Language of document : ECLI:EU:C:2020:650

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GERARD HOGAN

vom 3. September 2020(1)

Rechtssache C637/19

BY

gegen

CX

(Vorabentscheidungsersuchen des Svea Hovrätt [Svea Berufungsgericht, Stockholm, Schweden])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2001/29/EG – Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte – Art. 3 Abs. 1 – Recht der öffentlichen Wiedergabe – Art. 4 Abs. 1 – Verbreitungsrecht – Bedeutung des Begriffs ‚Öffentlichkeit‘ – Einreichung einer Kopie eines geschützten Werks als Beweismittel bei einem Gericht – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – Art. 17 Abs. 2 – Recht am geistigen Eigentum“






I.      Einleitung

1.        Dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen, das am 27. August 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, liegt ein Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen, BY und CX, im Rahmen eines Zivilverfahrens(2) zugrunde, das jetzt beim Svea Hovrätt (Svea Berufungsgericht, Stockholm, Schweden) anhängig ist. Es wirft Fragen von einiger Bedeutung auf, die das Zusammenspiel von EU-Urheberrechtsvorschriften und nationaler Informationsfreiheit sowie das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (im Sinne der Garantie in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union; im Folgenden: Charta) betreffen.

2.        Konkret stellt sich die Frage, ob die Offenlegung eines urheberrechtlich geschützten Werks (im vorliegenden Fall einer Fotografie) in einem nationalen Gerichtsverfahren eine „öffentliche Wiedergabe“ und/oder eine „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 bzw. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft darstellt(3).

3.        Bevor hierauf weiter einzugehen ist, ist jedoch zunächst der einschlägige rechtliche Rahmen darzustellen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

4.        Die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) verabschiedete am 20. Dezember 1996 in Genf den WIPO-Urheberrechtsvertrag (im Folgenden: WCT). Der WCT wurde seinerseits im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2000/278/EG des Rates vom 16. März 2000 genehmigt(4).

5.        Art. 6 („Verbreitungsrecht“) des WCT bestimmt:

„(1)      Den Urhebern von Werken der Literatur und Kunst steht das ausschließliche Recht zu, die öffentliche Zugänglichmachung des Originals und der Kopien ihrer Werke durch Verkauf oder sonstige Eigentumsübertragung zu genehmigen.

…“

B.      Unionsrecht

6.        In den Erwägungsgründen 3, 9, 10, 15 und 31 der Richtlinie 2001/29 heißt es:

„(3)      Die vorgeschlagene Harmonisierung trägt zur Verwirklichung der vier Freiheiten des Binnenmarkts bei und steht im Zusammenhang mit der Beachtung der tragenden Grundsätze des Rechts, insbesondere des Eigentums einschließlich des geistigen Eigentums, der freien Meinungsäußerung und des Gemeinwohls.

(9)      Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. Ihr Schutz trägt dazu bei, die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit im Interesse der Urheber, ausübenden Künstler, Hersteller, Verbraucher, von Kultur und Wirtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen. Das geistige Eigentum ist daher als Bestandteil des Eigentums anerkannt worden.

(10)      Wenn Urheber und ausübende Künstler weiter schöpferisch und künstlerisch tätig sein sollen, müssen sie für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten, was ebenso für die Produzenten gilt, damit diese die Werke finanzieren können. Um Produkte wie Tonträger, Filme oder Multimediaprodukte herstellen und Dienstleistungen, z. B. Dienste auf Abruf, anbieten zu können, sind beträchtliche Investitionen erforderlich. Nur wenn die Rechte des geistigen Eigentums angemessen geschützt werden, kann eine angemessene Vergütung der Rechtsinhaber gewährleistet und ein zufrieden stellender Ertrag dieser Investitionen sichergestellt werden.

(15)      Die Diplomatische Konferenz, die unter der Schirmherrschaft der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) im Dezember 1996 stattfand, führte zur Annahme von zwei neuen Verträgen, dem WIPO-Urheberrechtsvertrag und dem WIPO-Vertrag über Darbietungen und Tonträger, die den Schutz der Urheber bzw. der ausübenden Künstler und Tonträgerhersteller zum Gegenstand haben. In diesen Verträgen wird der internationale Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte, nicht zuletzt in Bezug auf die sog. ‚digitale Agenda‘, auf den neuesten Stand gebracht; gleichzeitig werden die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Piraterie weltweit verbessert. Die Gemeinschaft und die meisten Mitgliedstaaten haben die Verträge bereits unterzeichnet, und inzwischen wurde mit den Vorbereitungen zu ihrer Genehmigung bzw. Ratifizierung durch die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten begonnen. Die vorliegende Richtlinie dient auch dazu, einigen dieser neuen internationalen Verpflichtungen nachzukommen.

(31)      Es muss ein angemessener Rechts- und Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern sowie zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern und Nutzern von Schutzgegenständen gesichert werden. Die von den Mitgliedstaaten festgelegten Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf Schutzrechte müssen vor dem Hintergrund der neuen elektronischen Medien neu bewertet werden. Bestehende Unterschiede bei den Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf bestimmte zustimmungsbedürftige Handlungen haben unmittelbare negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts im Bereich des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte. Diese Unterschiede könnten sich mit der Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden Verwertung von Werken und den zunehmenden grenzüberschreitenden Tätigkeiten durchaus noch deutlicher ausprägen. Um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, sollten diese Ausnahmen und Beschränkungen einheitlicher definiert werden. Dabei sollte sich der Grad ihrer Harmonisierung nach ihrer Wirkung auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts bestimmen.“

7.        Art. 3 („Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.

…“

8.        Art. 4 („Verbreitungsrecht“) der Richtlinie 2001/29 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zusteht, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.

