Language of document : ECLI:EU:C:2009:762

STELLUNGNAHME DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 9. Dezember 20091(1)

Rechtssache C‑403/09 PPU

Jasna Detiček

gegen

Maurizio Sgueglia

(Vorabentscheidungsersuchen des Višje sodišče v Mariboru [Slowenien])

„Eilvorlageverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Widerrechtliches Verbringen eines Kindes – Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 – Möglichkeit des Gerichts des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, eine einstweilige Maßnahme anzuordnen“





1.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren wird der Gerichtshof ersucht, sich zur Tragweite von Art. 20 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000(2) zu äußern.

2.        Diese Bestimmung sieht vor, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats in diesen Bereichen und in dringenden Fällen die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf im Hoheitsgebiet dieses Staats befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen kann, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß der Verordnung Nr. 2201/2003 ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

3.        Der hier vorliegenden Rechtssache liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Die Eheleute Jasna Detiček, eine slowenische Staatsangehörige, und Maurizio Sgueglia, ein italienischer Staatsangehöriger, lebten in Italien; sie haben eine Tochter. Im Jahr 2007 reichten sie in Italien die Scheidung ein, und der für die Hauptsache zuständige italienische Richter entschied, das Sorgerecht für das Kind vorläufig dem Vater zu übertragen. An dem Tag, an dem die einstweilige Maßnahme vom italienischen Gericht erlassen wurde, begab sich die Mutter mit dem Kind nach Slowenien und ließ sich mit ihm dort nieder. In der Folge beantragte und erwirkte sie bei einem slowenischen Gericht eine einstweilige Maßnahme, mit der ihr das Sorgerecht für ihre Tochter übertragen wurde.

4.        Es stellt sich die Frage, ob das Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind befindet, unter den oben genannten Voraussetzungen auf der Grundlage von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine solche einstweilige Maßnahme erlassen konnte.

5.        Am 27. Oktober 2009 hat der Gerichtshof entschieden, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104b der Verfahrensordnung im Eilverfahren zu behandeln. Im Rahmen dieses Verfahrens haben Frau Detiček, Klägerin des Ausgangsverfahrens, Herr Sgueglia, Beklagter des Ausgangsverfahrens, die slowenische Regierung und die Europäische Kommission als die einzigen dazu berechtigten Beteiligten schriftliche Erklärungen abgegeben. Außerdem hat am 7. Dezember 2009 eine mündliche Verhandlung stattgefunden.

6.        In der vorliegenden Stellungnahme, werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er, wenn ein für die Hauptsache zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats das Sorgerecht für ein Kind vorläufig einem Elternteil überträgt, nicht erlaubt, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nach der Entscheidung des ersten Mitgliedstaats das Sorgerecht für das Kind dem anderen Elternteil überträgt.

7.        Ich werde auch zeigen, wie meines Erachtens die anwendbaren Bestimmungen und der gemeinsame Bezugspunkt, von dem sie sich leiten lassen, nämlich das Wohl des Kindes, eine Zusammenarbeit der Gerichte desselben Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts regeln und erfordern.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Das Haager Übereinkommen von 1980

8.        Am 25. Oktober 1980 wurde in Den Haag im Rahmen der Weltorganisation für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen (Haager Konferenz für Internationales Privatrecht) das Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung(3) geschlossen.

9.        Dieses Übereinkommen enthält die Verfahrensregeln, die im Fall der Entführung eines Kindes anwendbar sind, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen und den Schutz des Rechts zum persönlichen Umgang zu gewährleisten(4).

10.      Art. 12 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.

…“

11.      Nach Art. 13 dieses Übereinkommens ist

„… das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten [Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde] nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass:

a)      die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

…“

B –    Gemeinschaftsrecht

12.      Zweck der Verordnung Nr. 2201/2003, die die Verordnung Nr. 1347/2000 ersetzt, ist es, im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die Bestimmungen über die internationale gerichtliche Zuständigkeit bei Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebands und der Ungültigerklärung einer Ehe sowie bei der elterlichen Verantwortung zu vereinheitlichen.

13.      Während nach der Verordnung Nr. 1347/2000 eine Streitsache über die elterliche Verantwortung nur im Rahmen eines Verfahrens über die Beendigung der Ehe vorgesehen war, erstreckt die Verordnung Nr. 2201/2003 die Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit auf alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, ohne Rücksicht darauf, ob eine Verbindung zu einem Verfahren in Ehesachen besteht(5).

14.      Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 gilt diese ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit für Zivilsachen, die die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung zum Gegenstand haben.

1.      Regelung der allgemeinen Zuständigkeit und Ausnahmen

15.      Unter Bezugnahme auf das Wohl des Kindes bestimmt die Verordnung Nr. 2201/2003 die räumliche Nähe als Kriterium für die allgemeine örtliche Zuständigkeit der Gerichte, lässt aber sogleich eine Ausnahme davon zu, insbesondere in bestimmten Fällen der Änderung des Aufenthaltsorts, wie sie sich aus den Art. 8, 9, 10 und 12 dieser Verordnung ergibt.

16.      So sieht Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung vor, dass für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wobei selbst die Anwesenheit des Kindes, ein Begriff, der sich möglicherweise von dem des gewöhnlichen Aufenthalts unterscheidet, die Zuständigkeit begründen kann, wenn keine andere Zuständigkeit gegeben ist(6).

17.      Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nur in ganz bestimmten Fällen, in denen die Zuständigkeit des ursprünglich angerufenen Gerichts erhalten bleibt, entweder um die Gefahr eines Interessenkonflikts zu vermeiden oder um die Kontinuität eines Verfahrens zu gewährleisten, das nach einem der Verordnung Nr. 2201/2003 entsprechenden Kriterium für die örtliche Zuständigkeit, die von keiner der Parteien beanstandet wird, rechtmäßig eingeleitet wurde.

