Language of document : ECLI:EU:T:2024:422

URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)

26. Juni 2024(*)

„Institutionelles Recht – Mitglied des Parlaments – Vorrechte und Befreiungen – Beschluss, die parlamentarische Immunität aufzuheben – Art. 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Union – Begriff ,Zusammenhang mit dem Amt eines Abgeordneten‘ – Offensichtlicher Beurteilungsfehler“

In der Rechtssache T‑305/23,

Nicolaus Fest, wohnhaft in Zagreb (Kroatien), vertreten durch Rechtsanwalt G. Seidel,

Kläger,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch N. Lorenz und A.‑M. Dumbrăvan als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DAS GERICHT (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin K. Kowalik-Bańczyk (Berichterstatterin), des Richters I. Dimitrakopoulos und der Richterin B. Ricziová,

Kanzler: V. Di Bucci,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und der Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit seiner Klage nach Art. 263 AEUV beantragt der Kläger, Herr Nicolaus Fest, die Nichtigerklärung des Beschlusses P9_TA (2023)0061 des Europäischen Parlaments vom 14. März 2023 über den Antrag auf Aufhebung seiner Immunität (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Der Kläger ist ein deutscher Politiker und Mitglied der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD). Er wurde für die 9. Wahlperiode (2019‑2024) als Abgeordneter ins Parlament gewählt.

3        Herr Volker Beck ist Mitglied der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“. Er war zwischen 1994 und 2017 Abgeordneter des Bundestags (Deutschland).

4        In der Plenarsitzung vom 10. März 2021 debattierte das Parlament über die Rechte von Kindern infolge einer Anfrage zur mündlichen Beantwortung an die Europäische Kommission zur künftigen Strategie der Europäischen Union in diesem Bereich. Bei dieser Gelegenheit hielt der Kläger folgende Rede (im Folgenden: Rede des Klägers).

„Sehr geehrter Herr Präsident! In Deutschland erschien vor ungefähr einer Woche eine Studie, die auch in vielen Zeitungen – darunter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aber auch anderen – behandelt wurde. Es ging um die pädosexuellen Netzwerke in Berlin und – man muss es leider sagen – jahrzehntelangen Missbrauch von Kindern. Und die Studie nannte auch die Verantwortlichen. Es war die sogenannte linksalternative Szene und vor allem die Partei der Grünen. Das dürfte auch der Grund sein, warum heute Angehörige dieser Partei, zumindest der deutschen, hier nicht das Wort ergreifen. Denn sie dulden ja auch in ihren Reihen weiterhin ein verkommenes pädosexuelles Subjekt wie Volker Beck. Über Kinderrechte zu reden, während hier viele Mitglieder einer Partei sitzen, die entweder unmittelbar oder politisch für schwerste Verbrechen an Kindern verantwortlich sind, ist absurd, schamlos, widerlich, verlogen. Mit einem Wort: Es ist das Übliche hier!“

5        Am 9. September 2021 veröffentlichte Herr Beck in dem sozialen Netzwerk Twitter (nunmehr das soziale Netzwerk X) folgende Nachricht (im Folgenden: Tweet von Herrn Beck):

„[Nicolaus Fest] erweist sich als feiger & übler Verleumder.

volkerbeck.de/artikel/060606…

volkerbeck.de/artikel/130919…

Ich habe mich in meiner Einschätzung des Umgangs mit Pädophilen geirrt. Dafür habe ich um Entschuldigung gebeten. Das macht mich nicht zu einem Pädophilen.“

6        Am 10. September antwortete der Kläger Herrn Beck mit folgender Nachricht in dem sozialen Netzwerk Twitter (im Folgenden: streitiger Tweet):

„Lieber Herr Beck, warum nennen Sie mich feige? Ich nenne Sie doch in aller Öffentlichkeit einen notorischen Lügner und Pädophilen, der sein pro-jüdisches Engagement nur als Schutzschild benutzt. Schalömchen!“

7        Mit Schreiben vom 15. Oktober 2021 informierte die Anwältin von Herrn Beck den Kläger darüber, dass seine Äußerungen in seiner Rede und in seinem streitigen Tweet Verleumdungen im Sinne von § 187 StGB (deutsches Strafgesetzbuch) darstellten. Sie forderte den Kläger deshalb auf, sich schriftlich zu verpflichten, es zu unterlassen, diese Äußerungen zu wiederholen. Der Kläger weigerte sich, dieser Aufforderung Folge zu leisten.