…“

9.        Art. 5 („Ausnahmen und Beschränkungen“) Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf die in den Artikeln 2 und 3 vorgesehenen Rechte vorsehen:

e)      für die Nutzung zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit oder zur Sicherstellung des ordnungsgemäßen Ablaufs von Verwaltungsverfahren, parlamentarischen Verfahren oder Gerichtsverfahren oder der Berichterstattung darüber;

…“

C.      Nationales Recht

10.      § 2 des Lag (1960:729) om upphovsrätt till litterära och konstnärliga verk (upphovsrättslagen) (Gesetz [1960:729] über das Urheberrecht an literarischen und künstlerischen Werken [Urheberrechtsgesetz]) bestimmt:

„[1]      Das Urheberrecht verleiht, mit den in diesem Gesetz genannten Einschränkungen, das ausschließliche Recht, über das Werk zu verfügen, indem es vervielfältigt oder in der ursprünglichen oder einer veränderten Form, einer Übersetzung, einer Umarbeitung in eine andere Literatur- oder Kunstform oder einer anderen Technik der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

[2]      Die Vervielfältigung eines Werkes umfasst jede unmittelbare oder mittelbare Vervielfältigung des Werkes einschließlich des gelegentlichen oder des ständigen Zugänglichmachens, unabhängig davon, in welcher Form oder auf welche Art und Weise dies geschieht und ob das Werk ganz oder nur Teile davon vervielfältigt werden.

[3]      Das Werk wird der Allgemeinheit in folgenden Fällen zugänglich gemacht:

1.      Durch die öffentliche Wiedergabe des Werkes. Dies geschieht, indem das Werk der Öffentlichkeit – drahtgebunden oder drahtlos – ausgehend von einem anderen Ort als dem, an dem die Öffentlichkeit auf das Werk zugreifen kann, zugänglich gemacht wird. Eine öffentliche Wiedergabe liegt auch vor, wenn das Werk in einer Art und Weise wiedergegeben wird, durch die der Einzelne an einem von ihm selbst gewählten Ort und zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt Zugang zum Werk erhält.

4.      Indem Exemplare des Werkes zum Verkauf, zur Vermietung oder zum Verleih angeboten oder auf andere Weise öffentlich verbreitet werden.

Der öffentlichen Wiedergabe und der öffentlichen Aufführung gleichgestellt sind Wiedergaben und Aufführungen, die im geschäftlichen Verkehr für oder vor einem größeren geschlossenen Personenkreis erfolgen.“

11.      § 49a des Urheberrechtsgesetzes bestimmt:

„Der Urheber einer Fotografie hat das ausschließliche Recht, Exemplare dieses Bildes anzufertigen und diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieses Recht besteht unabhängig von der angewandten Technik und unabhängig davon, ob das Bild in seiner ursprünglichen oder in geänderter Fassung genutzt wird.“

12.      Nach Kapitel 2 § 1 des Tryckfrihetsförordningen (Gesetz über die Pressefreiheit) gehört zur Förderung eines freien Meinungsaustausches und einer umfassenden Information der Öffentlichkeit, dass diese das Recht hat, Zugang zu öffentlichen Dokumenten zu verlangen. Das Gesetz über die Pressefreiheit ist eines von vier grundlegenden schwedischen Grundgesetzen, das einen besonderen und bestimmten Stellenwert genießt, der dem einer Verfassung anderer Mitgliedstaaten gleichkommt.

13.      Das Gesetz über die Pressefreiheit sieht u. a. auch vor, dass Dokumente, die bei einem Gericht eingereicht werden, als öffentliche Dokumente anzusehen sind, unabhängig davon, in welcher Form und auf welche Art und Weise sie eingereicht werden. Nach Kapitel 2 § 1 dieses Gesetzes kann daher jedermann Zugang zu einem bei einem Gericht eingereichten Dokument verlangen. Allerdings sind von diesem Grundsatz vertrauliche Informationen ausgenommen.

14.      Grundsätzlich gilt der Öffentlichkeitsgrundsatz daher auch für Dokumente, die unter das Urheberrecht oder verwandte Schutzrechte fallen.

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorabentscheidungsersuchen

15.      BY und CX sind beide natürliche Personen, die jeweils eine Website betreiben. Im Zuge eines vorangegangenen Rechtsstreits vor den Zivilgerichten versandte CX eine der Website von BY entnommene Kopie einer Textseite, einschließlich eines Fotos, als Beweismittel in dem zugrunde liegenden Gerichtsverfahren. Das Foto ist dementsprechend Teil des im Verfahren aufgenommenen Tatsachen- und Beweismaterials.

16.      BY macht geltend, dass er das Urheberrecht an der Fotografie besitze und verlangt von CX Schadensersatz zum einen wegen Verletzung seines Urheberrechts und zum anderen wegen Verletzung des für Fotografien geltenden besonderen Schutzes durch § 49a des Urheberrechtsgesetzes. CX bestreitet jede Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz und behauptet, dass die Offenlegung des Materials für die Zwecke des Gerichtsverfahrens keine Urheberrechtsverletzung dargestellt habe.