18.      Dies gilt ebenfalls für das Umgangsrecht in dem Fall, in dem ein Kind rechtmäßig in einen anderen Mitgliedstaat umzieht und dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt. In diesem Fall bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes während einer Dauer von drei Monaten nach dem Umzug für eine Änderung einer vor dem Umzug des Kindes in diesem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über das Umgangsrecht zuständig(7).

19.      Ebenso sieht Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Vereinbarung über die Zuständigkeit zugunsten des Gerichts vor, das mit der Entscheidung über die Beendigung der Ehe befasst ist. Nach dieser Bestimmung bleibt dieses Gericht für alle Entscheidungen zuständig, die die mit dem Antrag auf Beendigung der Ehe verbundene elterliche Verantwortung betreffen, wenn zumindest einer der Ehegatten die elterliche Verantwortung für das Kind hat und die Zuständigkeit dieses Gerichts von den Ehegatten oder von den Trägern der elterlichen Verantwortung ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt wurde. Diese Zuständigkeit muss außerdem im Einklang mit dem Wohl des Kindes stehen. Sie endet, sobald die dem Antrag auf Beendigung der Ehe stattgebende Entscheidung oder die Entscheidungen über die elterliche Verantwortung rechtskräftig geworden sind(8).

20.      Soweit sich aus den Art. 8 bis 13 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, bestimmt sich die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates(9).

21.      Das Kindeswohl kann auch eine besondere Abweichung in Form einer Unzuständigerklärung eines Gerichts eines Mitgliedstaats zugunsten des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats rechtfertigen.

22.      Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„[S]ofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)      die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag … zu stellen, oder

b)      ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich … für zuständig zu erklären.“

23.      Nach Art. 15 Abs. 2 dieser Verordnung findet Abs. 1 Anwendung auf Antrag einer der Parteien, von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat(10), wobei in den letzten beiden Fällen die Verweisung nur erfolgt, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

2.      Die für den speziellen Fall des widerrechtlichen Verbringens eines Kindes geltenden Bestimmungen

24.      Im Fall eines widerrechtlichen Verbringens eines Kindes finden die mit dem Haager Übereinkommen von 1980 eingeführten Bestimmungen weiterhin Anwendung. Sie werden jedoch durch die Verordnung Nr. 2201/2003 ergänzt, die dann Vorrang vor diesem Übereinkommen hat(11).

25.      Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

26.      Was die gerichtliche Zuständigkeit betrifft, sieht Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 vor, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zuständig bleiben.

27.      Die Zuständigkeit geht jedoch in Übereinstimmung mit dem Kriterium der räumlichen Nähe auf die Gerichte des Mitgliedstaats über, in dessen Hoheitsgebiet das Kind einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, wenn

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziff. i genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Art. 11 Abs. 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.

28.      Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist mit „Rückgabe des Kindes“ überschrieben. Gemäß Abs. 1 dieses Artikels gelten die Abs. 2 bis 8, wenn eine sorgeberechtigte Person bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 beantragt, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das verbracht wurde.

29.      Insbesondere muss ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das entschieden hat, die Rückgabe des Kindes gemäß Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, gemäß Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2201/2003 dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine Abschrift dieser Entscheidung und die entsprechenden Unterlagen übermitteln.

30.      Darüber hinaus ist gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4, insbesondere den Art. 40, 42 und 43, der genannten Verordnung vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.

31.      Gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 wird diese Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und kann dort vollstreckt werden, ohne dass es eines Verfahrens zur Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.

32.      Dazu muss für diese Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat eine Bescheinigung ausgestellt werden. Der Richter, der damit betraut ist, die Bescheinigung für die Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, auszustellen, tut dies nur, wenn drei Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt sind. Aus Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a, b und c der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich nämlich, dass die Bescheinigung nur ausgestellt werden kann, wenn das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, außer wenn eine solche Anhörung unter Berücksichtigung seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht ist, wenn die Parteien die Gelegenheit hatten, gehört zu werden, und wenn das Gericht beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, zugrunde lagen.

3.      Gemeinsame Vorschriften für die Beendigung der Ehe und die elterliche Verantwortung

33.      Als Hilfe in dringenden Fällen sieht Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 vor, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen können, wenn das Gericht eines anderen Mitgliedstaats für die Hauptsache zuständig ist.

34.      Diese Maßnahmen treten nach Art. 20 Abs. 2 dieser Verordnung außer Kraft, wenn das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständige Gericht die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.

4.      Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung

35.      Gemäß Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 werden die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. Art. 21 Abs. 3 dieser Verordnung sieht vor, dass jede Partei eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen kann.

36.      Art. 23 dieser Verordnung nennt die Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung. Eine solche Entscheidung wird u. a. nicht anerkannt, wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung offensichtlich widerspricht oder wenn die Entscheidung ergangen ist, ohne dass das Kind gehört werden konnte.

37.      Außerdem darf gemäß Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats(12) nicht überprüft werden.

38.      Schließlich wird in Art. 28 Abs. 1 dieser Verordnung darauf hingewiesen, dass „[d]ie in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für ein Kind, die in diesem Mitgliedstaat vollstreckbar sind und die zugestellt worden sind, … in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt [werden], wenn sie dort auf Antrag einer berechtigten Partei für vollstreckbar erklärt wurden“. Darüber hinaus kann jede Partei gegen die Entscheidung über den Vollstreckungsantrag einen Rechtsbehelf einlegen(13).

5.      Zusammenarbeit zwischen den Zentralen Behörden bei Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung

39.      Nach Art. 53 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt jeder Mitgliedstaat eine oder mehrere Zentrale Behörden, die ihn bei der Anwendung dieser Verordnung unterstützen. Ihre Aufgabe ist es, Informationen über nationale Rechtsvorschriften und Verfahren zur Verfügung zu stellen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Durchführung dieser Verordnung zu verbessern, und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Zentralen Behörden der Mitgliedstaaten zu stärken(14).