8        Am 2. Dezember 2021 stellte Herr Beck Strafantrag gegen den Kläger gemäß § 194 StGB.

9        Am 31. März 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Klägers mit der Begründung, dass er sich durch die Veröffentlichung des streitigen Tweets der Beleidigung gemäß § 185 StGB schuldig gemacht haben könnte. Dieser Antrag wurde dem Parlament von den deutschen Behörden am 16. Mai 2022 übermittelt und daraufhin in der Plenarsitzung vom 8. Juni 2022 verkündet.

10      Am 14. März 2023 erließ das Parlament den angefochtenen Beschluss, mit dem die parlamentarische Immunität des Klägers aufgehoben wurde.

 Anträge der Parteien

11      Der Kläger beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.

12      Das Parlament beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

13      Zur Stützung seiner Klage macht der Kläger drei Klagegründe geltend: erstens einen Verstoß gegen Art. 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2016, C 202, S. 266, im Folgenden: Protokoll Nr. 7), zweitens einen fumus persecutionis und drittens einen Verdacht „persönlicher Motive“ der Staatsanwaltschaft Berlin.

 Einleitende Erwägungen

14      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 des Protokolls Nr. 7 Folgendes bestimmt: „Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des … Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.“

15      In Art. 9 des Protokolls Nr. 7 heißt es:

„Während der Dauer der Sitzungsperiode des … Parlaments

a)      steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

b)      können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des … Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des … Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.“

16      Die parlamentarische Immunität der Mitglieder des Parlaments, wie sie in den oben in den Rn. 14 und 15 wiedergegebenen Art. 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 vorgesehen ist, umfasst die beiden Arten von Schutz, die den Mitgliedern der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten in der Regel zuerkannt werden, nämlich Immunität in Bezug auf die in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgten Äußerungen und Abstimmungen sowie parlamentarische Unverletzlichkeit, die grundsätzlich Schutz vor gerichtlicher Verfolgung bieten (Urteile vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 24, und vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 18).

17      Hierbei ist erstens der Umfang der in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 vorgesehenen Immunität allein nach dem Unionsrecht zu bestimmen, da diese Vorschrift keinerlei Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen enthält (Urteile vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. September 2020, Troszczynski/Parlament, C‑12/19 P, EU:C:2020:725, Rn. 40).

18      Der Inhalt der Unverletzlichkeit in Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls Nr. 7 wird hingegen durch Bezugnahme auf die einschlägigen nationalen Vorschriften bestimmt und kann daher entsprechend dem Herkunftsmitgliedstaat des Europaabgeordneten variieren (vgl. Urteil vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die in der Bundesrepublik Deutschland gewählten Mitglieder des Parlaments genießen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats die zugunsten der Abgeordneten des Bundestags in Art. 46 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vorgesehenen Immunitäten.

19      Zweitens soll Art. 8 des Protokolls Nr. 7, der eine Sondervorschrift ist, die auf jedes Gerichtsverfahren anzuwenden ist, für das der Europaabgeordnete die Immunität in Bezug auf in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgte Äußerungen und Abstimmungen genießt, die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Europaabgeordneten schützen und steht daher jedem Gerichtsverfahren wegen derartiger Äußerungen und Abstimmungen entgegen. Wenn die in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 festgelegten sachlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der Immunität vorliegen, kann das Parlament diese somit nicht aufheben, und das für die Anwendung der Immunität zuständige nationale Gericht muss das gegen den betreffenden Europaabgeordneten angestrengte Verfahren abweisen (vgl. Urteil vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 26 und 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Demgegenüber kann die in Art. 9 des Protokolls Nr. 7 festgelegte parlamentarische Unverletzlichkeit gemäß Art. 9 Abs. 3 dieses Protokolls vom Parlament aufgehoben werden.

21      Wenn dem Parlament ein Antrag auf Aufhebung der Immunität von einer nationalen Behörde übermittelt wird, muss es somit zuerst prüfen, ob der dem Aufhebungsantrag zugrunde liegende Sachverhalt unter Art. 8 des Protokolls Nr. 7 fallen kann; in diesem Fall ist die Aufhebung der Immunität nicht möglich (Urteil vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 46).

22      Kommt das Parlament zu dem Ergebnis, dass Art. 8 des Protokolls Nr. 7 nicht anwendbar ist, hat es weiter zu prüfen, ob der Abgeordnete für den ihm vorgeworfenen Sachverhalt Immunität nach Art. 9 dieses Protokolls genießt, und wenn dies der Fall ist, muss es entscheiden, ob diese Immunität aufzuheben ist (Urteil vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 47).

