Language of document : ECLI:EU:C:2012:331

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 7. Juni 2012(1)

Rechtssache C‑451/11

Natthaya Dülger

gegen

Wetteraukreis

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Gießen [Deutschland])

„Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats – Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers – Thailändische Staatsangehörige, die mindestens fünf Jahre mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengewohnt hat – Vor der Scheidung vom türkischen Arbeitnehmer erworbene Rechte“





1.        Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, die Tragweite des Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats(2) vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zu präzisieren(3). Nach dieser Bestimmung hat ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der die Genehmigung erhalten hat, zu diesem Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu ziehen, das Recht, sich auf jedes Stellenangebot in diesem Gebiet zu bewerben, wenn er dort seit mindestens drei Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz hat, und freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn er dort seit mindestens fünf Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz hat.

2.        Insbesondere hat der Gerichtshof zu entscheiden, ob ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, als ein Familienmitglied des türkischen Arbeitnehmers im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden und sich somit auf die von ihr verliehenen Rechte berufen kann.

3.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe darlegen, warum meines Erachtens Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und mindestens fünf Jahre mit seinem türkischen Ehepartner und Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, zusammengewohnt hat, als „Familienmitglied“ eines türkischen Arbeitnehmers angesehen werden kann.

4.        Des Weiteren werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass ein solcher Staatsangehöriger, dem in seiner Eigenschaft als Familienmitglied eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus dieser Bestimmung zustehen, diese Rechte wegen seiner Scheidung von diesem türkischen Arbeitnehmer, die nach dem Erwerb dieser Rechte ausgesprochen wird, nicht verliert.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Das Assoziierungsabkommen

5.        Zur Regelung der Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer auf dem Gebiet der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde am 12. September 1963 zwischen dieser und der Republik Türkei ein Assoziierungsabkommen geschlossen. Ziel dieses Abkommens ist, „eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden“(4).

6.        Die mit diesem Abkommen angestrebte schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer ist nach den vom Assoziationsrat beschlossenen Modalitäten zu vollziehen, dessen Aufgabe es ist, die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen(5).

2.      Das Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen

7.        Das Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen(6) legt die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Übergangsphase der Assoziierung fest. In seinem Titel II enthält es mehrere Artikel über die Freizügigkeit der Personen und der Dienstleistungen.

8.        In Art. 59 sieht es vor, dass „[i]n den von diesem Protokoll erfassten Bereichen … der Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden [darf] als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander auf Grund des Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft einräumen“.

3.      Der Beschluss Nr. 1/80

9.        Der Assoziationsrat fasste demgemäß den Beschluss Nr. 1/80, der insbesondere bezweckt, die Rechtsstellung der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen im Vergleich zu der Regelung des Beschlusses Nr. 2/76 des Assoziationsrates vom 20. Dezember 1976 über die Durchführung von Art. 12 des Assoziierungsabkommens zu verbessern. Der letztgenannte Beschluss sah zugunsten der türkischen Arbeitnehmer ein schrittweise erweitertes Recht auf Zugang zur Beschäftigung im Aufnahmemitgliedstaat sowie zugunsten der Kinder dieser Arbeitnehmer das Recht auf Zugang zum Schulunterricht in diesem Staat vor.

10.      Die auf die Rechte der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers anwendbaren Bestimmungen befinden sich in Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80. Dieser lautet wie folgt:

„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,

–        haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;

–        haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.“

B –    Nationales Recht

11.      § 4 Abs. 5 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004(7) sieht vor, dass ein Ausländer, dem nach dem Assoziierungsabkommen EWG–Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, verpflichtet ist, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.

II – Sachverhalt und Vorlagefrage

12.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Dülger, ist eine thailändische Staatsangehörige, die am 26. Juli 1973 in Bure Ram (Thailand) geboren wurde. Sie reiste im Besitz eines Touristenvisums am 30. Juni 2002 nach Deutschland ein.

13.      Am 12. September 2002 heiratete sie in Dänemark Herrn Dülger, einen am 1. Dezember 1960 in der Türkei geborenen türkischen Staatsangehörigen. Dieser ist seit 1988 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Er war vom 1. Oktober 2002 bis 30. Juni 2004, 1. August 2004 bis 8. Juni 2005, 1. März 2006 bis 15. März 2008 und vom 1. Juni 2008 bis 31. Dezember 2009 bei unterschiedlichen Arbeitgebern beschäftigt. Es steht diesbezüglich fest, dass Herr Dülger im entscheidungserheblichen Zeitraum ein dem regulären Arbeitsmarkt angehörender türkischer Staatsangehöriger im Sinne des Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 war(8).

