu führt, dass einem Gericht, diesmal jedoch im Rahmen eines klassischen Verfahrens, „die Anklageschrift vorgelegt wird“.

103. In einem solchen Fall soll das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf der beschuldigten Person ermöglichen, ihre Verteidigungsrechte wirksam auszuüben und insbesondere ein Rechtsmittel gegen das Strafurteil einzulegen, das gegen sie ergangen ist.

104. Meines Erachtens verstößt der deutsche Mechanismus der Zustellung des Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten, gefolgt von einer Übermittlung durch diesen an die beschuldigte Person mit einfacher Post, grundsätzlich und unter den Vorbehalten, die ich später darlegen werde, nicht gegen das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, wie es von Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13 geschützt wird.

105. Es ist nämlich festzustellen, dass diese Richtlinie die Frage der Zustellungsmodalitäten von Schriftstücken während des Strafverfahrens nicht regelt.

106. Die Mitgliedstaaten müssen gleichwohl bei der Festlegung dieser Zustellungsmodalitäten sicherstellen, dass diese die Rechte der beschuldigten Personen aus der Richtlinie wahren. Daher wäre die Regelung der Bundesrepublik Deutschland über die Zustellung von Strafbefehlen, die gegen Personen ohne Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat ergehen, nur zu beanstanden, wenn sie das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf und im weiteren Sinne die Verteidigungsrechte, insbesondere das Recht zur Einlegung eines Rechtsmittels, verletzte.

107. Wie ich bereits ausgeführt habe, ist die Zustellung der Entscheidungen, mit denen eine strafrechtliche Verurteilung erfolgt, an einen Zustellungsbevollmächtigten das von der Bundesrepublik Deutschland gewählte Mittel, um solche Entscheidungen in Fällen zu vollstrecken, in denen zu befürchten ist, dass es schwierig sein könnte, den Betroffenen nach Erlass dieser Entscheidungen zu erreichen, insbesondere im Fall eines Wohnsitzes im Ausland.

108. Wird ein Zustellungsbevollmächtigter benannt, so ist dieser verpflichtet, die Entscheidung, mit der eine strafrechtliche Verurteilung ergeht, unverzüglich an die betroffene Person zu übermitteln und gegebenenfalls eine Übersetzung in die Sprache dieser Person beizufügen.

109. In der mündlichen Verhandlung ist die deutsche Regierung dazu befragt worden, was geschehe, wenn die beschuldigte Person den Strafbefehl verspätet erhalte und daher daran gehindert sei, Einspruch gegen diesen Strafbefehl innerhalb von zwei Wochen ab seiner Zustellung an den benannten Zustellungsbevollmächtigten einzulegen. In einem solchen Fall kann nämlich der Strafbefehl, gegebenenfalls mittels Rechtshilfe in Strafsachen, vollstreckt werden. Daher ist die Frage entscheidend, ob die betroffene Person im Stadium der Vollstreckung des Strafbefehls noch Einspruch gegen diesen Strafbefehl einlegen kann.

110. Die deutsche Regierung hat diese Frage bejaht. Sie hat ausgeführt, dass die beschuldigte Person nach deutschem Recht(17), wenn sie verhindert gewesen sei, einen Einspruch innerhalb von zwei Wochen einzulegen, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen könne, sobald sie vom Vorliegen eines gegen sie erlassenen Strafbefehls, insbesondere im Stadium der Vollstreckung dieses Strafbefehls, unterrichtet werde. In einem solchen Fall könne die beschuldigte Person daher beantragen, dass die Situation korrigiert werde und ihre Verteidigungsrechte gewahrt würden.

111. Diese Erläuterungen bestätigen, dass ein Strafbefehl nach deutschem Recht vollstreckbar werden kann, ohne zugleich endgültig zu werden. Daher muss die beschuldigte Person im Stadium der Vollstreckung des Strafbefehls einen Einspruch gegen diesen einlegen können, wenn sie von seinem Bestehen nicht früher unterrichtet wurde.