23      Drittens ist dem Parlament in dem oben in Rn. 22 genannten Fall bei der Frage, wie es einen Antrag auf Aufhebung der Immunität zu bescheiden gedenkt, wegen des politischen Charakters einer solchen Entscheidung ein sehr weites Ermessen zuzuerkennen (vgl. Urteil vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Die Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nicht gänzlich der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Nach ständiger Rechtsprechung muss der Unionsrichter nämlich im Rahmen dieser Kontrolle feststellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von dem Organ zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (vgl. Urteil vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T‑346/11 und T‑347/11, EU:T:2013:23, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Im vorliegenden Fall geht sowohl aus dem verfügenden Teil als auch aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses, insbesondere den in den Erwägungsgründen E und L dieses Beschlusses dargestellten Gründen, hervor, dass das Parlament im Wesentlichen der Auffassung war, dass die dem Antrag auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Klägers zugrunde liegenden Tatsachen keine in Ausübung des Amtes als Abgeordneter erfolgte Äußerung oder Abstimmung betroffen hätten und seine Immunität auf der Grundlage von Art. 9 des Protokolls Nr. 7 aufzuheben sei.

26      Zunächst ist der erste Klagegrund zu prüfen, und sodann sind der zweite und der dritte Klagegrund zusammen zu prüfen.

 Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 8 des Protokolls Nr. 7

27      Mit seinem ersten Klagegrund trägt der Kläger vor, das Parlament habe durch die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität gegen Art. 8 des Protokolls Nr. 7 verstoßen. Der streitige Tweet beziehe sich nämlich auf eine Plenardebatte zu einem Thema von öffentlichem Interesse. Dieser Tweet stelle somit eine Äußerung dar, die er im Rahmen seiner politischen Tätigkeit und damit in Ausübung seiner Tätigkeit als Mitglied des Parlaments getätigt habe.

28      Das Parlament tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen.

29      Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 des Protokolls Nr. 7 in Anbetracht seines Zwecks und seines Wortlauts, der sich ausdrücklich auf die Äußerungen von Europaabgeordneten und deren Abstimmungen bezieht, im Wesentlichen auf die Erklärungen der Europaabgeordneten Anwendung findet, die sie im Parlament selbst abgeben. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass eine Erklärung, die ein Abgeordneter außerhalb des Parlaments abgibt, eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Meinungsäußerung darstellt, denn das Vorliegen einer derartigen Äußerung hängt nicht von dem Ort, an dem sie erfolgt, sondern von ihrer Art und ihrem Inhalt ab. Der Begriff „Äußerung“ im Sinne dieser Bestimmung ist also in einem weiten Sinn dahin aufzufassen, dass er Worte und Erklärungen umfasst, die ihrem Inhalt nach Aussagen entsprechen, die subjektive Beurteilungen bilden (vgl. Urteil vom 17. September 2020, Troszczynski/Parlament, C‑12/19 P, EU:C:2020:725, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Als Zweites muss, da die in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität geeignet ist, die nationalen Justizbehörden und Gerichte in endgültiger Weise daran zu hindern, ihre jeweiligen Befugnisse zur Strafverfolgung und zur Ahndung von Straftaten auszuüben, und dementsprechend den durch diese Äußerungen geschädigten Personen den Zugang zu den Gerichten zu verwehren, der Zusammenhang zwischen der Äußerung des Abgeordneten und seinem parlamentarischen Amt unmittelbar und in offenkundiger Weise ersichtlich sein (vgl. Urteil vom 17. September 2020, Troszczynski/Parlament, C‑12/19 P, EU:C:2020:725, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere muss diese Äußerung mit einem die Bürger beschäftigenden Allgemeininteresse in unmittelbarem und offenkundigem Zusammenhang zu stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 36).

31      Im vorliegenden Fall hat das Parlament in Erwägungsgrund E des angefochtenen Beschlusses die Auffassung vertreten, dass die Anschuldigungen gegen den Kläger sowie der Antrag auf Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität nicht mit einer in Ausübung seines Amtes als Mitglied des Parlaments erfolgten Äußerung oder Abstimmung in Zusammenhang stünden, sondern damit, dass er als Antwort auf den Tweet von Herrn Beck einen Tweet mit Behauptungen veröffentlicht habe, die von diesem als beleidigend empfunden worden seien.

32      Hierzu ist erstens festzustellen, dass der von der Staatsanwaltschaft Berlin an das Parlament gerichtete Antrag auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Klägers nur mit den Äußerungen im streitigen Tweet begründet wird (vgl. oben, Rn. 9) und dass die Rede des Klägers nur als kontextueller Gesichtspunkt erwähnt wird. Daraus folgt, dass dieser Antrag mit einer vom Kläger getätigten Äußerung in einem sozialen Netzwerk in Zusammenhang steht und nicht mit einer von ihm im Parlamentsgebäude selbst gemachten Äußerung.