17.      Im ersten Rechtszug hat das Patent och marknadsdomstolen (Gericht für geistiges Eigentum und Wirtschaftssachen, Schweden) entschieden, dass die Fotografie durch dem Urheberrecht verwandte Schutzrechte, d. h. durch den für Fotografien geltenden besonderen Schutz, geschützt sei. Dieses Gericht stellte jedoch fest, dass weil es sich um ein ihm eingereichtes Dokument handele, gemäß den nach dem schwedischen Verfassungsrecht anwendbaren Vorschriften über den Zugang zu Dokumenten jeder Dritte Zugang zu der Fotografie verlangen könne. Das Patent och marknadsdomstolen (Gericht für geistiges Eigentum und Wirtschaftssachen) kam zu dem Schluss, dass CX die Fotografie zwar im Sinne des Urheberrechtsgesetzes öffentlich verbreitet habe, allerdings nicht nachgewiesen sei, dass BY dadurch ein Schaden entstanden sei, und wies dessen Klage dementsprechend ab.

18.      Gegen dieses Urteil legte BY Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

19.      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass es insbesondere dazu Stellung nehmen müsse, ob es sich um eine unzulässige Zugänglichmachung des Werks in Form der öffentlichen Verbreitung oder Wiedergabe im Sinne der einschlägigen nationalen urheberrechtlichen Vorschriften handele, wenn einem Gericht als prozessuale Handlung eine Kopie der in Rede stehenden Fotografie vorgelegt werde.

20.      Es ist unstreitig, dass die Fotografie dem mit dem Rechtsstreit zwischen den Parteien befassten Gericht elektronisch (per E‑Mail) als elektronische Kopie eingereicht wurde. Das nationale Gericht möchte ferner geklärt wissen, ob ein Gericht in diesem Sinne als „Öffentlichkeit“ angesehen werden könne.

21.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Zweifel beständen, wie nach dem Unionsrecht die Begriffe der öffentlichen Wiedergabe bzw. der öffentlichen Verbreitung auszulegen seien, wenn ein urheberrechtlich geschütztes Werk im Zuge eines Zivilverfahrens bei einem Gericht eingereicht werde. Dies werfe die Frage auf, ob, erstens, ein Gericht als „Öffentlichkeit“ im Sinne der Richtlinie 2001/29 anzusehen sei, und zweitens, ob dem Begriff „Öffentlichkeit“ im Rahmen der Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dieselbe Bedeutung beizumessen sei.

22.      Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Begriff der Öffentlichkeit eine unbestimmte Zahl möglicher Adressaten umfasse und zudem recht viele Personen voraussetze. Ferner müsse es um die Zugänglichmachung eines Werks in geeigneter Weise „für Personen allgemein“ gehen, also nicht beschränkt auf besondere Personen, die einer privaten Gruppe angehörten(5).

23.      Weiterhin habe nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Begriff der „Verbreitung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dieselbe Bedeutung wie der Ausdruck „durch Verkauf … der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des WCT. Aus dem Urteil vom 13. Mai 2015, Dimensione Direct Sales und Labianca (C‑516/13, EU:C:2015:315), ergebe sich jedoch, dass es für eine „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ ausreiche, dass das urheberrechtlich geschützte Werk an ein Mitglied der Öffentlichkeit geliefert worden sei.

24.      Zu prüfen sei ferner, ob eine „öffentliche Wiedergabe“ oder „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ vorliege, wenn bei einem Gericht ein Dokument eingereicht werde und die Einreichung unabhängig davon, ob sie mittels einer Papierfassung oder als Anhang an eine E‑Mail erfolge, in beiden Fällen dieselbe Wirkung habe oder denselben Zweck verfolge.

25.      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass weder das Gericht selbst noch dessen Mitarbeiter als „Öffentlichkeit“ im allgemeinen Sinne des Begriffs angesehen werden könnten. Sie könnten jedoch nicht als Angehörige einer privaten Gruppe betrachtet werden.

26.      Ferner sei zwar die Anzahl der Personen, die im Zusammenhang mit der Nutzung in den Genuss des Werkes kommen könnten, sicherlich auf die Mitarbeiter dieses Gerichts beschränkt, doch sei diese Zahl zwangsläufig variabel und von vornherein als hoch anzusehen. Schließlich habe nach dem nationalen Recht jedermann Recht auf Zugang zu bei Gericht eingereichten Dokumenten.

27.      Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist dem Begriff „Öffentlichkeit“ in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 eine einheitliche Bedeutung beizumessen?

2.      Falls Frage 1 zu bejahen ist: Ist ein Gericht als Öffentlichkeit im Sinne dieser Artikel anzusehen?

3.      Falls Frage 1 zu verneinen ist:

a)      Ist ein Gericht dann als Öffentlichkeit anzusehen, wenn jemand dort ein urheberrechtlich geschütztes Werk wiedergibt?

b)      Ist ein Gericht dann als Öffentlichkeit anzusehen, wenn jemand dort ein urheberrechtlich geschütztes Werk verbreitet?

4.      Ist es für die Beurteilung der Frage, ob die Einreichung eines urheberrechtlich geschützten Werks bei Gericht als öffentliche Wiedergabe oder Verbreitung anzusehen ist, von Bedeutung, dass das nationale Recht Vorschriften betreffend den Zugang zu Dokumenten enthält, wonach bei einem Gericht eingereichte Dokumente grundsätzlich, d. h. sofern sie keine vertraulichen Informationen enthalten, auf Antrag für jedermann zugänglich sind?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

28.      Schriftliche Erklärungen sind von der Europäischen Kommission eingereicht worden.

29.      Der Gerichtshof hat mehrere schriftliche Fragen an die schwedische Regierung gerichtet. Die schwedische Regierung hat auf diese Fragen am 6. Mai 2020 geantwortet.