40.      Art. 55 dieser Verordnung sieht vor, dass die Zentralen Behörden Maßnahmen treffen, um Informationen einzuholen und auszutauschen über die Situation des Kindes, laufende Verfahren mit Bezug auf die elterliche Verantwortung und über das Kind betreffende Entscheidungen. Insbesondere müssen sie die Maßnahmen zur Erleichterung der Verständigung zwischen den Gerichten zur Anwendung von Art. 11 Abs. 6 und 7 und Art. 15 der genannten Verordnung treffen.

C –    Nationales Recht

41.      Art. 411 Abs. 1 des Zivilprozessgesetzes (Zakon o pravdnem postopku)(15) bestimmt, dass in Verfahren, die Ehesachen oder Streitigkeiten über die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern betreffen, das Gericht auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen einstweilige Anordnungen über die Sorge für gemeinsame Kinder und über deren Unterhalt sowie einstweilige Anordnungen über den Entzug oder die Beschränkung des Umgangsrechts bzw. über die Umgangsregelung erlassen kann.

42.      Nach Art. 411 Abs. 3 dieses Gesetzes werden diese einstweiligen Anordnungen gemäß den Bestimmungen des Gesetzes erlassen, das den einstweiligen Rechtsschutz regelt.

43.      Nach Art. 267 des Gesetzes über Vollstreckung und einstweiligen Rechtsschutz (Zakon o izvršbi in zavarovanju)(16) kann eine einstweilige Anordnung vor Eröffnung des Verfahrens, während des Verfahrens sowie nach Abschluss des Verfahrens erlassen werden, solange keine Vollstreckung erfolgt ist.

44.      Art. 105 Abs. 3 des Gesetzes über Ehe und Familienbeziehungen (Zakon o zakonski zvezi in družinskih razmerjih)(17) bestimmt, dass, wenn sich die beiden Eltern auch mit Hilfe des Sozialarbeitszentrums nicht über das Sorgerecht für die Kinder einig werden, das Gericht auf Antrag eines Elternteils oder beider Elternteile entscheidet, das Sorgerecht für alle Kinder einem von ihnen zuzusprechen oder das Sorgerecht für einzelne Kinder dem einen, das für die übrigen Kinder dem anderen Elternteil zuzusprechen. Das Gericht kann auch von Amts wegen entscheiden, das Sorgerecht für alle oder einzelne Kinder einer anderen Person zuzusprechen.

II – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

45.      Frau Detiček, die slowenische Staatsangehörige ist, und Herr Sgueglia, ein italienischer Staatsangehöriger, sind verheiratet und lebten 25 Jahre in Rom. Ihre Tochter Antonella, die die slowenische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde am 6. September 1997 geboren.

46.      Beim Tribunale ordinario di Tivoli (ordentliches Gericht Tivoli) (Italien) wurde die Scheidung eingereicht. Mit Beschluss vom 25. Juli 2007 entschied dieses vorläufig, das alleinige Sorgerecht für das Kind des Ehepaars Herrn Sgueglia zuzusprechen und dieses Kind in einem Internat des Heims der Suore Calasanziane (Kalasantiner-Schwestern) in Rom unterzubringen.

47.      Aus der dem Gerichtshof vom Višje sodišče v Mariboru (Obergericht Maribor) übermittelten Akte ergibt sich, dass der Richter des Tribunale ordinario di Tivoli das vorläufige Sorgerecht für das Kind nicht Frau Detiček übertragen wollte, weil diese nicht in der Lage sei, zwischen den Interessen des Kindes des Ehepaars und ihren eigenen Interessen zu unterscheiden. Außerdem habe sich Antonella nach den Ausführungen des italienischen Richters geweigert, ihren Vater zu sehen. Infolgedessen traf dieser Richter die Entscheidung, das Sorgerecht vorläufig Herrn Sgueglia zu übertragen und Antonella im Internat unterzubringen, um sie aus dem Streit ihrer Eltern herauszuhalten. In dieser Entscheidung des italienischen Richters wird darüber hinaus darauf hingewiesen, dass Frau Detiček selbst das Internat vorgeschlagen und ausgesucht habe.

48.      An dem Tag, an dem diese Entscheidung erging, verließen Frau Detiček und ihre Tochter Italien und begaben sich nach Poljčane in Slowenien, wo sie gegenwärtig immer noch leben.

49.      Mit Beschluss des Okrožno sodišče v Mariboru (Kreisgericht Maribor) (Slowenien) vom 22. November 2007, der vom Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof) (Slowenien) mit Beschluss vom 2. Oktober 2008 bestätigt wurde, wurde der Beschluss des Tribunale ordinario di Tivoli vom 25. Juli 2007 für im Hoheitsgebiet der Republik Slowenien vollstreckbar erklärt, und ein Vollstreckungsverfahren ist beim Okrajno sodišče v Slovenski Bistrici (Bezirksgericht Slovenska Bistrica) (Slowenien) anhängig, um das Kind dem Vater zurückzugeben und in dem Internat in Rom unterzubringen. Diese Vollstreckung wurde bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt.

50.      Am 28. November 2008 beantragte Frau Detiček beim Okrožno sodišče v Mariboru, ihr im Wege einer einstweiligen Maßnahme das Sorgerecht für das Kind zu übertragen.

51.      Mit Beschluss vom 9. Dezember 2008 gab das Okrožno sodišče v Mariboru dem Antrag von Frau Detiček statt und übertrug ihr vorläufig das Sorgerecht für Antonella. Es begründete seine Entscheidung damit, dass sich die Umstände geändert hätten und dass es dem Wohl des Kindes entspreche, wobei das vorlegende Gericht diese Umstände nicht näher erläutert.