33      Zweitens stellte sich der streitige Tweet als eine direkte und unmittelbare Antwort auf den am Vortag veröffentlichen Tweet von Herrn Beck dar und enthielt keine Bezugnahme auf die am 10. März 2021 gehaltene Rede des Klägers. Zudem wurde Herrn Beck mit diesem Tweet lediglich angelastet, er sei ein Lügner und Pädophiler und instrumentalisiere pro-jüdisches Engagement zu persönlichen Zwecken. Dieser Tweet enthielt jedoch keine Stellungnahme allgemeiner Art zu Themen von öffentlichem Interesse wie dem in der Plenarsitzung vom 10. März 2021 behandelten Thema der Rechte von Kindern. Daraus folgt, dass der streitige Tweet von seinem Inhalt her eher im Rahmen einer Auseinandersetzung mit einer anderen Person als im Rahmen eines Meinungsaustauschs über ein Problem von allgemeinem Interesse anzusiedeln ist. Bei Behauptungen, die Einzelpersonen und nicht die Organe betreffen und kein Problem von allgemeinem Interesse behandeln, wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass sie nicht mit der Ausübung des parlamentarischen Amtes in Verbindung stehen (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in den verbundenen Rechtssachen Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:369, Nrn. 37 bis 40, und des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:379, Nr. 109).

34      Drittens war Herr Beck niemals Mitglied des Parlaments und hatte seit 2017 kein nationales Mandat mehr inne, und zwar weder im Bundestag noch in einem regionalen Parlament. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass er innerhalb der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ zur Zeit des streitigen Sachverhalts noch besondere Funktionen wahrgenommen hätte. Daraus folgt, dass Herr Beck, der Adressat des streitigen Tweets, kein unmittelbarer politischer Konkurrent des Klägers war.

35      Viertens wiesen die Wortwechsel zwischen den beiden Beteiligten auf Twitter, selbst unterstellt, dass Herr Beck in Berlin, seiner – nach Meinung des Klägers – „politischen Heimat“, noch politisch tätig gewesen wäre, eine lokale oder höchstens nationale Dimension auf, hatten aber keine politische Tragweite auf Unionsebene (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2018, Troszczynski/Parlament, T‑550/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:754, Rn. 52 bis 54, sowie Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:379, Nrn. 102 bis 107, und des Generalanwalts Pikamäe in der Rechtssache Troszczynski/Parlament, C‑12/19 P, EU:C:2020:258, Nr. 54).

36      Unter diesen Umständen stand der streitige Tweet in Anbetracht seiner Art, seines Inhalts und seines Zusammenhangs, obgleich er eine Behauptung enthielt, die eine subjektive Beurteilung bildet, in keinem unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit dem parlamentarischen Amt des Klägers.

37      Dieses Ergebnis kann durch das Vorbringen des Klägers nicht in Frage gestellt werden.

38      Als Erstes trägt der Kläger vor, es bestehe ein unmittelbarer und offenkundiger Zusammenhang zwischen der Plenardebatte vom 10. März 2021 und den zwischen Herrn Beck und ihm ausgetauschten Tweets. Zum einen nehme der Tweet von Herrn Beck nämlich eindeutig auf die Rede des Klägers Bezug, und zum anderen habe der streitige Tweet denselben Gegenstand wie diese Rede, nämlich die Rolle von Herrn Beck als Protagonist der Versuche der Partei „Die Grünen“ (heute „Bündnis 90/Die Grünen“) in den 70er und 80er Jahren, Sex mit Kindern zu legalisieren. Außerdem habe die Anwältin von Herrn Beck vom Kläger verlangt, die Äußerungen zu unterlassen, die er in der Plenarsitzung getätigt habe.

39      Es trifft insoweit zwar zu, dass es zwischen dem streitigen Tweet und der Rede des Klägers nicht an jedwedem Zusammenhang fehlt. Denn sowohl in dieser Rede als auch in dem Tweet hat der Kläger Herrn Beck der Pädosexualität oder der Pädophilie bezichtigt.

40      Allerdings sollen vor allem Erklärungen, die unmittelbar auf parlamentarische Debatten folgen, diese wiedergeben oder kommentieren, von der in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 vorgesehenen Immunität erfasst werden (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:379, Nr. 101).

