Language of document : ECLI:EU:C:2024:337

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

18. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Beamte der Europäischen Union – Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Zwingender Anschluss an das System der sozialen Sicherheit der Organe der Union – Eine nebenberufliche Tätigkeit als Selbständiger ausübender Unionsbeamter – Beitragspflicht zur Sozialversicherung nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem diese Tätigkeit ausgeübt wird“

In der Rechtssache C‑195/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 13. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2023, in dem Verfahren

GI

gegen

Partena, Assurances Sociales pour Travailleurs Indépendants ASBL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter), des Richters J. Passer und der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von GI, vertreten durch J.‑F. Neven, Avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, C. Pochet und A. Van Baelen als Bevollmächtigte im Beistand von S. Rodrigues und A. Tymen, Avocats,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch T. S. Bohr und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (im Folgenden: Protokoll) und Art. 4 Abs. 3 EUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen GI, einem Beamten der Europäischen Kommission, und der Partena, Assurances sociales pour travailleurs indépendants ASBL (im Folgenden: Partena), einer Vereinigung ohne Erwerbszweck, über die Versicherungspflicht von GI beim belgischen Sozialversicherungssystem für Selbstständige wegen einer nebenberuflichen Tätigkeit.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Protokoll

3        Art. 12 des Protokolls lautet:

„Von den Gehältern, Löhnen und anderen Bezügen, welche die [Europäische] Union ihren Beamten und sonstigen Bediensteten zahlt, wird zugunsten der Union eine Steuer gemäß den Bestimmungen und dem Verfahren erhoben, die vom Europäischen Parlament und vom Rat [der Europäischen Union] durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung der betroffenen Organe festgelegt werden.

Die Beamten und sonstigen Bediensteten sind von innerstaatlichen Steuern auf die von der Union gezahlten Gehälter, Löhne und Bezüge befreit.“

4        In Art. 14 des Protokolls heißt es:

„Das … Parlament und der Rat legen durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung der betroffenen Organe das System der Sozialleistungen für die Beamten und sonstigen Bediensteten der Union fest.“

 Statut

5        Art. 12b Abs. 1 des Statuts der Beamten der Europäischen Union in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Statut) bestimmt:

„Will der Beamte eine Nebentätigkeit gegen Entgelt oder ohne Entgelt ausüben oder einen Auftrag außerhalb der Union übernehmen, so muss er hierfür vorbehaltlich des Artikels 15 die vorherige Zustimmung der Anstellungsbehörde einholen. Diese Zustimmung wird nur dann verweigert, wenn die Tätigkeit oder der Auftrag die Leistungsfähigkeit des Beamten beeinträchtigen kann oder mit den Interessen des Organs nicht vereinbar ist.“

6        Art. 72 des Statuts sieht vor:

„(1)      In Krankheitsfällen wird dem Beamten … nach einer von den Anstellungsbehörden der Organe der Union im gegenseitigen Einvernehmen nach Stellungnahme des Statutsbeirats beschlossenen Regelung Ersatz der Aufwendungen bis zu 80 v. H. gewährleistet. …

Der zur Sicherstellung dieser Krankheitsfürsorge erforderliche Betrag wird zu einem Drittel von dem Berechtigten getragen; dieser Beitrag darf jedoch 2 v. H. seines Grundgehalts nicht überschreiten.

…“

7        Art. 73 Abs. 1 des Statuts lautet:

„Der Beamte wird vom Tage seines Dienstantritts an gemäß einer von den … [Organen] der Union im gegenseitigen Einvernehmen nach Stellungnahme des Statutsbeirats beschlossenen Regelung für den Fall von Berufskrankheiten und Unfällen gesichert. Für die Sicherung bei Krankheit und Unfällen außerhalb des Dienstes hat er bis zu 0,1 v. H. seines Grundgehalts als Beitrag zu leisten.

…“

 Gemeinsame Regelung

8        Zur Festlegung der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 72 des Statuts haben die Organe der Union eine Gemeinsame Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Gemeinsame Regelung) erlassen.

9        Art. 1 dieser Regelung bestimmt, dass gemäß Art. 72 des Statuts ein gemeinsames Krankheitsfürsorgesystem für die Organe der Europäischen Union (GKFS) geschaffen wird.