V.      Würdigung

A.      Erste Frage

30.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dem Begriff „Öffentlichkeit“ in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 eine einheitliche Bedeutung beizumessen ist(6).

31.      Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren, nachdem er aus dem gesamten vom vorlegenden Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herausgearbeitet hat, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen(7).

32.      Meines Erachtens bedarf die erste Frage keiner Beantwortung durch den Gerichtshof, so dass die anderen Fragen umformuliert werden müssen. Insoweit ergibt sich aus den Rn. 3 und 6 des Vorabentscheidungsersuchens, dass die geschützte Fotografie(8), die den Gegenstand des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht bildet, den Zivilgerichten im Zuge des bei ihnen anhängigen Verfahrens per E‑Mail als Beweismittel eingereicht wurde.

33.      Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 steht den Urhebern das ausschließliche Recht zu, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten. Andererseits steht nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie Urhebern in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zu, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 sieht ferner vor, dass dieses Recht sich erschöpft, wenn der Erstverkauf dieses Originals oder Vervielfältigungsstücks eines Werks oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung in der Europäischen Union durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erfolgt(9).

34.      Aus den Rn. 39 bis 45 sowie 51 und 52 des Urteils vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers (C‑263/18, EU:C:2019:1111), geht u. a. hervor, dass eine „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 voraussetzt, dass das Werk in Form körperlicher Vervielfältigungsstücke, materieller Objekte oder körperlicher Gegenstände in Verkehr gebracht wird(10). Diese konkrete Voraussetzung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 ist nicht erfüllt, wenn ein Werk in nicht körperlicher Form per E‑Mail eingereicht wird(11).

35.      Die Einreichung eines Werks per E‑Mail stellt meines Erachtens vielmehr eine drahtgebundene oder drahtlose Handlung der Wiedergabe oder der Zugänglichmachung des Werks in der Weise, dass es den Adressaten von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich ist, im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dar. Die wesentliche Frage im vorliegenden Verfahren ist jedoch, ob diese Einreichung eine öffentliche Wiedergabe oder Zugänglichmachung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstellt(12).

36.      Meines Erachtens bedarf es daher im vorliegenden Verfahren keiner Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 durch den Gerichtshof.

37.      Unabhängig davon, ob Art. 3 Abs. 1 oder Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar sein könnten, muss die Richtlinie 2001/29 jedenfalls, wie das Urteil vom 13. Mai 2015, Dimensione Direct Sales und Labianca (C‑516/13, EU:C:2015:315, Rn. 34), zeigt, so ausgelegt werden, dass ein wirksamer und rigoroser Schutz für den Urheberrechtsinhaber gewährleistet ist.

38.      Diese strenge Anforderung wird auch durch Art. 17 Abs. 2 der Charta unterstrichen, wonach geistiges Eigentum „geschützt [wird]“(13).

39.      Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen schlage ich vor, jetzt vorbehaltlich der notwendigen Umformulierungen auf die anderen Fragen des vorlegenden Gerichts einzugehen.

B.      Zweite, dritte und vierte Frage

40.      Auch wenn die zweite, dritte und vierte Frage des vorlegenden Gerichts sich überschneiden, soll mit ihnen im Wesentlichen geklärt werden, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen die Offenlegung von urheberrechtlich geschütztem Material als Beweismittel per E‑Mail gegenüber einem Gericht im Zuge eines Verfahrens eine öffentliche Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstellen könnte. Ich werde zunächst auf diese allgemeinen Fragestellungen eingehen und dann abschließend die konkreten Fragen beantworten.

41.      Der Kern des durch Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 gewährten Schutzes ist, dass der Urheberrechtsinhaber Anspruch auf Schutz vor der „öffentlichen“ Wiedergabe oder Zugänglichmachung des urheberrechtlich geschützten Materials hat(14). Somit ist vorbehaltlich der Ausnahmen und Beschränkungen nach Art. 5 der Richtlinie 2001/29 für alle Handlungen der öffentlichen Wiedergabe eines Werks durch einen Dritten die vorherige Zustimmung seines Urhebers erforderlich.

42.      Auch wenn die Wiedergabe des geschützten Materials gegenüber Dritten, die administrative oder gerichtliche Funktionen wahrnehmen, im Hinblick auf die Anzahl der potenziell beteiligten Personen durchaus „eine bestimmte Mindestschwelle“ überschreiten mag(15), würde sie meines Erachtens normalerweise keine „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstellen, eben weil diese Personen, auch wenn sie keine private Gruppe an sich(16) wären, durch die Art ihrer dienstlichen Funktionen eingeschränkt wären. Insbesondere wären sie nicht berechtigt, urheberrechtlich geschütztes Material so zu behandeln, als ob dafür kein Urheberrechtsschutz bestände.

43.      Eine Wiedergabe solchen Materials etwa durch eine Prozesspartei gegenüber Gerichtsbediensteten oder gerichtlichen Amtsträgern im Zuge eines Gerichtsverfahrens würde abgesehen davon, dass sie keinerlei eigenständige wirtschaftliche Bedeutung hat(17), den Adressaten dieses Materials nicht gestatten, damit nach ihrem Belieben umzugehen. Schließlich wäre in diesem Beispiel das Material diesen Personen in ihrer administrativen oder gegebenenfalls gerichtlichen Eigenschaft mitgeteilt worden, und die weitere Vervielfältigung, Wiedergabe oder Verbreitung dieses Materials durch sie unterläge bestimmten ausdrücklichen oder stillschweigenden rechtlichen und ethischen Beschränkungen, einschließlich des Urheberrechts, die im innerstaatlichen Recht vorgesehen sind.