41      Im vorliegenden Fall ist indes zunächst festzustellen, dass weder der Tweet von Herrn Beck noch der streitige Tweet ausdrücklich auf die Rede des Klägers und auch nicht auf die Debatte über die Rechte von Kindern Bezug nehmen, die am 10. März 2021 im Plenum stattfand. So enthält der Tweet von Herrn Beck zwei Hyperlinks zu Seiten seiner persönlichen Website, die die Frage von sexuellem Missbrauch von Kindern behandeln, ohne den Kläger oder dessen Rede zu erwähnen.

42      Sodann wurden die beiden fraglichen Tweets sechs Monate nach der Rede des Klägers ausgetauscht. Durch dieses zeitliche Auseinanderfallen konnte sich der Zusammenhang zwischen diesen Tweets und dieser Rede nur abschwächen, und zwar auch, wenn in diesem Zeitraum kein anderer privater oder öffentlicher Austausch zwischen dem Kläger und Herrn Beck stattfand.

43      Schließlich weisen die Rede des Klägers und der streitige Tweet bedeutende Unterschiede hinsichtlich ihrer Adressaten und ihres Inhalts auf. Diese im Parlament gehaltene Rede richtete sich vor allem an die in der Plenarsitzung vom 10. März 2021 anwesenden Mitglieder der Fraktion „Die Grünen/Freie Europäische Allianz“, insbesondere an die deutschen, und erwähnte Herrn Beck, der nicht anwesend war, nur als dritte Person und Mitglied der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“. Der streitige Tweet war hingegen direkt an Herrn Beck gerichtet und erwähnte nicht mehr die anderen Mitglieder dieser Fraktion und dieser Partei. Darüber hinaus wurde Herr Beck in diesem Tweet nicht nur als „Pädophiler“ beschrieben, sondern auch als „Lügner“ bezeichnet, und es wurde ihm außerdem vorgeworfen, sein pro-jüdisches Engagement als Schutzschild zu verwenden.

44      Daher wies der streitige Tweet keinen unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit der Plenardebatte vom 10. März 2021 auf. Im Übrigen räumt der Kläger selbst ein, dass der Zusammenhang zwischen seiner Rede und den fraglichen Tweets für Dritte nicht unmittelbar erkennbar gewesen sei.

45      Was das Schreiben der Anwältin von Herrn Beck betrifft, in dem diese vom Kläger verlangt, die Angriffe gegen ihren Mandanten zu unterlassen (vgl. oben, Rn. 7), so wurde es zum einen im Nachgang zu dem streitigen Tweet und zum anderen im Rahmen eines privaten Schriftverkehrs versendet. Selbst wenn in diesem Schreiben sowohl die Rede des Klägers als auch der streitige Tweet genannt werden, kann es daher nicht als Nachweis dafür angeführt werden, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Tweets ein unmittelbarer und offenkundiger Zusammenhang zwischen Rede und Tweet bestanden habe.

46      Der Kläger trägt als Zweites vor, der streitige Tweet sei Teil seiner politischen Tätigkeit. Denn zum einen beziehe sich der Inhalt dieses Tweets auf ein Thema, das in Deutschland von großem öffentlichen Interesse sei, nämlich die Rolle der Partei „Die Grünen“ in den 70er und 80er Jahren bei der Frage der Legalisierung von Sex mit Kindern. Zum anderen sei dieser Tweet mit einem politischen Gegner ausgetauscht worden.

47      Hierzu ist zum einen festzustellen, dass sich ein angeblich politischer Charakter des streitigen Tweets in Anbetracht der Natur der vom Kläger gegen Herrn Beck erhobenen Bezichtigungen und aufgrund der Tatsache, dass dieser kein unmittelbarer politischer Konkurrent des Klägers war (vgl. oben, Rn. 33 und 34), nicht offenkundig aufdrängt.

48      Zum anderen würde, selbst unterstellt, dass der streitige Tweet ein gewisses politisches Gepräge aufwiese, dies namentlich in Ermangelung seiner politischen Tragweite auf Unionsebene nicht ausreichen, um ihn mit dem Amt als Mitglied des Parlaments in Verbindung zu bringen.

49      Als Drittes beruft sich der Kläger auf die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit der Parlamentarier, die stärker geschützt werden müsse. Hierzu ist festzustellen, dass diese Freiheit mit anderen Grundsätzen wie dem Recht auf Zugang zu den Gerichten der durch die Äußerungen von Abgeordneten verletzten Personen und dem Grundsatz der Gleichheit der Bürger abgewogen werden muss, so dass die absolute, in Art. 8 des Protokolls Nr. 7 vorgesehene Immunität insofern eng auszulegen ist, als sie die Mitglieder des Parlaments nur dann schützt, wenn sie als solche handeln (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:379, Nrn. 93, 94, 99 und 100). Im vorliegenden Fall besteht jedoch kein unmittelbarer und offenkundiger Zusammenhang zwischen der getätigten Äußerung und der Ausübung des Amtes des Abgeordneten (vgl. die obigen Rn. 32 bis 48).