52.      Es ergibt sich jedoch aus den dem Gerichtshof übersandten Unterlagen und insbesondere aus dem Beschluss vom 9. Dezember 2008, dass es sich um folgende geänderte Umstände handelt. Antonella hat sich nun in Slowenien eingelebt. Nach Ansicht des slowenischen Richters würde eine Rückkehr nach Italien und eine Unterbringung in einem Internat ihrem Wohlergehen zuwiderlaufen, weil ihr dadurch ein irreparabler körperlicher und seelischer Schaden entstehen würde. Außerdem habe sich der Richter am 1. Dezember 2008 mit Antonella unterhalten, und diese habe den Wunsch geäußert, bei ihrer Mutter zu bleiben.

53.      Gegen diesen Beschluss legte Herr Sgueglia bei demselben Gericht Widerspruch ein, der mit Beschluss vom 29. Juni 2009 zurückgewiesen wurde. Das Gericht stützt den Erlass der Schutzmaßnahme auf Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Verbindung mit Art. 13 der Haager Konvention von 1980.

54.      Herr Sgueglia reichte gegen den Beschluss vom 29. Juni 2009 eine Klage beim Višje sodišče v Mariboru ein, das beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist ein Gericht in der Republik Slowenien gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 für den Erlass einstweiliger Maßnahmen zuständig, wenn ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das nach der Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, bereits eine einstweilige Maßnahme getroffen hat, die in Slowenien für vollstreckbar erklärt wurde?

2.      Falls die vorstehende Frage bejaht wird: Kann ein slowenisches Gericht unter Anwendung des nationalen Rechts (die gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 erlaubt ist) durch den Erlass einer einstweiligen Maßnahme nach Art. 20 dieser Verordnung eine rechtskräftige und vollstreckbare einstweilige Maßnahme ändern oder aufheben, die von einem Gericht in einem anderen Mitgliedstaat getroffen wurde, das nach der Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist?

III – Analyse

55.      Mit seinen Vorlagefragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Hauptsache zuständig ist, eine Maßnahme getroffen hat, mit der das Sorgerecht für ein Kind vorläufig einem Elternteil übertragen wird, Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin ausgelegt werden kann, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats nach der Entscheidung des ersten Mitgliedstaats eine Entscheidung treffen kann, mit der das Sorgerecht dem anderen Elternteil übertragen wird.

A –    Vorbemerkungen

56.      Folgende Vorbemerkungen erscheinen mir angebracht.

57.      Zunächst halte ich es für unbestreitbar, dass die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen auf einen Rechtsstreit zurückgehen, der wegen des widerrechtlichen Verbringens eines Kindes im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 entstanden ist.

58.      Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Angaben ergibt sich nämlich, dass Frau Detiček an dem Tag, an dem das von den Eheleuten im Rahmen des Scheidungsverfahrens angerufene italienische Gericht entschieden hatte, das Sorgerecht für Antonella vorläufig dem Vater, Herrn Sgueglia, zu übertragen, Italien, den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts der Familie, verlassen und sich mit dem gemeinsamen Kind des Ehepaars, der damals zehnjährigen Antonella, nach Slowenien begeben hat. Diese Situation dauert gegen den Willen des Vaters bis heute an.

59.      Somit halte ich die Voraussetzungen von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 für erfüllt, der widerrechtliches Verbringen eines Kindes definiert als ein Verbringen, durch das „das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung … nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen … seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, … und … das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens … allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen … nicht stattgefunden hätte“.

60.      Ich möchte zunächst klarstellen, dass Art. 11 dieser Verordnung, der die Zusammenarbeit der Gerichte zum Wohl des Kindes regelt, zwar selbstverständlich im Rahmen der vom Vater beim Okrajno sodišče v Slovenski Bistrici erhobenen Klage auf Vollstreckung, d. h. auf Rückgabe, Anwendung findet, dagegen nicht auf die Klage der Mutter beim Okrožno sodišče v Mariboru anwendbar ist.

61.      Aus Art. 11 Abs. 1 der genannten Verordnung ergibt sich nämlich, dass die Rückgabe des Kindes nur dann nach diesem Mechanismus ablaufen kann, wenn „eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980 beantragt], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“.

62.      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ergibt sich aber zum einen, dass Frau Detiček nach der Entscheidung des Tribunale ordinario di Tivoli vom 25. Juli 2007, die mit Entscheidung des Vrhovno sodišče vom 2. Oktober 2008 für vollstreckbar erklärt worden war, nicht, auch nicht gemeinsam, sorgeberechtigt war, als sie am 28. November 2008 beim Okrožno sodišče v Mariboru das Sorgerecht beantragte, und zum anderen, dass sie mit ihrem Antrag nicht die Rückgabe von Antonella erwirken wollte. Der Fall liegt in der vorliegenden Rechtssache nicht nur anders als der, den Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Auge hat, sondern stellt genau dessen Gegenteil dar.

63.      Das dem Gerichtshof vorgelegte Problem ist somit nur im Hinblick auf die autonomen Bestimmungen von Art. 20 dieser Verordnung zu prüfen.

64.      Tatsächlich geht es bei der Vorlagefrage darum, ob es in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens möglich ist, durch ein Gericht, dessen örtliche Zuständigkeit nur infolge eines widerrechtlichen Verbringens des Kindes gegeben ist, eine Entscheidung nach Art. 20 Abs. 1 der genannten Verordnung herbeizuführen und künftig als vorrangig gelten zu lassen.

65.      Die Antwort auf diese Frage hängt meines Erachtens von den Antworten auf die beiden folgenden Fragen ab. Erstens, welches ist bei der dem Gerichtshof vorliegenden Problematik der Leitgedanke der Verordnung Nr. 2201/2003? Zweitens, welche Stellung hat Art. 20 dieser Verordnung in dem in dieser vorgesehenen rechtlichen Instrumentarium?