14.      Am 18. September 2002 beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens bei den deutschen Behörden die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und gab dabei an, verheiratet zu sein und zwei 1996 und 1998 geborene, in Thailand lebende Kinder zu haben. Sie erhielt zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit ihrem Ehemann eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Diese Erlaubnis wurde in der Folgezeit jeweils verlängert, zuletzt am 10. September 2008 bis zum 26. Juni 2011. Seit dem 21. Juni 2011 ist die Klägerin im Besitz einer Fiktionsbescheinigung.

15.      Das Verwaltungsgericht Gießen (Deutschland) führt aus, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens seit ihrer Heirat im September 2002 bis zu ihrer Trennung im Juni 2009 ununterbrochen mit Herrn Dülger zusammengelebt hat.

16.      Am 3. Juni 2009 trennte sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens von ihrem Ehemann und zog mit ihren beiden Töchtern, die am 1. Juli 2006 nach Deutschland eingereist waren, in ein Frauenhaus nach Friedberg (Deutschland). Sie bezieht seitdem Sozialleistungen für sich und ihre Kinder. Die Ehe mit ihrem Ehemann wurde am 3. Februar 2011 rechtskräftig geschieden.

17.      Mit Schreiben vom 9. September 2009 wies die Ausländerbehörde des Wetteraukreises die Klägerin des Ausgangsverfahrens darauf hin, dass sie nach der Trennung von ihrem Ehemann ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erworben habe, dieses aber nur ein Jahr unabhängig von der eigenständigen Sicherstellung des Lebensunterhalts bestehe. Sollte sie ab dem 4. Juni 2010 noch immer auf öffentliche Mittel angewiesen sein, müsste ihre Aufenthaltserlaubnis wie die ihrer Kinder nachträglich zeitlich beschränkt und sie zur Ausreise aufgefordert werden. Nur wenn sie und ihre Kinder bis dahin frei von öffentlichen Mitteln leben könnten, könne ihr Aufenthaltsrecht erhalten bleiben.

18.      Am 18. September 2009 beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim Wetteraukreis die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet, da sie die Rechte aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben habe. Sie sei nämlich Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, mit dem sie mindestens drei Jahre einen ordnungsgemäßen Wohnsitz gehabt habe, denn es komme nicht darauf an, dass auch der Familienangehörige die türkische Staatsangehörigkeit besitze.

19.      Mit Verfügung vom 15. März 2010 lehnte der Wetteraukreis den Antrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens ab. Diese habe keine Rechte aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben, weil sich nur türkische Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers auf diese Bestimmung berufen könnten. Überdies habe ihr türkischer Ehemann nicht den Nachweis erbracht, dem regulären Arbeitsmarkt anzugehören, da er im Zeitraum ihres Zusammenlebens nur kurze Beschäftigungszeiten aufzuweisen habe.

20.      Hiergegen hat die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht Klage erhoben. Dieses hat Zweifel bezüglich der Auslegung des Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80. Das Verwaltungsgericht Gießen hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Kann sich eine thailändische Staatsangehörige, die mit einem dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmer verheiratet war und nach Erhalt der Genehmigung, zu ihm zu ziehen, mehr als drei Jahre ununterbrochen mit ihm zusammengewohnt hat, auf die sich aus Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ergebenden Rechte mit der Folge berufen, dass ihr wegen der unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung ein Aufenthaltsrecht zusteht?

III – Würdigung

21.      Vorab ist festzustellen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens unbestritten mit dem türkischen Arbeitnehmer seit ihrer Heirat im September 2002 bis zu ihrer Trennung am 3. Juni 2009 ununterbrochen zusammengelebt hat(9). Die Situation der Klägerin könnte daher unter Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 fallen und nicht unter Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich dieses Beschlusses, da sie seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats hatte.

22.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, stellt sich daher die Frage, ob Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und mindestens fünf Jahre mit seinem Ehepartner, einem dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmer, zusammengewohnt hat, als „Familienangehöriger“ eines türkischen Arbeitnehmers angesehen werden kann. Sollte dies bejaht werden, stellt sich die weitere Frage, ob ein solcher Staatsangehöriger die Rechte aus dieser Bestimmung wegen seiner Scheidung von diesem türkischen Arbeitnehmer, die nach dem Erwerb dieser Rechte ausgesprochen wird, verliert.