50      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der streitige Tweet keine Äußerung darstellte, die vom Kläger im Sinne von Art. 8 des Protokolls Nr. 7 in Ausübung seines Amtes getätigt wurde.

51      Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.

 Zum zweiten und zum dritten Klagegrund: Bestehen eines fumus persecutionis und eines Verdachts „persönlicher Motive“ der Staatsanwaltschaft Berlin

52      Mit seinem zweiten Klagegrund macht der Kläger geltend, es liege ein Fall von fumus persecutionis vor. Denn die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen der Justiz seien von dem Willen getragen, seine politische Tätigkeit zu beeinträchtigen.

53      Mit seinem dritten Klagegrund trägt der Kläger vor, die Staatsanwaltschaft Berlin könnte aus „persönlichen Motiven“ gehandelt haben.

54      Das Parlament tritt dem Vorbringen des Klägers zu diesen beiden Klagegründen entgegen.

55      Es ist festzustellen, dass, soweit der Kläger vorträgt, die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen der Justiz könnten auf politischen oder persönlichen Gründen beruhen, davon auszugehen ist, dass er rügt, dem Parlament sei ein offensichtlicher Beurteilungsfehler bei der Anwendung von Art. 9 des Protokolls Nr. 7 unterlaufen.

 Zu den politischen Motiven

56      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff fumus persecutionis, auf den sich das Parlament im Erwägungsgrund L des angefochtenen Beschlusses bezogen hat und den sowohl der Kläger als auch das Parlament in ihren Schriftsätzen erwähnen, sich in der vom Rechtsausschuss des Parlaments erstellten Mitteilung 11/2019 an die Mitglieder vom 19. November 2019 findet. Rn. 43 dieser Mitteilung sieht nämlich vor, dass, „[wenn] das jeweilige Verfahren nicht eine in Ausübung des Amtes des Mitglieds erfolgte Äußerung oder Abstimmung [betrifft], … die Immunität aufgehoben werden [sollte], es sei denn, das zugrunde liegende Verfahren ist von der Absicht getragen, die politische Tätigkeit des Mitglieds und damit die Unabhängigkeit des Parlaments zu beeinträchtigen (fumus persecutionis)“. Ein fumus persecutionis wird somit festgestellt, wenn es tatsächliche Anhaltspunkte gibt, die darauf hindeuten, dass die Strafverfolgungsmaßnahmen der Justiz in der Absicht eingeleitet wurden, die politische Tätigkeit des Mitglieds zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Oktober 2018, Jalkh/Parlament, T‑26/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:690, Rn. 72 und 86, und vom 30. April 2019, Briois/Parlament, T‑214/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:266, Rn. 66 und 72).

57      Im vorliegenden Fall hat das Parlament in Erwägungsgrund L des angefochtenen Beschlusses die Auffassung vertreten, es habe keine Anzeichen dafür finden können, dass die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden seien, um der politischen Tätigkeit des Klägers und damit der des Organs zu schaden.

58      Der Kläger führt verschiedene Indizien an, mit denen seiner Meinung nach diese Beurteilung in Frage gestellt werden kann.

59      Erstens gingen die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen auf einen Strafantrag eines politischen Gegners zurück.

60      Indessen kann der Umstand, dass der Antragsteller ein politischer Gegner ist, für sich nicht genügen, um einen fumus persecutionis zu bejahen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2019, Briois/Parlament, T‑214/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:266, Rn. 69). Im vorliegenden Fall genügt u. a. in Anbetracht der Art der vom Kläger gegen Herrn Beck erhobenen Bezichtigungen der bloße Umstand, dass die Beteiligten Mitglieder zweier verschiedener Parteien waren und nicht dieselbe politische Ideologie teilten, nicht für den Nachweis oder die Vermutung, dass Herr Beck Strafantrag gegen den Kläger in der Absicht gestellt habe, dessen politische Tätigkeit zu beeinträchtigen.

61      Zweitens trägt der Kläger vor, dass Herr Beck seine im Plenum gemachten Äußerungen erst sechs Monate später „aufgegriffen“ habe, was den Verdacht einer orchestrierten Strafverfolgung nahelege.