112. Damit jedoch der deutsche Mechanismus der Benennung eines Bevollmächtigten für die Zustellung eines Strafbefehls, gefolgt von einer Übermittlung dieses Strafbefehls durch den Zustellungsbevollmächtigten an die beschuldigte Person mit einfacher Post, als voll und ganz mit dem Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf vereinbar angesehen werden kann – wobei eines der Ziele dieses Rechts darin besteht, der Person, gegen die eine Entscheidung ergangen ist, mit der eine strafrechtliche Verurteilung erfolgt, die Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine solche Entscheidung zu ermöglichen –, darf er nicht dazu führen, dass die nicht verkürzbare Frist von zwei Wochen, die dieser Person für die Einlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl zur Verfügung steht, reduziert wird.

113. Insoweit können zwei Fälle eintreten.

114. Im ersten Fall erhält die Person, gegen die ein Strafbefehl ergangen ist, diesen innerhalb der Frist von zwei Wochen ab der Zustellung dieses Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten. In diesem Fall darf die gesetzliche Rechtsmittelfrist, über die die beschuldigte Person für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt, nicht um die Zahl der Tage verringert werden, die zwischen der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten, der seinen Wohnsitz am Ort des Gerichts hat, und dem Erhalt der Postsendung mit der Entscheidung, mit der gegen die betroffene Person eine strafrechtliche Verurteilung ergeht, durch diese Person liegen. Der Mechanismus der Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten, gefolgt von einer Übermittlung an die beschuldigte Person mit einfacher Post, würde sonst dazu führen, die gesetzliche Rechtsmittelfrist, die dieser Person für den Einspruch gegen den gegen sie ergangenen Strafbefehl zusteht, zu beschneiden, so dass dieser Mechanismus verhindern könnte, dass diese Person über die erforderliche Zeit für die Vorbereitung ihrer Verteidigung verfügt. Wenn ein solcher Mechanismus dazu führte, dass der beschuldigten Person nicht die gesamte gesetzliche Frist für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl zur Verfügung stünde, verletzte er die Verteidigungsrechte, die nach Art. 48 Abs. 2 der Charta jedem Angeklagten zu gewährleisten sind.

115. Der Umstand, dass eine Person einen Strafbefehl innerhalb der Frist von zwei Wochen ab der Zustellung dieses Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten erhält, darf daher nicht verhindern, dass ihr die gesamte gesetzliche Frist zur Verfügung steht, die ihr für die Einlegung eines Einspruchs gegen diesen Strafbefehl zusteht; andernfalls würde der Zweck des Rechts auf Unterrichtung über den Tatvorwurf verletzt.

116. Im zweiten Fall erhält die Person, gegen die ein Strafbefehl erlassen wurde, diesen außerhalb der Frist von zwei Wochen ab der Zustellung dieses Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten oder wird außerhalb dieser Frist davon, möglicherweise im Stadium der Vollstreckung, unterrichtet. Auch in einem solchen Fall muss dieser Person die gesamte gesetzliche Frist von zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie Kenntnis von diesem Strafbefehl erlangt, zur Verfügung stehen, um Einspruch gegen den fraglichen Strafbefehl einlegen zu können.

117. Demnach darf zwar ein Mitgliedstaat unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein System der Zustellung von Entscheidungen in Strafsachen an einen Zustellungsbevollmächtigten schaffen und eine Frist ab dieser Zustellung festlegen, nach deren Ablauf solche Entscheidungen vollstreckbar sind, doch darf ein solches System nicht dazu führen, den beschuldigten Personen die Möglichkeit zu nehmen, ihr Rechtsmittel in der nach den Rechtsvorschriften dieses Staates vorgesehenen gesetzlichen Frist einzulegen, gerechnet ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von diesen Entscheidungen unterrichtet werden.

118. Nach diesen Klarstellungen komme ich zu dem Ergebnis, dass Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c sowie Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13 dahin gehend auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, die die Bestellung eines Bevollmächtigten durch eine beschuldigte Person, die in diesem Staat nicht wohnhaft ist, im Rahmen eines Strafverfahrens für die Zustellung eines gegen sie erlassenen Strafbefehls, gefolgt von einer Übermittlung dieses Strafbefehls durch den Zustellungsbevollmächtigten an die beschuldigte Person mit einfacher Post, vorsehen, sofern dieser verfahrensrechtliche Mechanismus nicht verhindert, dass dieser Person die gesetzliche Frist von zwei Wochen zur Verfügung steht, die die Rechtsvorschriften dieses Staates für die Einlegung eines Einspruchs gegen diesen Strafbefehl vorsehen, wobei diese Frist ab dem Zeitpunkt zu laufen hat, zu dem diese Person, in welcher Weise auch immer, Kenntnis von diesem Strafbefehl erlangt.