A –    Zum Begriff Familienmitglied

23.      Der Gerichtshof hatte den Begriff „Familienmitglied“ eines türkischen Arbeitnehmers im Sinne des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 bereits auszulegen. Er entschied insbesondere, dass das Kind eines türkischen Arbeitnehmers diese Eigenschaft auch nach dem Erreichen der Volljährigkeit behält, und zwar auch, wenn es im Aufnahmestaat selbständig lebt(10). Ebenso war der Gerichtshof der Ansicht, dass die Einordnung als „Familienangehöriger“ eines türkischen Arbeitnehmers nicht auf Blutsverwandte beschränkt ist. Der noch nicht 21 Jahre alte oder Unterhalt beziehende Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, ist nämlich ein Familienangehöriger dieses Arbeitnehmers(11).

24.      Hingegen hat der Gerichtshof zum ersten Mal die Frage zu beantworten, ob ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, als „Familienangehöriger“ eines türkischen Arbeitnehmers im Sinne des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 angesehen werden kann und somit die Rechte aus dieser Vorschrift hat. In dieser Hinsicht erscheint mir die Tatsache, dass der Gerichtshof, wie das vorlegende Gericht ausführt, in mehreren seiner Urteile in diese Vorschrift betreffenden Rechtssachen die Rechte der türkischen Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers(12) hervorgehoben hat, für die Lösung des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens nicht relevant. In diesen Rechtssachen nämlich hatte der Familienangehörige des türkischen Arbeitnehmers tatsächlich die türkische Staatsangehörigkeit, im Gegensatz zu dem uns hier vorliegenden Fall.

25.      Beim einfachen Lesen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist festzustellen, dass diese Bestimmung den Genuss der Rechte, die sie vorsieht, von vier zu erfüllenden Voraussetzungen abhängig macht, nämlich dass der Betroffene ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers ist, dass dieser dem regulären Arbeitsmarkt angehört, dass der Familienangehörige die Genehmigung erhalten hat, zu ihm zu ziehen, und dass er schließlich mindestens drei Jahre oder mindestens fünf Jahre seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat hatte. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich somit nicht, dass die Eigenschaft des Familienangehörigen von irgendeiner die Staatsangehörigkeit betreffenden Voraussetzung abhängig ist, was nicht für den Arbeitnehmer gilt, von dem der Familienangehörige diese Rechte ableitet, denn dieser Arbeitnehmer muss unstreitig die türkische Staatsangehörigkeit besitzen.

26.      Da das Assoziierungsabkommen zum Ziel hat, die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer auf dem Gebiet der Union zu regeln, besteht gleichwohl ein Zweifel hinsichtlich der Frage, ob ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, als „Familienmitglied“ eines türkischen Arbeitnehmers angesehen werden kann und sich somit auf die in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Rechte berufen kann.

27.      Der Begriff „Familienangehöriger“ im Sinne dieser Bestimmung ist, wie der Gerichtshof im Urteil Ayaz ausgeführt hat, auf Unionsebene einheitlich auszulegen, um seine homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten sicherzustellen(13). Seine Bedeutung ist daher nach dem mit ihm verfolgten Zweck und dem Zusammenhang, in den er sich einfügt, zu bestimmen(14).

28.      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem doppelten Zweck dient. Zunächst sollen nach der genannten Vorschrift bis zum Ablauf der ersten drei Jahre Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen(15).

29.      Sodann soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Hauptzweck ist also, den Zusammenhalt der Familie, deren Hauptbestandteil, nämlich das Ehepaar, sich bereits in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu festigen(16). Dadurch, dass der Ehepartner die Möglichkeit erhält, dort seinen eigenen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, verstärkt diese Vorschrift die potenzielle wirtschaftliche Situation der Familie, eine Situation, die einen unbestreitbaren Integrationsfaktor darstellt.

30.      Durch diesen für die Integration des türkischen Arbeitnehmers geschaffenen Mechanismus erwirbt der Ehepartner am Ende der vorgeschriebenen Frist eine selbständige Stellung, die aus der Natur selbst des durch die speziellen Vorschriften geschaffenen Systems resultiert(17).