62      Insoweit trifft es zwar zu, dass ein ungewöhnlich langer Zeitraum zwischen dem einem Mitglied des Parlaments zur Last gelegten Sachverhalt und der Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen gegen dieses Mitglied, sofern hierfür keine Gründe vorliegen, einen relevanten Gesichtspunkt für die Beurteilung des fumus persecutionis darstellen könnte (Urteil vom 5. Juli 2023, Puigdemont i Casamajó u. a./Parlament, T‑272/21, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2023:373, Rn. 176).

63      Allerdings ist im vorliegenden Fall darauf hinzuweisen, dass der Antrag auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Klägers nicht mit dessen am 10. März 2021 gehaltener Rede in Verbindung steht, sondern nur mit dem am 10. September 2021 veröffentlichten streitigen Tweet (vgl. oben, Rn. 32). Herr Beck hat indessen rasch auf diesen Tweet reagiert, da zum einen sich seine Anwältin am 15. Oktober schriftlich an den Kläger gewandt hat und Herr Beck zum anderen am 2. Dezember 2021 einen Strafantrag gestellt hat (vgl. die obigen Rn. 7 und 8).

64      Jedenfalls stellt der Zeitraum von fast sechs Monaten zwischen der am 10. März 2021 gehaltenen Rede des Klägers und dem am 9. September 2021 veröffentlichten Tweet von Herrn Beck keine ungewöhnlich lange oder offensichtlich unangemessene Reaktionsfrist dar. Im Übrigen erläutert der Kläger nicht konkret und substantiiert, inwiefern eine solche Reaktionsfrist den Nachweis erlauben oder die Vermutung begründen würde, dass die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen, die später und nach Wiederholung der gegen Herrn Beck erhobenen Bezichtigungen der Pädophilie eingeleitet wurden, vom Willen getragen wären, seine politische Tätigkeit zu beeinträchtigen.

65      Drittens trägt der Kläger im Wesentlichen vor, dass die Staatsanwaltschaft Berlin insofern keine unabhängige Justizbehörde sei, als sie den Weisungen des Justizministeriums des Landes Berlin (Deutschland) unterstehe. Herr Beck sei in Berlin politisch mit allen politisch links stehenden Parteien („Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ [SPD], „Die Linke“, „Bündnis 90/Die Grünen“) gut vernetzt; diese seien sämtlich politische Gegner der AfD, hätten eine Koalition gebildet und das Land Berlin von 2016 bis 2023 regiert. Insbesondere habe in diesem Zeitraum das Amt des Justizsenators dieses Bundeslands ein Mitglied der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ bekleidet und sodann ein Mitglied der Partei „Die Linke“.

66      Hierzu ist festzustellen, dass der Kläger keinen konkreten Gesichtspunkt vorträgt, der den Nachweis erlaubt oder die Vermutung begründet, dass die Staatsanwaltschaft Berlin im vorliegenden Fall auf Weisung des Justizsenators des Landes Berlin gehandelt habe. Vielmehr beruft er sich lediglich darauf, dass der Justizsenator ein politischer Gegner gewesen sei. Der Verdacht, die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen seien auf Ersuchen der Exekutive und der politisch links stehenden Parteien, die damals in diesem Land an der Macht gewesen seien, eingeleitet worden, wird nicht untermauert und hat spekulativen Charakter.

67      Viertens trägt der Kläger vor, dass die Kriminalitätsrate in Berlin sehr hoch und die Staatsanwaltschaft Berlin überlastet sei. In diesem Kontext sei es erstaunlich und im Übrigen auch ungewöhnlich, dass die Staatsanwaltschaft die Zeit gefunden habe, strafrechtliche Ermittlungen zu einer wenig bedeutsamen Auseinandersetzung zweier Politiker einzuleiten.

68      Insoweit bringt der Kläger lediglich seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass ungeachtet der Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft Berlin gegen ihn Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden seien, ohne einen Gesichtspunkt anzuführen, der belegen würde, dass diese Maßnahmen anormal oder ungewöhnlich seien.

69      Fünftens trägt der Kläger vor, dass die gegen ihn erhobene Beschuldigung offensichtlich jeder Grundlage entbehre und kein öffentliches Interesse die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen rechtfertige.

70      Der Kläger erläutert hierbei nicht, aus welchem Grund die in Rede stehenden Strafverfolgungsmaßnahmen offensichtlich jeder Grundlage entbehrten oder offensichtlich durch kein öffentliches Interesse gerechtfertigt seien. Im Übrigen ist die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung der parlamentarischen Immunität im Sinne von Art. 9 des Protokolls Nr. 7 vorliegen, von der durch die Behörden des Mitgliedstaats zu klärenden Frage zu unterscheiden, ob der dem betreffenden Abgeordneten vorgeworfene Sachverhalt nachgewiesen ist (Urteil vom 17. September 2020, Troszczynski/Parlament, C‑12/19 P, EU:C:2020:725, Rn. 57).