44.      Trotz der potenziell hohen Zahl beteiligter Gerichtsbediensteter würde sich die Wiedergabe somit nicht an eine unbestimmte Zahl möglicher Adressaten richten, wie vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 7. Dezember 2006, SGAE (C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 37), gefordert. Vielmehr wäre die Wiedergabe an eine klar definierte und begrenzte oder geschlossene Gruppe von Personen gerichtet, die ihre Funktionen im öffentlichen Interesse wahrnehmen und die, vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht, an rechtliche und ethische Normen u. a. betreffend die Verwendung und Offenlegung von im Zuge eines Gerichtsverfahrens erhaltenen Informationen und Beweismittel gebunden sind.

45.      Meines Erachtens beeinträchtigt die Wiedergabe von urheberrechtlich geschütztem Material an ein Gericht als Beweismittel im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens grundsätzlich nicht die ausschließlichen Rechte des Inhabers des Urheberrechts an diesem Material, indem etwa dem Urheberrechtsinhaber die Möglichkeit genommen würde, eine angemessene Vergütung für die Nutzung seines Werks zu verlangen. Mit der Möglichkeit, urheberrechtlich geschütztes Material als Beweismittel in einem Zivilverfahren vorzulegen, soll vielmehr das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gewährleistet werden. Die Verteidigungsrechte einer Prozesspartei wären ernsthaft gefährdet, wenn sie nicht in der Lage wäre, einem Gericht Beweise vorzulegen, sofern eine andere Partei dieses Verfahrens oder auch ein Dritter sich auf einen urheberrechtlichen Schutz dieser Beweise beriefe(18).

46.      Insoweit ist zu betonen, dass die in Art. 17 Abs. 2 der Charta verankerten Rechte des geistigen Eigentums keine absoluten Rechte sind, sondern gegen andere durch die Charta garantierte Rechte abgewogen oder gewichtet werden müssen(19).

47.      Der Inhalt dieser Rechte wird nicht durch eine nationale Rechtsvorschrift oder Praxis gefährdet, nach der Prozessparteien urheberrechtlich geschütztes Material in einem gerichtlichen Verfahren verwenden oder sich darauf berufen können, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil dieser Urheberrechtsschutz nicht allein deshalb entfällt, weil es insoweit in diesem Verfahren angeführt wird.

48.      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob sich an dieser Beurteilung dadurch etwas ändert, dass bei einem Gericht eingereichte Dokumente grundsätzlich, sofern sie keine vertraulichen Informationen enthalten, nach den schwedischen Rechtsvorschriften auf Antrag für jedermann zugänglich sind(20). Meines Erachtens, und wie sowohl von der Kommission(21) als auch von der schwedischen Regierung(22) vorgetragen, stellt die Wiedergabe von urheberrechtlich geschütztem Material durch eine Prozesspartei gegenüber einem Gericht unter solchen Umständen keine öffentliche Wiedergabe durch die Prozesspartei dar, da es letztlich das Gericht selbst (bzw. seine Bediensteten) sind, die nach den nationalen Informationsfreiheits- oder Transparenzvorschriften Zugang zu dem Material gewähren(23).

49.      Insoweit gibt es in den dem Gericht vorliegenden Akten keinen Hinweis darauf, dass die Gerichte oder Gerichtsbediensteten in Schweden tatsächlich Zugang zu dem in Rede stehenden urheberrechtlich geschützten Material gewährt haben oder dass ein solcher Zugang auch nur beantragt wurde.

50.      Das vorlegende Gericht hat in seinem Vorabentscheidungsersuchen lediglich angegeben, dass nach dem nationalen Informationsfreiheitsgesetz der Allgemeinheit obligatorisch Zugang zu diesem Material gestattet sei(24). In der Tat ist dies der allgemeine Zweck der Informationsfreiheitsvorschriften sowohl auf der nationalen als auch auf der Unionsebene(25). Dieser Ansatz steht auch im Mittelpunkt des schwedischen Gesetzes über die Pressefreiheit(26) – das selbst Vorbild für Informationsfreiheitsvorschriften in so vielen anderen Mitgliedstaaten und auf der Unionsebene ist – soweit nach Kapitel 2 § 1 dieses Gesetzes gerichtliche Dokumente Mitgliedern der Öffentlichkeit allgemein obligatorisch zugänglich sind(27). Die schwedische Regierung hat ferner erklärt, dass das Urheberrecht durch die schwedische Verfassung nach den Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes geschützt sei. Nach Art. 26b Abs. 1 des Urheberrechtsgesetzes seien indes ungeachtet urheberrechtlicher Bestimmungen öffentliche Dokumente der Öffentlichkeit nach den Voraussetzungen in Kapitel 2 des Gesetzes über die Pressefreiheit zu übermitteln.