B –    Das in dem speziellen Fall des widerrechtlichen Verbringens eines Kindes durch die Verordnung Nr. 2201/2003 errichtete System

66.      Meines Erachtens beruht die Verordnung Nr. 2201/2003 auf folgenden Prämissen.

67.      Zunächst ist daran zu erinnern, dass diese Verordnung zur Schaffung eines echten gemeinsamen Rechtsraums beitragen soll, indem sie Zuständigkeitsregeln in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung aufstellt und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen auf diesen Gebieten erleichtert.

68.      Dazu ist es von entscheidender Bedeutung, dass die in einem Mitgliedstaat getroffenen Entscheidungen gegenseitig anerkannt werden. Wie nämlich im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgeführt wird, wurde anerkannt, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar ist. Aus diesem Grund beruhen die Anerkennung dieser Entscheidungen und ihre Vollstreckung auf dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, und die Gründe für die Nichtanerkennung sind auf das notwendige Minimum beschränkt(18).

69.      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung selbst hervorhebt, dass die darin festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend ausgestaltet wurden(19). Daraus ergibt sich meines Erachtens eindeutig, dass dies auch die Leitidee bei der Erstellung der Zuständigkeitsvorschriften war, die das widerrechtliche Verbringen von Kindern bekämpfen sollen.

70.      Eine früher bei Scheidungen von Ehegatten mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit allzu häufige Praxis war, dass der Ehegatte, der sich das Sorgerecht für das Kind oder die Kinder sichern wollte, mit dem betreffenden Kind oder den betreffenden Kindern in sein Heimatland flüchtete und gegebenenfalls unter Missachtung der in einem anderen Staat ergangenen Entscheidungen beim nationalen Gericht eine Entscheidung über das Sorgerecht beantragte.

71.      Die Folge davon war ein langjähriger, ja sogar endgültiger Abbruch der Beziehungen zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil, eine Situation, von der niemand behaupten kann, dass sie dem Wohl des Kindes oder, um den vom Gerichtshof bereits verwendeten Begriff zu gebrauchen, seinem Wohlergehen(20) entspricht.

72.      Diese Haltung, für die die jüngste Vergangenheit, ja sogar das aktuelle Tagesgeschehen zahlreiche und schmerzliche Beispiele bietet, bestand darin, eine für die eigenen Belange günstige Reaktion des angerufenen Gerichts herbeizuführen oder zu erwarten, die von einer Art richterlichen Nationalgefühls geleitet war, das in unseren Tagen mit dem Begriff des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts absolut unvereinbar ist. Dem Kind würden damit wesentliche und im eigentlichen Sinne grundlegende Rechte entzogen. Nicht nur kann man sich unschwer vorstellen, dass der familiäre Druck, dem es ausgesetzt ist, ihm selbst dann, wenn es eine ausreichende Reife erlangt hat, seine Entscheidungsfreiheit und die Möglichkeit nimmt, von seiner Freizügigkeit Gebrauch zu machen, um den anderen Elternteil zu besuchen, es wird schlicht um sein Grundrecht gebracht, normale Beziehungen zu beiden Eltern zu unterhalten.

73.      Um diese für ein Kind äußerst schädlichen Praktiken zu verhindern, wurden durch die Verordnung Nr. 2201/2003 zwingende Zuständigkeitsvorschriften eingeführt, deren oberstes Ziel es ist, Verhaltensweisen zu verhindern, die zu diesen Zuständen führen und regelrechte Gewalthandlungen darstellen.

74.      Das konkrete Verbot der genannten Praktiken erfordert somit ein absolutes Verbot des forum shopping. Das einzig wirksame Mittel ist nämlich, die ursprüngliche Zuständigkeit des mit der Hauptsache befassten Gerichts aufrechtzuerhalten und für unantastbar zu erklären.

75.      Deshalb sieht die Verordnung Nr. 2201/2003 meines Erachtens zunächst im Interesse des Kindes eine allgemeine Zuständigkeitsregelung vor, die sich nach dem Kriterium der räumlichen Nähe(21) richtet, und lässt dann, ebenfalls im Interesse des Kindes, Ausnahmen zu, darunter diejenige, die für das widerrechtliche Verbringen eines Kindes gilt.

76.      In diesem in Art. 10 dieser Verordnung genannten und geregelten Fall ist das Gericht des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind befindet, kann nur dann zuständig werden, wenn das Verbringen nach ausdrücklicher oder impliziter Behebung der Rechtswidrigkeit entsprechend den in dieser Verordnung vorgesehenen Fällen zulässig wird.

77.      Dieser Artikel sieht nämlich die Fälle vor, dass die sorgeberechtigte Person dem Verbringen zustimmt(22) oder dass das Gericht, das wegen der Rechtswidrigkeit des Verbringens weiterhin zuständig ist, das Verbringen bestätigt oder eine Sorgerechtsentscheidung erlässt, in der die Rückgabe nicht angeordnet wird(23). Er sieht implizit auch den Fall vor, dass die Person, die berechtigt war, die Rückgabe des Kindes zu verlangen, dies entweder nicht beantragt oder eine Klage auf Rückgabe des Kindes zurücknimmt und nicht neu erhebt(24). In allen diesen Fällen geht die Zuständigkeit auf das Gericht des Mitgliedstaats über, in dessen Hoheitsgebiet das Kind verbracht worden ist.

78.      Unter Berücksichtigung der Informationen, die der Gerichtshof vom vorlegenden Gericht erhalten hat, verhält es sich in der vorliegenden Rechtssache offensichtlich nicht so. Nachdem nämlich Herr Sgueglia die Anerkennung der italienischen Maßnahme in Slowenien beantragt und erhalten hatte, erhob er beim Okrajno sodišče v Slovenski Bistrici Klage auf Rückgabe von Antonella im Wege der Vollstreckung dieser Maßnahme.

79.      Folglich kann nicht bestritten werden, dass das italienische Gericht nach der Verordnung Nr. 2201/2003 ausschließlich zuständig blieb, was das vorlegende Gericht im Übrigen anerkennt.