IV – Ergebnis

119. Nach alledem schlage ich vor, die vom Amtsgericht Laufen vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 1 Abs. 2 sowie Art. 2 Abs. 1 und 8 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, die die Verwendung einer bestimmten Sprache als Verfahrenssprache vor den Gerichten dieses Staates vorsehen. Diese Bestimmungen sind jedoch dahin auszulegen, dass sie einer Person, gegen die ein Strafurteil ergangen ist und die der Verfahrenssprache nicht mächtig ist, erlauben, ein Rechtsmittel gegen ein solches Urteil in ihrer eigenen Sprache einzulegen, wobei es dem zuständigen Gericht obliegt, in Anwendung des Rechts der beschuldigten Person auf Dolmetschleistungen nach Art. 2 dieser Richtlinie die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Übersetzung des Rechtsmittels in die Verfahrenssprache sicherzustellen.

2.      Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c sowie Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin gehend auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, die die Bestellung eines Bevollmächtigten durch eine beschuldigte Person, die in diesem Staat nicht wohnhaft ist, im Rahmen eines Strafverfahrens für die Zustellung eines gegen sie erlassenen Strafbefehls, gefolgt von einer Übermittlung dieses Strafbefehls durch den Zustellungsbevollmächtigten an die beschuldigte Person mit einfacher Post, vorsehen, sofern dieser verfahrensrechtliche Mechanismus nicht verhindert, dass dieser Person die gesetzliche Frist von zwei Wochen zur Verfügung steht, die die Rechtsvorschriften dieses Staates für die Einlegung eines Einspruchs gegen diesen Strafbefehl vorsehen, wobei diese Frist ab dem Zeitpunkt zu laufen hat, zu dem diese Person, in welcher Weise auch immer, Kenntnis von diesem Strafbefehl erlangt.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 280, S. 1.


3 – ABl. L 142, S. 1.


4 – Im Zuge der folgenden Erörterungen schließt der Begriff der beschuldigten Person die Personen ein, die Gegenstand einer strafrechtlichen Verurteilung waren und die dagegen ein Rechtsmittel einlegen können.


5 –      Im Folgenden: EMRK.


6 –      Im Folgenden: Charta.


7 – Vgl. 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie.


8 – Dieses Ergebnis wird meines Erachtens durch das Urteil Runevič-Vardyn und Wardyn (C‑391/09, EU:C:2011:291) bestätigt, in dem der Gerichtshof allgemeiner festgestellt hat: „Nach Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV und Art. 22 der Charta wahrt die Union den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Nach Art. 4 Abs. 2 EUV achtet die Union auch die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, zu der auch der Schutz der offiziellen Landessprache des Staates gehört“ (Rn. 86).


9 – Rn. 24 und 29 der schriftlichen Erklärungen der deutschen Regierung.


10 – Rn. 44 ff. der schriftlichen Erklärungen der Kommission.


11 – Vgl. Monjean-Decaudin, S., La traduction du droit dans la procédure judiciaire – Contribution à l’étude de la linguistique juridique, Dalloz, Paris, 2012, S. 149 ff.


12 – Vgl. Urteil Luedicke, Belkacem und Koç/Deutschland, 28. November 1978, Serie A, Nr. 29, § 48.


13 – Hervorhebung nur hier.


14 – Vgl. Urteil Kamasinski/Österreich, 19. Dezember 1989, Serie A, Nr. 168, § 74.


15 – Rn. 52 der schriftlichen Erklärungen der Kommission.


16 – Hervorhebung nur hier.


17 – Die deutsche Regierung bezieht sich offenbar auf § 44 StPO, der eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorsieht, wenn eine Person ohne ihr Verschulden verhindert ist, eine Frist einzuhalten.