10      Art. 2 dieser Regelung bestimmt:

„(1)      Dem Krankheitsfürsorgesystem angeschlossen sind:

–      die Beamten,

–      die Bediensteten auf Zeit,

…“

11      Art. 4 der Gemeinsamen Regelung lautet:

„Werden Beamte, Bedienstete auf Zeit oder Vertragsbedienstete in einem Land beschäftigt, in dem sie auf Grund der Rechtsvorschriften dieses Landes Pflichtmitglied einer Krankenversicherung sind, so werden die dafür zu entrichtenden Beiträge von dem Organ, dem sie angehören, in voller Höhe aus Haushaltsmitteln gezahlt. In diesem Fall findet Artikel 22 Anwendung.“

12      Art. 22 der Gemeinsamen Regelung bestimmt:

„(1)      Hat eine angeschlossene Person oder eine durch sie mit angeschlossene Person Anspruch auf Kostenerstattung durch eine andere gesetzliche Krankenversicherung, so hat die angeschlossene Person

a)      dies der Abrechnungsstelle anzugeben,

b)      zunächst die Erstattung bei der anderen Krankenversicherung zu beantragen oder beantragen zu lassen.

Besteht eine Verpflichtung zur Mitgliedschaft bei zwei Versicherungsträgern, so können die dem vorliegenden Krankheitsfürsorgesystem angeschlossenen Personen wählen, bei welchem Versicherungsträger sie die Kostenerstattung beantragen; dabei wird das Gemeinsame Krankheitsfürsorgesystem in den Fällen, in denen es nicht als primärer Versicherungsträger handelt, als ergänzende Versicherung tätig;

c)      jedem bei dem vorliegenden Krankheitsfürsorgesystem eingereichten Erstattungsantrag eine Aufstellung der einzelnen Erstattungen beizufügen, die sie selbst oder die durch sie mit angeschlossene Person von der anderen Krankenversicherung erhalten hat; einzureichen sind das Originalexemplar der Aufstellung und die entsprechenden Belege.

(2)      Das Gemeinsame Krankheitsfürsorgesystem wird bei der Kostenerstattung als ergänzende Versicherung tätig, sofern der andere Versicherungsträger zuvor die von ihm abgedeckten Leistungen erstattet hat.

Bei nicht von der Primärversicherung, aber von dem Gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystem abgedeckten Leistungen ist Letztere[s] der primäre Versicherungsträger.

…“

 Verordnung Nr. 883/2004

13      Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1), bestimmt:

„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“

14      Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.“

 Belgisches Recht

15      Art. 2 des Arrêté royal no 38, du 27 juillet 1967, organisant le statut social des travailleurs indépendants (Königlicher Erlass Nr. 38 vom 27. Juli 1967 zur Einführung des Sozialstatuts der Selbständigen) (Moniteur belge vom 29. Juli 1967, S. 8071), in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„Diesem Erlass unterliegen und haben daher den sich aus ihm ergebenden Verpflichtungen nachzukommen: Selbständige und Gehilfen.“

16      In Art. 3 Abs. 1 dieses Erlasses heißt es:

„Für diesen Erlass gilt als Selbständiger jede natürliche Person, die in Belgien eine Berufstätigkeit ausübt, bei der sie nicht durch einen Arbeitsvertrag oder durch ein Statut gebunden ist.

Bei jeder Person, die in Belgien eine Berufstätigkeit ausübt, die Einkünfte … ergeben kann, wird bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgegangen, dass sie die im vorigen Absatz erwähnten Bedingungen der Anwendbarkeit erfüllt.“

17      Art. 10 Abs. 1 des Erlasses bestimmt:

„… [J]eder, der diesem Erlass unterliegt, ist verpflichtet, vor Aufnahme seiner selbständigen Erwerbstätigkeit einer der Sozialversicherungskassen für Selbständige beizutreten …“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

18      Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der seit dem 1. September 2007 Unionsbeamter ist, trat im August 2010 in den Dienst der Kommission.

19      Seit Oktober 2015 übt er nebenher eine entgeltliche Lehrtätigkeit im Umfang von maximal 20 Unterrichtsstunden pro Jahr aus, wofür er, wie im Statut vorgesehen, die erforderliche Genehmigung der Kommission erhalten hat.

20      Mit Schreiben vom 4. Juli 2018 teilte das Institut national d’assurances sociales pour travailleurs indépendants (Landesinstitut der Sozialversicherungen für Selbständige, Belgien), das für die Überprüfung der Mitgliedschaft von Selbständigen in einer Sozialversicherungskasse zuständig ist, dem Kläger des Ausgangsverfahrens mit, dass er einer Sozialversicherungskasse beitreten müsse, da er seit dem 1. Oktober 2015 eine selbständige Erwerbstätigkeit als Lehrbeauftragter ausübe.