80.      Auf die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts ist nun im Licht dieser Erwägungen zu antworten.

C –    Die Stellung von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 im allgemeinen Aufbau dieser Verordnung

81.      Diese Stellung nämlich möchte das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen bestimmen lassen, die im Wesentlichen dahin gehen, ob in dem Fall, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Hauptsache zuständig ist, eine Maßnahme erlassen hat, mit der das Sorgerecht für ein Kind vorläufig einem Elternteil übertragen wird, ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats auf der Grundlage von Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 nach der Entscheidung des ersten Mitgliedstaats eine Entscheidung treffen kann, mit der das Sorgerecht dem anderen Elternteil übertragen wird.

82.      Ich erinnere zunächst daran, dass ein Gericht, das nicht für die Hauptsache zuständig ist, ausnahmsweise, wenn die Dringlichkeit es erfordert, nach Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung eine einstweilige Maßnahme oder eine Schutzmaßnahme in Bezug auf im Hoheitsgebiet dieses Staates befindliche Vermögensgegenstände oder Personen anordnen kann.

83.      Ich bin der Ansicht, dass diese Bestimmung kein Kriterium für eine allgemeine Zuständigkeit darstellt, sondern eine Ermächtigung dafür, unter dem doppelten Druck einer für das Kind bestehenden Gefahr und der Notwendigkeit raschen Handelns, um es davor zu bewahren, tätig zu werden.

84.      Wie die Kommission in Randnr. 27 ihrer Erklärungen bemerkt, hat Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 zur Folge, dass das Recht des angerufenen Gerichts ohne das Kriterium der ursprünglichen Zuständigkeit geltend gemacht werden kann.

85.      Wie wir aber gesehen haben, wurden die Zuständigkeitsvorschriften, einschließlich Art. 10 dieser Verordnung, im Hinblick auf das Wohl des Kindes ausgestaltet. Somit kann Art. 20 dieser Verordnung, der davon völlig abweicht, nur angewandt werden, wenn Umstände vorliegen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Situation des Kindes außergewöhnlich schwer wiegen.

86.      Der Gerichtshof hat die Tragweite dieser Bestimmung bereits im Urteil A erläutert. Er hat dort entschieden, dass die Anwendung von Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur zulässig ist, wenn drei kumulative Voraussetzungen vorliegen, und zwar müssen die Maßnahmen dringend sein, sie müssen in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände getroffen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das mit der Sache befasste Gericht seinen Sitz hat, und sie müssen vorübergehender Art sein(25).

87.      In dem konkreten Fall, mit dem er in jener Rechtssache befasst war, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die einstweiligen Maßnahmen, die in Anwendung von Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 angeordnet wurden, „auf Kinder anwendbar [sind], die zwar ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem einen Mitgliedstaat haben, sich aber vorübergehend oder gelegentlich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten und sich in einer Situation befinden, die geeignet ist, ihrem Wohlergehen, einschließlich ihrer Gesundheit und ihrer Entwicklung, schweren Schaden zuzufügen, und deshalb die sofortige Anordnung von Schutzmaßnahmen rechtfertigt“(26).

88.      Dem Beispiel des Gerichtshofs lässt sich dasjenige hinzufügen, das die Kommission im Leitfaden zur Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003(27) aufführt und das meines Erachtens das durch Art. 20 dieser Verordnung eingeführte Verfahren sehr anschaulich macht.

89.      Im Beispiel dieses Leitfadens ist eine Familie mit dem Auto im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen unterwegs, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Familie hat einen Unfall, und beide Eltern liegen im Koma und sind deshalb nicht in der Lage, ihre elterliche Verantwortung auszuüben. Die Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich die Familie befindet, müssen deshalb in der Lage sein, schnell einstweilige Maßnahmen zum Schutz des Kindes des Ehepaars zu ergreifen, das keine Verwandten in diesem Mitgliedstaat hat. In einem solchen Fall können diese Maßnahmen darin bestehen, das Kind in einem Heim unterzubringen.

90.      Es wird klar, dass diese – notwendige – Ausnahme von der allgemeinen Zuständigkeitsregel nur durch außergewöhnliche Umstände gerechtfertigt werden kann, etwa solche, die Folge einer unmittelbaren Gefahr wären, deren Abwendung angesichts einer Situation, die entweder die Gefahr heraufbeschwört oder in der sie sich nicht abwenden lässt, ein dringendes Eingreifen erfordert.

91.      Meines Erachtens ist dies in der Rechtssache des Ausgangsverfahrens nicht der Fall.

92.      Gleichwohl stelle ich mir unschwer den Kummer des Kindes in einer solchen Situation vor, einen Kummer, der den Kindern gemeinsam ist, deren Eltern, selbst nach ihrer Trennung, ihren Streit, der durch die Trennung beendet werden sollte, fortsetzen und somit ihre grundlegende Elternpflicht verletzen, nämlich das Kind zu schützen, und zwar auch vor den Folgen ihres eigenen Zerwürfnisses.

93.      Es ist aber festzustellen, dass dieser Kummer wohl nicht den oben genannten Kriterien entspricht, die es rechtfertigen, dass ein nicht für die Hauptsache zuständiges Gericht eingreift, zumal um eine Maßnahme anzuordnen, die die vom zuständigen Gericht in der Hauptsache getroffene Maßnahme umstößt, um sie zu ersetzen.

94.      Die von mir vorgeschlagene Auslegung mag besonders restriktiv erscheinen. Ich halte dies für unumgänglich, nicht nur deshalb, weil Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Ausnahme von den Zuständigkeitsvorschriften dieser Verordnung ist und Ausnahmen herkömmlicherweise eng auszulegen sind, sondern auch, weil eine solche Auslegung notwendig ist, damit diese Verordnung ihre praktische Wirksamkeit entfalten kann.