51.      Von diesem allgemeinen Grundsatz der Transparenz gibt es jedoch Ausnahmen. Auch wenn dies zu überprüfen, letztlich Sache des nationalen Gerichts ist, wurde dem Gerichtshof von der schwedischen Regierung in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs mitgeteilt, dass Kapitel 31 § 23 des OSL(28) eine Ausnahmeregelung für urheberrechtlich geschütztes Material enthalte. Diese Ausnahmeregelung dürfte daher – wiederum vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – zur Folge haben, dass in diesem Material enthaltene urheberrechtlich geschützte Informationen unter bestimmten Voraussetzungen als vertraulich anzusehen sind und ohne anders lautende besondere Regelung nicht weitergegeben werden dürfen(29).

52.      Darüber hinaus und vielleicht noch wichtiger, hat die schwedische Regierung erklärt, dass Art. 26b Abs. 1 des Urheberrechtsgesetzes zwar die Offenlegung öffentlicher Dokumente regele, aber kein Recht zur Nutzung solcher Dokumente gewähre. Laut dieser Regierung „darf daher jeder, dem nach dieser Bestimmung eine Kopie des Werks zur Verfügung gestellt wurde, darüber nicht unter Verletzung des [Urheberrechtsgesetzes] verfügen. Für jede weitere Nutzung ist die Zustimmung des Urhebers oder das Vorliegen einer der Ausnahmen vom Urheberrechtsschutz nach dem [Urheberrechtsgesetz] erforderlich.“

53.      Offenbar wird urheberrechtlich geschütztes Material somit über die Informationsfreiheitsvorschriften des Gesetzes über die Pressefreiheit nicht allein deshalb allgemein zugänglich, weil es im Zuge eines gerichtlichen Verfahrens offengelegt, gezeigt oder anderweitig als Beweismittel zugänglich gemacht wurde.

54.      Anders ausgedrückt: Die Offenlegung solchen urheberrechtlich geschützten Materials nach den Transparenzvorschriften hat nicht die materielle Wirkung, dass dieses Material seine Rechtsstellung als urheberrechtlich geschütztes Material verliert und dadurch allgemein zugänglich wird.

55.      Es steht somit – natürlich vorbehaltlich der letztendlichen Überprüfung durch das nationale Gericht – eindeutig fest, dass das schwedische Recht nicht vorsieht oder zulässt, dass der Urheberrechtsschutz allein deshalb entfällt, weil eine der Parteien dieses Material im Zuge eines Zivilverfahrens gezeigt hat und ein Dritter aufgrund des schwedischen Gesetzes über die Informationsfreiheit später Zugang zu diesem Material erhalten kann.

56.      Abschließend sei angemerkt, dass wenn dieses Gesetz tatsächlich etwas anderes vorsähe und das Urheberrecht hierdurch allein zu dem Zweck, das urheberrechtlich geschützte Dokument in einem Zivilverfahren zu zeigen, letztlich entfallen könnte, das Königreich Schweden meines Erachtens die Anforderungen der Richtlinie 2001/29 eindeutig nicht ordnungsgemäß umgesetzt und auch die Anforderungen des Art. 17 Abs. 2 der Charta zum wirksamen Schutz des geistigen Eigentums nicht gewahrt hätte. Durch einen solchen Zustand würde der Inhalt des erforderlichen Niveaus des Urheberrechtsschutzes, der Rechtsinhabern durch die Richtlinie 2001/29 (und auch durch Art. 17 Abs. 2 der Charta) garantiert wird, eindeutig gefährdet, da sie im Hinblick darauf, ein Entfallen des Urheberrechts auf diese Weise zu verhindern, ohne wirksamen Schutz bleiben würden.

57.      Da dies jedoch, vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht, eindeutig nicht der Fall ist, erübrigt es sich, auf diese Frage weiter einzugehen.

58.      Daher stellt meines Erachtens die elektronische Einreichung urheberrechtlich geschützten Materials durch eine Prozesspartei oder einen Verfahrensbeteiligten als Beweismittel bei einem Gericht keine „öffentliche Wiedergabe“ oder „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 bzw. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dar. Allein der Umstand, dass ein solches Beweismittel als öffentliches Dokument anzusehen ist und die Öffentlichkeit somit nach den nationalen Informationsfreiheits- oder Transparenzvorschriften grundsätzlich Zugang zu dem in Rede stehenden urheberrechtlich geschützten Material erhalten kann, bedeutet nicht, dass es allgemein zugänglich wird und ein Urheberrechtsschutz für das Material nicht mehr besteht.

VI.    Ergebnis

59.      Nach alledem sollte der Gerichtshof die vom Svea Hovrätt (Svea Berufungsgericht, Stockholm, Schweden) vorgelegten Fragen meines Erachtens wie folgt beantworten:

Die elektronische Einreichung urheberrechtlich geschützten Materials durch eine Prozesspartei oder einen Verfahrensbeteiligten als Beweismittel bei einem Gericht stellt keine „öffentliche Wiedergabe“ oder „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft dar. Allein der Umstand, dass ein solches Beweismittel als öffentliches Dokument gilt und die Öffentlichkeit somit nach den nationalen Informationsfreiheits- oder Transparenzvorschriften grundsätzlich Zugang zu dem in Rede stehenden urheberrechtlich geschützten Material erhalten kann, hat nicht zur Folge, dass es allgemein zugänglich wird und urheberrechtlich nicht mehr geschützt ist.


1       Originalsprache: Englisch.


2       Hingewiesen sei darauf, dass dem Vorabentscheidungsersuchen nicht eindeutig zu entnehmen ist, um welche Art von Zivilverfahren es sich tatsächlich handelt oder ob die in Rede stehenden Beweismittel im Rahmen dieses Verfahrens relevant sind.