21      Daraufhin schloss er sich Partena an und entrichtete die geforderten Sozialbeiträge in Höhe von 3 242,09 Euro.

22      Da er jedoch der Ansicht war, dass seine Versicherungspflicht beim belgischen Sozialversicherungssystem für Selbständige gegen den Grundsatz verstoße, wonach für die Beamten der Organe der Union nur ein System der sozialen Sicherheit gelte, erhob er beim Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht Brüssel, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen Partena auf Ausscheiden aus der Versicherungspflicht und Erstattung der entrichteten Sozialversicherungsbeiträge.

23      Unter diesen Umständen hat das Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen das Protokoll, insbesondere sein Art. 14, der Grundsatz der Einheitlichkeit des Systems der sozialen Sicherheit, der für erwerbstätige oder im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer oder Selbständige gilt, und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt, dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat einem Beamten, der ergänzend zu seiner Tätigkeit im Dienst eines Organs der Europäischen Union mit dessen Genehmigung eine nebenberufliche Lehrtätigkeit ausübt, eine Versicherungspflicht nach einem nationalen System der sozialen Sicherheit auferlegt und die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen verlangt, obwohl dieser Beamte bereits nach dem Statut dem System der sozialen Sicherheit der Organe der Europäischen Union unterliegt?

 Zur Vorlagefrage

24      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 des Protokolls, der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Systems der sozialen Sicherheit, wie er in der Verordnung Nr. 883/2004 festgelegt ist, und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach denen ein Unionsbeamter, der eine nebenberufliche Lehrtätigkeit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausübt, an dessen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein muss.

25      Es ist darauf hinzuweisen, dass in Bezug auf den Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Systems der sozialen Sicherheit, wie er in Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 festgelegt ist, durch diese Verordnung eine Koordinierungsregelung geschaffen wurde, die sich u. a. mit der Bestimmung der Rechtsvorschriften befasst, die auf Arbeitnehmer und Selbständige anzuwenden sind, die unter verschiedenen Umständen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen. Diese Regelung bildet ein geschlossenes System von Kollisionsnormen, das den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten die Befugnis nimmt, den Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf nach ihrem Belieben zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet die nationalen Bestimmungen ihre Wirkung entfalten. So bestimmt Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 29 und 30).

26      Mit diesem Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Systems der sozialen Sicherheit sollen die Komplikationen, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ergeben können, vermieden und die Ungleichbehandlungen ausgeschlossen werden, die aus einer teilweisen oder vollständigen Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften für Personen folgen würden, die innerhalb der Union zu- und abwandern (Urteil vom 26. Februar 2015, de Ruyter, C‑623/13, EU:C:2015:123, Rn. 37).

27      Dieser Grundsatz findet jedoch keine Anwendung auf die Unionsbeamten, da sie nicht nationalen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 unterliegen, in dem deren persönlicher Geltungsbereich definiert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Die Festlegung der für die Unionsbeamten geltenden Vorschriften, was ihre Verpflichtungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit betrifft, fällt – unter Ausschluss der Mitgliedstaaten – in die alleinige Zuständigkeit der Union. Das System der sozialen Sicherheit der Organe der Union wurde nach Art. 14 des Protokolls vom Parlament und vom Rat durch die Verordnung über das Statut festgelegt (Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Zum einen bringt es Art. 14 des Protokolls mit sich, dass die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, Unionsbeamte zwingend einem innerstaatlichen System der sozialen Sicherheit anzuschließen und sie zu verpflichten, Beiträge zur Finanzierung eines solchen Systems zu entrichten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Im Übrigen hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 14 des Protokolls und die Bestimmungen des Statuts im Bereich der sozialen Sicherheit gegenüber den Unionsbeamten eine Funktion erfüllen, die der von Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 entspricht und darin besteht, die Verpflichtung dieser Beamten zur Einzahlung von Beiträgen in verschiedene Systeme der sozialen Sicherheit zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, de Lobkowicz, C‑690/15, EU:C:2017:355, Rn. 45).

31      Daraus folgt, dass allein der Unionsgesetzgeber dafür zuständig ist, den Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen der Bestimmungen der sozialen Sicherheit im Hinblick darauf nach seinem Belieben zu bestimmen, welche Wirkungen diese Bestimmungen entfalten und welche Personen ihnen unterliegen.

32      Zum anderen ist das Statut, das alle Merkmale gemäß Art. 288 AEUV aufweist, in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat, so dass auch die Mitgliedstaaten zur Beachtung seiner Bestimmungen verpflichtet sind (Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      In diesem Zusammenhang geht aus Art. 72 Abs. 1 und Art. 73 des Statuts hervor, dass Beamte und Bedienstete auf Zeit im Dienst eines Organs der Union vom Tag ihres Dienstantritts an in Krankheitsfällen gesichert sind.