95.      In einer konkreten Situation wie der des Ausgangsverfahrens, die genau dem entspricht, was die genannte Verordnung verhindern wollte, können die Ausnahmen nicht anders als eng ausgelegt werden, und sie dürfen keinesfalls die Hintertür für die Rückkehr der früheren Praktiken sein. Es geht nämlich um das allgemeine Wohl aller Kinder, deren Eltern nicht dieselbe Staatsangehörigkeit besitzen und die versucht sein könnten, so vorzugehen, wenn ihnen die Rechtsprechung durch eine zu weite Auslegung solcher Ausnahmen einen Ansatzpunkt dafür böte.

96.      Im Übrigen können die ergriffenen Maßnahmen nach Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur vorläufig und der Entscheidung in der Hauptsache untergeordnet sein.

97.      In dem dem Gerichtshof vorgelegten Fall ist die Situation eine völlig andere. Weit davon entfernt, zur Unterstützung des in der Hauptsache zuständigen Gerichts einzugreifen, hat sich das Okrožno sodišče v Mariboru diesem tatsächlich geradezu entgegengestellt und eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen, die die Entscheidung des zuständigen Gerichts umkehrt und diese ersetzen soll.

98.      Folglich liegen die notwendigen Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 in der vorliegenden Rechtssache nicht vor. Somit ist festzustellen, dass das von Frau Detiček angerufene erstinstanzliche Gericht nicht zuständig ist, über ihren Antrag zu entscheiden, und dass es jedenfalls die getroffenen Entscheidungen nicht erlassen durfte.

99.      Würde man zulassen, dass das slowenische Gericht seinerseits eine einstweilige Maßnahme erlässt, die denselben Gegenstand und dieselbe Sache betrifft wie die Maßnahme des für die Hauptsache zuständigen Gerichts, liefe dies nach meiner Auffassung tatsächlich darauf hinaus, dass die vom für die Hauptsache zuständigen Gericht erlassene Maßnahme nicht anerkannt wird und dass die von der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgestellten Regeln über die Zuständigkeit, die Anerkennung und die Vollstreckung umgangen werden.

100. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, der auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unter Mitgliedstaaten basiert, würde schwer erschüttert, und das mit dieser Verordnung eingeführte System würde folglich in Frage gestellt.

101. Wie dargelegt beruht nämlich das Bestreben, einen gemeinsamen Rechtsraum zu schaffen, auf diesen beiden Grundsätzen. Würde zugelassen, dass das Gericht eines anderen Mitgliedstaats in Bezug auf ein Kind eine Entscheidung erlassen kann, obwohl das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Hauptsache zuständig ist, über die Sache bereits entschieden hat, hätte dies zur Folge, dass das gegenseitige Vertrauen, das zwischen den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten bestehen muss, zerstört wird.

102. Da es sich im Übrigen um den Fall eines widerrechtlichen Verbringens eines Kindes handelt, der gegen die Verordnung Nr. 2201/2003 und das Haager Übereinkommen von 1980 verstößt, bin ich der Ansicht, dass es darauf hinausliefe, einen offensichtlichen Rechtsverstoß zu legalisieren, würde man das Vorgehen von Frau Detiček akzeptieren und die vom slowenischen Gericht angeordnete einstweilige Maßnahme als rechtswirksam ansehen. Die mit diesen beiden Instrumenten beabsichtigte abschreckende Wirkung auf Kindesentführungen durch die Eltern würde dadurch zunichtegemacht.

103. Muss nun aber außer Acht bleiben, dass sich die Lage mit dem widerrechtlichen Verbringen von Antonella verändert hat?

104. Dieser Meinung bin ich nicht. Die Veränderung ist zu berücksichtigen, weil es sich um eine Tatsache handelt, für die das Kind nicht verantwortlich ist, und weil sein Wohl es gebietet, sie zu prüfen und zu beurteilen. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau(28), ausgeführt hat, beruht die Verordnung Nr. 2201/2003 auf der Leitidee, dass dem Kindeswohl der Vorrang gebührt(29). Im 33. Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt es im Übrigen, dass diese Verordnung „insbesondere darauf ab[zielt], die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der Grundrechtscharta der Europäischen Union zu gewährleisten[(30)]“.

105. Ich bin jedoch der Meinung, dass dies unter Beachtung der Verordnung Nr. 2201/2003 zu geschehen hat und mittels der Verfahren, die sie vorsieht.

106. Meines Erachtens sind die Bestimmungen dieser Verordnung so zu verstehen, dass die Umstände, die das Kindeswohl betreffen und die daher für das italienische Gericht Anlass sein können, seine Entscheidung zu überprüfen, ja sogar gemäß Art. 15 der genannten Verordnung seine Zuständigkeit zu übertragen, vor dem Gericht geltend gemacht und vorgetragen werden müssen, bei dem Herr Sgueglia Klage auf Vollstreckung der Entscheidung des Tribunale ordinario di Tivoli vom 25. Juli 2007 erhoben hat.

107. Meines Erachtens ist diese Vollstreckungsklage in Wahrheit eine Klage auf Rückgabe, bei der die Schutzbestimmungen von Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 anzuwenden sind.

108. Da sie nämlich kein anderes Ziel verfolgt, als mit der Vollstreckung der Entscheidung vom 25. Juli 2007, die vom Vrhovno sodišče für vollstreckbar erklärt worden ist, die Rückgabe des Kindes zu erwirken, ist sie nach ihrem wahren Charakter einzuordnen, da nur dadurch derselbe Schutz gewährleistet werden kann, unabhängig davon, welches Verfahren gewählt worden ist. Diese Auslegung scheint mir daher durch das Kindeswohl selbst geboten zu sein.

109. Die verschiedenen Verfahren, die nach Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 den betreffenden Gerichten zur Verfügung stehen, sind somit im Rahmen und im Geist des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu sehen. Daraus folgt, dass kein Wettbewerb, sondern ein Dialog geschaffen wird, wie er zwischen den Gerichten eines auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden Rechtsraums selbstverständlich sein muss und bei dem ausschließlich die für das Kindeswohl am besten geeignete Lösung erwogen und gesucht wird.