3       ABl. 2001, L 167, S. 10.


4      Beschluss 2000/278/EG des Rates vom 16. März 2000 über die Zustimmung – im Namen der Europäischen Gemeinschaft – zum WIPO-Urheberrechtsvertrag und zum WIPO-Vertrag über Darbietungen und Tonträger (ABl. 2000, L 89, S. 6).


5       Vgl. Urteil vom 31. Mai 2016, Reha Training (C‑117/15, EU:C:2016:379, Rn. 41 und 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6       Der Begriff „Öffentlichkeit“ ist in der Richtlinie 2001/29 nicht definiert.


7       Vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers (C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


8       Vgl. entsprechend Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff (C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 14), wo der Gerichtshof daran erinnerte, dass eine Fotografie urheberrechtlich geschützt sein kann, sofern sie die eigene geistige Schöpfung des Urhebers darstellt, in der dessen Persönlichkeit zum Ausdruck kommt und die sich in dessen bei ihrer Herstellung getroffenen freien kreativen Entscheidungen ausdrückt.


9       Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers (C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 35 und 36).


10       Ich verwende diese Begriffe gleichbedeutend miteinander nur zur Veranschaulichung. Meines Erachtens findet eine „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ jedoch in der „realen“ und nicht in der „virtuellen“ Welt statt und setzt somit das Inverkehrbringen eines körperlichen Gegenstands voraus.


11       Darüber hinaus stellte der Gerichtshof in den Rn. 22 und 26 des Urteils vom 19. Dezember 2018, Syed (C‑572/17, EU:C:2018:1033), fest, dass die Verbreitung an die Öffentlichkeit durch eine Reihe von Handlungen gekennzeichnet ist, die zumindest vom Abschluss eines Kaufvertrags bis zu dessen Erfüllung durch die Lieferung an ein Mitglied der Öffentlichkeit reicht. Außerdem kann eine dem Zustandekommen des Kaufgeschäfts über ein urheberrechtlich geschütztes Werk oder seine Vervielfältigungsstücke vorgelagerte Handlung, die ohne Zustimmung des Urheberrechtsinhabers erfolgt und diesen Verkauf zustande bringen soll, eine Verletzung des Verbreitungsrechts im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstellen. Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ist eindeutig zu entnehmen, dass die Einreichung der Fotografie als Beweismittel im Zuge des gerichtlichen Verfahrens keinen Verkauf dieses Werks, keine Übertragung des Eigentums daran und auch keine Vorbereitung des Verkaufs dieses Werks darstellt.


12       Nach ständiger Rechtsprechung vereint der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 zwei kumulative Tatbestandsmerkmale, nämlich eine „Handlung der Wiedergabe“ eines Werks und dessen „öffentliche“ Wiedergabe. Was das erste Tatbestandsmerkmal – nämlich das Vorliegen einer „Handlung der Wiedergabe“ – angeht, reicht es für eine solche Handlung, wie sich aus Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 ergibt, insbesondere aus, wenn ein Werk einer Öffentlichkeit in der Weise zugänglich gemacht wird, dass deren Mitglieder dazu Zugang haben, ohne dass es darauf ankommt, ob sie diese Möglichkeit nutzen oder nicht. Hinsichtlich des zweiten der vorgenannten Tatbestandsmerkmale, nämlich, dass das geschützte Werk tatsächlich „öffentlich“ wiedergegeben wird, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass „Öffentlichkeit“ begrifflich eine unbestimmte Zahl potenzieller Adressaten bedeutet und ferner aus einer ziemlich großen Zahl von Personen bestehen muss. Vgl. Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff (C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 19, 20 und 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). In Rn. 68 des Urteils vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers (C‑263/18, EU:C:2019:1111), wies der Gerichtshof darauf hin, dass zum einen der Begriff „öffentlich“ eine bestimmte Mindestschwelle beinhaltet, womit dieser Begriff eine allzu kleine Zahl betroffener Personen ausschließt, und zum anderen, dass die kumulative Wirkung zu berücksichtigen ist, die sich aus der Zugänglichmachung eines geschützten Werks durch Herunterladen bei den möglichen Adressaten ergibt. Somit ist insbesondere zu berücksichtigen, wie viele Personen gleichzeitig Zugang zu demselben Werk haben können, aber auch, wie viele von ihnen nacheinander Zugang zu diesem Werk haben können.


13       Der Gerichtshof hat in Rn. 18 des Urteils vom 7. August 2018, Renckhoff (C‑161/17, EU:C:2018:634), daran erinnert, dass sich aus den Erwägungsgründen 4, 9 und 10 der Richtlinie 2001/29 ergibt, dass deren Hauptziel darin besteht, ein hohes Schutzniveau für die Urheber zu erreichen und diesen damit die Möglichkeit zu geben, für die Nutzung ihrer Werke u. a. bei einer öffentlichen Wiedergabe eine angemessene Vergütung zu erhalten. Der Begriff der „Wiedergabe an die Öffentlichkeit“ ist daher, wie im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie ausdrücklich angegeben, weit auszulegen.


14       Die Kommission ist der Ansicht, dass mit dem Begriff „Öffentlichkeit“ natürliche Personen und somit nicht Einrichtungen oder Gerichtsbarkeiten gemeint sind. Ich stimme jedoch nicht damit überein, dass der Begriff „Öffentlichkeit“ sich auf natürliche Personen beschränkt, da er meiner Meinung nach auch juristische Personen wie etwa Unternehmen einschließen könnte.