34      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens seit dem 1. September 2007 Unionsbeamter ist und seit August 2010 im Dienst der Kommission steht. Aufgrund seines Beschäftigungsverhältnisses mit der Kommission unterliegt er somit dem System der sozialen Sicherheit der Unionsorgane nach Art. 72 Abs. 1 des Statuts, auch wenn er eine von der Kommission nach Art. 12b Abs. 1 des Statuts genehmigte nebenberufliche Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausübt.

35      Daher verstößt die Regelung eines Mitgliedstaats, nach der ein Unionsbeamter, der eine nebenberufliche Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausübt, an dessen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein muss, gegen die der Union sowohl gemäß Art. 14 des Protokolls als auch gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Statuts zugewiesene ausschließliche Zuständigkeit für die Festlegung der Vorschriften, die für die Unionsbeamten bezüglich ihrer Verpflichtungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit gelten.

36      Zwar sind die Mitgliedstaaten weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig, doch müssen sie bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht einschließlich der Bestimmungen des Protokolls und des Statuts über die Regelungen der sozialen Sicherheit beachten, die die Rechtsstellung der Unionsbeamten betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Im Übrigen verstieße eine nationale Regelung wie die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannte gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wonach sich die Union und die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig achten und unterstützen.

38      Eine solche Regelung brächte nämlich die Gefahr mit sich, dass die Gleichbehandlung unter den Unionsbeamten beseitigt würde und es folglich unattraktiv wäre, für ein Organ der Union beruflich tätig zu sein, da bestimmte Beamte gezwungen wären, Beiträge nicht nur an das System der sozialen Sicherheit der Organe der Union, sondern auch an ein entsprechendes nationales System abzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, de Lobkowicz, C‑690/15, EU:C:2017:355, Rn. 47).

39      Schließlich ist davon auszugehen, dass diese Auslegung durch keines der vom Königreich Belgien und der Tschechischen Republik in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebrachten Argumente in Frage gestellt wird.

40      Was zum einen das Argument betrifft, dass Vergütungen, die nicht von der Union gezahlt würden, mit dieser nichts zu tun hätten und daher von dem zuständigen Mitgliedstaat zu besteuern und dort sozialversicherungspflichtig seien, ist darauf hinzuweisen, dass bei den Unionsbeamten klar zwischen ihren Verpflichtungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und ihren fiskalischen Verpflichtungen zu trennen ist, da sie gemäß Art. 12 des Protokolls nur in Bezug auf die von der Union gezahlten Gehälter, Löhne und Bezüge von innerstaatlichen Steuern befreit sind. Daher unterliegen zwar diese Gehälter, Löhne und Bezüge hinsichtlich ihrer etwaigen Besteuerbarkeit ausschließlich dem Unionsrecht, die übrigen Einkünfte der Unionsbeamten bleiben jedoch der Besteuerung durch die Mitgliedstaaten unterworfen. Was hingegen die Verpflichtungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit betrifft, ist der Unionsbeamte ausschließlich dem System der sozialen Sicherheit der Organe der Union angeschlossen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 48).

41      Unter die ausschließliche Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers für die Festlegung des Systems der Sozialversicherungsbeiträge der Unionsbeamten fallen nämlich die Sozialversicherungsbeiträge, die ein Mitgliedstaat auf jede Art von Einkommen und damit auch auf ein Einkommen erhebt, mit dem eine vom Arbeitgeber genehmigte Nebentätigkeit vergütet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, de Lobkowicz, C‑690/15, EU:C:2017:355, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Was zum anderen das Argument betrifft, die Systeme der sozialen Sicherheit aller Mitgliedstaaten beruhten auf Solidarität, da die Beiträge niemals proportional zu den Leistungen und auch nicht dadurch bedingt seien, dass Leistungen in Anspruch genommen würden, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass es, wenn es darum geht, ob die in Rede stehenden Beiträge zum System der sozialen Sicherheit gehören, unerheblich ist, ob Gegenleistungen erbracht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Acerta u. a., C‑415/22, EU:C:2023:881, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 14 des Protokolls, der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Systems der sozialen Sicherheit, wie er in der Verordnung Nr. 883/2004 festgelegt ist, und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach denen ein Unionsbeamter, der eine nebenberufliche Lehrtätigkeit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausübt, an dessen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein muss.

 Kosten

44      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 14 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union, der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Systems der sozialen Sicherheit, wie er in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit festgelegt ist, und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist,

sind dahin auszulegen, dass

sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach denen ein Beamter der Europäischen Union, der eine nebenberufliche Lehrtätigkeit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausübt, an dessen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein muss.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.