71      Sechstens trägt der Kläger in seiner Erwiderung vor, dass die führenden Mitglieder der AfD und er selbst in Berlin gewalttätigen Handlungen seitens der „Antifa“ ausgesetzt seien, die von den politisch links stehenden Parteien toleriert würden. Er habe diese Sachlage im Entwurf eines dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Parlaments vorgelegten Berichts beschrieben.

72      Ohne dass es erforderlich wäre, über die – vom Parlament bestrittene – Zulässigkeit der erstmals im Rahmen der Erwiderung vorgebrachten Argumente und Gesichtspunkte zu entscheiden, ist insoweit festzustellen, dass die „Antifa“ kein staatliches Organ ist und ihre Handlungen – deren Vorliegen unterstellt – dem Land Berlin nicht zurechenbar sind, und noch weniger der Staatsanwaltschaft Berlin. Dadurch, dass der Kläger lediglich die ideologische Nähe zwischen dieser Bewegung und den politisch links stehenden Parteien sowie deren gemeinsame Ablehnung der AfD behauptet, belegt er nicht, dass im vorliegenden Fall diese Parteien die Staatsanwaltschaft Berlin zu politischen Zwecken instrumentalisiert hätten.

73      Unter diesen Umständen kann sich der Kläger in Ermangelung von tatsächlichen Gesichtspunkten, mit denen belegt wird, dass die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen mit der Absicht eingeleitet worden seien, die politische Tätigkeit des Klägers zu beeinträchtigen, nicht darauf berufen, dass ein Fall von fumus persecutionis vorliege.

 Zu den persönlichen Motiven

74      Der Kläger verdächtigt die Staatsanwaltschaft Berlin auch, ihn aus „persönlichen Gründen“ wegen einer „vergangenen Auseinandersetzung“ mit ihm und einer gegen ihn erlittenen „Niederlage“ zu verfolgen. Im Jahr 2018 habe die Staatsanwaltschaft bereits versucht, ihm zu schaden, indem sie gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung und Banalisierung des Holocausts eingeleitet habe, sei aber anschließend gezwungen gewesen, dieses Verfahren wegen seiner pro-jüdischen und pro-israelischen Positionen einzustellen. Es sei daher möglich, dass die Staatsanwaltschaft durch die Einleitung der fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen „diese offene Rechnung geradeziehen“ wolle.

75      Der Kläger trägt jedoch keinen konkreten Gesichtspunkt vor, der es erlaubte, anders als durch allgemeine Spekulationen den Verdacht zu erhärten, dass die Staatsanwaltschaft parteiisch gehandelt und versucht habe, ihm dadurch zu schaden, dass sie 2018 und erneut 2022 gegen ihn Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet habe. Zudem ist die Einstellung des 2018 eingeleiteten Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft eher ein Zeichen für ihre Objektivität und ihre fehlende Animosität gegenüber dem Kläger. Des Weiteren geht aus der Akte hervor, dass das Ermittlungsverfahren von 2018 und das Verfahren zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 2022 von zwei unterschiedlichen Staatsanwälten geführt wurden, und kein konkreter Anhaltspunkt besteht für die Annahme, dass diese beiden Staatsanwälte unter Abstimmung und aus einer gemeinsamen Feindseligkeit heraus gegen den Kläger gehandelt hätten.

76      Unter diesen Umständen ist unter Berücksichtigung dessen, was oben in Rn. 73 bereits festgestellt wurde, und in Ermangelung von Tatsachen, die belegen, dass die fraglichen Strafverfolgungsmaßnahmen aus „persönlichen Gründen“ der Berliner Staatsanwaltschaft eingeleitet wurden, festzustellen, dass dem Parlament bei der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Klägers kein offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen ist.

77      Der zweite und der dritte Klagegrund sind daher zurückzuweisen.

78      Nach alledem ist die Klage abzuweisen.

 Kosten

79      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Parlaments die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Siebte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Herr Nicolaus Fest trägt seine eigenen Kosten sowie die Kosten, die dem Europäischen Parlament entstanden sind.

Kowalik-Bańczyk

Dimitrakopoulos

Ricziová

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Juni 2024.

Der Kanzler

 

Der Präsident

V. Di Bucci

 

M. van der Woude


*      Verfahrenssprache: Deutsch.