15       Eine solche Gruppe ist vielleicht nicht klein oder unbedeutend, kann aber durchaus eine recht große Gruppe von Personen umfassen. Vgl. Urteil vom 31. Mai 2016, Reha Training (C‑117/15, EU:C:2016:379, Rn. 43).


16       Vgl. Urteil vom 31. Mai 2016, Reha Training (C‑117/15, EU:C:2016:379, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17       Vgl. entsprechend Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29.


18       Der Gerichtshof hat im Urteil vom 6. November 2012, Otis u. a. (C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 71), festgestellt, dass der Grundsatz der Waffengleichheit, der eine logische Folge aus dem Begriff des fairen Verfahrens ist, gebietet, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen. In der Vermeidung dieser Gefahr liegt meines Erachtens nämlich genau die Funktion der optionalen Ausnahme vom oder Beschränkung des Urheberrechtsschutzes für Nutzungen in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nach Art. 5 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2001/29. Zu unterstreichen ist indes, dass das vorlegende Gericht in Rn. 6 seines Vorabentscheidungsersuchens eigens angegeben hat, dass die von ihm gestellte Frage nicht die Anwendung von Art. 5 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2001/29 betreffe.


19       Vgl. entsprechend Urteil vom 29. Juli 2019, Pelham u. a. (C‑476/17, EU:C:2019:624, Rn. 33 und 34). Vgl. auch Urteil vom 29. Juli 2019, Funke Medien NRW (C‑469/17, EU:C:2019:623, Rn. 72).


20       Auch wenn dies aus den dem Gericht vorliegenden Akten nicht klar hervorgeht, geht es im Kern dieser Frage vielleicht um die Gefahr, dass ein gerichtliches Verfahren für die opportunistische Zurschaustellung von urheberrechtlich geschütztem Material in diesen Verfahren instrumentalisiert werden könnte, um der Öffentlichkeit den Zugang zu urheberrechtlich geschütztem Material im Rahmen der Informationsfreiheits- oder Transparenzvorschriften zu ermöglichen und damit die ausschließlichen Rechte der Urheber auszuhöhlen.


21       Vgl. Rn. 20 der Erklärungen der Kommission.


22       Vgl. Rn. 25 der Antwort der schwedischen Regierung vom 6. Mai 2020 auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs.


23       Vgl. Art. 9 der Richtlinie 2001/29, wonach diese Richtlinie andere Rechtsvorschriften u. a. im Bereich Zugang zu öffentlichen Dokumenten unberührt lässt. Die schwedische Regierung hat erklärt, dass nach schwedischem Recht Dokumente, die von einer Verfahrenspartei bei einem Gericht eingereicht werden, öffentliche Dokumente und somit grundsätzlich der Öffentlichkeit zugänglich seien. Der Gerichtshof hat im Urteil vom 1. März 2017, ITV Broadcasting u. a. (C‑275/15, EU:C:2017:144, Rn. 26), festgestellt, dass aus Art. 9 der Richtlinie 2001/29 in Verbindung mit dem 60. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, dass die Bestimmungen in anderen als den durch sie harmonisierten Bereichen von ihr unberührt bleiben sollen.


24       Vgl. Rn. 18 des Vorabentscheidungsersuchens.


25       Vgl. Art. 15 Abs. 3 AEUV.


26       Die schwedische Regierung hat erklärt, dass der Zugang der Öffentlichkeit zu bei einem Gericht eingereichten Schriftsätzen und Beweismitteln, dem Offentlighets- och sekretesslag (2009:400) (Gesetz 2009:400 über die Transparenz und Vertraulichkeit öffentlicher Dokumente; im Folgenden: OSL) sowie Kapitel 2 des Gesetzes über die Pressefreiheit unterliege.


27       Die schwedische Regierung hat erklärt, dass zwar jeder, der Zugang zu einem öffentlichen Dokument beantrage, gegen Zahlung der Verwaltungskosten auch Anspruch auf eine Kopie dieses Dokuments habe, die öffentliche Verwaltung jedoch grundsätzlich nicht verpflichtet sei, dieses Dokument auf elektronischem Wege zu übermitteln. Vgl. Rn. 37 der Antwort der schwedischen Regierung. Damit dürfte vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht gewährleistet sein, dass urheberrechtlich geschütztes Material von den Gerichten nicht grundsätzlich der Öffentlichkeit übermittelt wird.


28       Diese Bestimmung lautet:


      „Informationen, die in einem urheberrechtlich geschützten Werk enthalten sind und bei denen nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie nicht von kommerziellem Interesse sind, sind vertraulich, sofern nicht feststeht, dass diese Informationen unbeschadet der Rechtsinhaber offengelegt werden können, und


      (1) dass es berechtigte Gründe für die Annahme gibt, dass das Werk nicht bereits im Sinne [des Urheberrechtsgesetzes] veröffentlicht worden ist;


      (2) dass es berechtigte Gründe für die Annahme gibt, dass das Werk den Stellen der Verwaltung ohne Zustimmung des Rechtsinhabers übermittelt wurde; und


      (3) dass die Offenlegung der Informationen eine Zugänglichmachung im Sinne des Urheberrechts darstellt.


      Für die Zwecke des Absatzes 1 gilt ein Werk, das nach Kapitel 2 des [Gesetzes über die Pressefreiheit] übermittelt oder von einer Stelle der öffentlichen Verwaltung an eine andere übermittelt wird, nicht als veröffentlicht.“


29       Vgl. Kapitel 8 § 1 des OSL.