110. Darin liegt im Übrigen der Sinn der Verordnung. Sie führt nämlich in Verbindung mit dem Haager Übereinkommen von 1980 für den Fall widerrechtlichen Verbringens eines Kindes ein spezielles Verfahren der Zusammenarbeit zwischen den betreffenden Gerichten ein, das die sofortige Rückkehr des Kindes in den Staat ermöglichen soll, in dessen Hoheitsgebiet es unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und bestimmt dabei ein Maximum an Vorkehrungen, die die Gerichte zu seinem Wohl treffen müssen(31).

111. Entscheidet das Okrajno sodišče v Slovenski Bistrici somit in dem dem Gerichtshof vorliegenden Fall, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, muss es nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2201/2003 unverzüglich eine Abschrift dieser Entscheidung und die entsprechenden Unterlagen dem italienischen Gericht übermitteln, das sie bei seiner endgültigen Entscheidung berücksichtigen muss.

112. Sollte dieses Gericht dennoch die Rückgabe des Kindes anordnen, wäre seine Entscheidung, wie ich in Nr. 30 der vorliegenden Stellungnahme ausgeführt habe, unmittelbar vollstreckbar.

113. Dieses Gericht muss dann nach Art. 42 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 dem Gericht, das die Rückgabe abgelehnt hat, eine Bescheinigung ausstellen, aus der sich ergibt, dass das Kind gehört wurde, es sei denn, sein Alter oder sein Reifegrad erlaubten dies nicht, dass auch die Parteien gehört wurden und dass es beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, zugrunde lagen.

114. Somit wird die Änderung der Umstände, mit der Frau Detiček ihren Antrag begründet, im Rahmen dieser Zusammenarbeit berücksichtigt.

115. Bei dieser Sichtweise wäre es undenkbar, dass die endgültige Entscheidung der Richter, mit der über das Schicksal eines Kindes entschieden wird, durch einen nationalen Reflex bestimmt wird.

116. Das Wesen des Richteramts selbst, d. h. die Pflicht, die sich für den Träger dieses Amtes daraus ergibt, gebietet es nämlich dem Richter der Hauptsache, die zum Zeitpunkt der Entscheidung gegebenen Umstände der Sache zu berücksichtigen, um unter Ausschluss jeder anderen Erwägung zu bestimmen, welches die beste Lösung ist, um das Interesse des Kindes zu wahren, nämlich ihm Stabilität in der bestmöglichen Umgebung, einschließlich normaler und beruhigter Beziehungen zu beiden Elternteilen, zu gewährleisten.

117. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Hauptsache zuständig ist, eine Maßnahme angeordnet hat, mit der das Sorgerecht für ein Kind vorläufig einem Elternteil übertragen wird, einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats nicht erlaubt, nach der Entscheidung des ersten Mitgliedstaats das Sorgerecht dem anderen Elternteil zu übertragen.

IV – Ergebnis

118. Unter diesen Umständen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Višje sodišče v Mariboru wie folgt zu antworten:

Art. 20 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass er, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Hauptsache zuständig ist, eine Maßnahme angeordnet hat, mit der das Sorgerecht für ein Kind vorläufig einem Elternteil übertragen wird, einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats nicht erlaubt, nach der Entscheidung des ersten Mitgliedstaats das Sorgerecht dem anderen Elternteil zu übertragen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 338, S. 1.


3 – Im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980.


4 – Vgl. Art. 1 dieses Übereinkommens.


5 – Vgl. fünfter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003.


6 – Vgl. Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003: „Kann der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden und kann die Zuständigkeit nicht gemäß Artikel 12 bestimmt werden, so sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem sich das Kind befindet.“


7 – Art. 9 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003.


8 – Vgl. Art. 12 Abs. 2 Buchst. a und b dieser Verordnung.


9 – Vgl. Art. 14 dieser Verordnung.


10 – Nach Art. 15 Abs. 3 dieser Verordnung hat das Kind eine besondere Bindung zu dem Mitgliedstaat, wenn z. B. nach Anrufung des für die Hauptsache zuständigen Gerichts das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder wenn wenigstens ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem fraglichen Mitgliedstaat hat.


11 – Vgl. Art. 60 Buchst. e dieser Verordnung.


12 – Nach Art. 2 Nr. 5 dieser Verordnung ist Ursprungsmitgliedstaat der Mitgliedstaat, in dem die zu vollstreckende Entscheidung ergangen ist.


13 – Vgl. Art. 33 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003.


14 – Vgl. Art. 54 der Verordnung Nr. 2201/2003.


15 – In geänderter Fassung (Uradni list RS, št [ABl. der Republik Slowenien, Nr.] 26/99).


16 – Uradni list RS, št 51/98.


17 – Uradni list RS, št 69/04.


18 – Vgl. 21. Erwägungsgrund dieser Verordnung.


19– Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003.


20 – Vgl. Urteil vom 2. April 2009, A (C‑523/07, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 48).


21 – Vgl. Art. 8 dieser Verordnung.


22 – Vgl. Art. 10 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003.


23 – Vgl. Art. 10 Buchst. b Ziff. iv dieser Verordnung.


24 – Vgl. Art. 10 Buchst. b Ziff. i und ii dieser Verordnung.


25 – Randnr. 47.


26 – Randnr. 48.


27 – Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II (Aktualisierte Fassung vom 1. Juni 2005).


28 – C‑195/08 PPU (Slg. 2008, I‑5271).


29 – Randnr. 51.


30 – Diese Bestimmung sieht vor:


„(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.


(2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.


(3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“


31 – Vgl. 17. Erwägungsgrund der Verordnung sowie Präambel des Übereinkommens.