31.      Meiner Ansicht nach ergibt sich aus dieser Rechtsprechung eindeutig, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zwar für den Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers gilt, diese Bestimmung jedoch mit dem Ziel erlassen wurde, die familiäre Einheit zu wahren, damit sich der türkische Arbeitnehmer wirklich in den Aufnahmemitgliedstaat integrieren kann. Die Vertragsparteien des Assoziierungsabkommens gingen nämlich davon aus, dass die Anwesenheit der Familienangehörigen des Arbeitnehmers an seiner Seite besonders wichtig ist, um ihm die bestmöglichen Arbeitsbedingungen innerhalb dieses Staates zu garantieren. Deshalb ist diese Bestimmung aus menschlicher Sicht von ganz besonderer Bedeutung.

32.      Daher ist es meines Erachtens nicht von Bedeutung, ob der Familienangehörige, der die Genehmigung erhalten hat, zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, die türkische Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Die Familie definiert sich nicht durch den Besitz derselben Staatsangehörigkeit, sondern durch enge Bindungen, die zwei oder mehrere Personen vereinen, sei es durch rechtliche Bindungen, die z. B. wie im Ausgangsverfahren durch Heirat entstehen, oder durch Blutsverwandtschaft.

33.      Mir ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen der türkische Arbeitnehmer das Recht haben sollte, seine familiären Bindungen aufrechtzuerhalten, wenn sein Ehepartner dieselbe Staatsangehörigkeit besitzt, wohingegen er daran gehindert werden sollte, seinen Ehepartner bei sich zu haben, wenn dieser eine andere als die türkische Staatsangehörigkeit besitzt. Damit würde man schließlich zu der Auffassung gelangen, dass die Anwesenheit eines Ehepartners derselben Staatsangehörigkeit wichtiger ist für dessen Integration im Aufnahmemitgliedstaat als die eines Ehepartners, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt. Außerdem würde dies in einer vergleichbaren Situation dazu führen, dass eine Ehegattin, die nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, schlechter behandelt würde als eine Ehegattin türkischer Staatsangehörigkeit. Dies würde zu einer inakzeptablen Ungleichbehandlung führen.

34.      Abgesehen davon, dass eine solche Analyse nicht zu rechtfertigen wäre, würde sie das Ziel selbst des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sowie das Recht des türkischen Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, wie es von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützt wird, erheblich beeinträchtigen. Art. 51 Abs. 1 der Charta sieht nämlich vor, dass ihre Bestimmungen für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gelten. Wie der Gerichtshof jedoch in Randnr. 23 des Urteils Kahveci und Inan ausgeführt hat, bildet Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 einen integralen Bestandteil des Unionsrechts, und die Mitgliedstaaten sind somit gehalten, die Verpflichtungen, die sich aus diesen Bestimmungen ergeben, genauso einzuhalten, wie sie die Rechte zu wahren haben, die sich aus dem Unionsrecht ergeben.

35.      Im Gegensatz zu dem, was die deutsche und die italienische Regierung vortragen, glaube ich nicht, dass meine Analyse dazu geeignet ist, den Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 1/80 auszudehnen.

36.      Wie ich schon zuvor ausgeführt habe, bleibt der türkische Arbeitnehmer der Hauptbegünstigte des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, da diese Bestimmung darauf zielt, die familiäre Einheit zu wahren, damit sich dieser Arbeitnehmer wirklich in den Aufnahmemitgliedstaat integrieren kann. Die von dieser Bestimmung den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers verliehenen Rechte sind demnach abgeleitete Rechte, die einzig in dieser Eigenschaft als Familienangehörige erworben werden. Der türkische Arbeitnehmer bleibt daher das bestimmende Element, ohne das es für den Familienangehörigen nicht möglich ist, diese Rechte zu erwerben(18).

37.      Außerdem können nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 diejenigen Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen(19), die besagten Rechte in Anspruch nehmen. Den Mitgliedstaaten steht es daher frei, die Genehmigung zur Familienzusammenführung zu erteilen oder nicht(20).

38.      Im Übrigen wird meine Analyse durch die Tatsache bestätigt, dass nach ständiger Rechtsprechung die im Rahmen der Art. 45 AEUV, 46 AEUV und 47 AEUV geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden müssen(21).

39.      So hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass bei der Auslegung des Begriffs „Familienangehöriger“ eines türkischen Arbeitnehmers im Sinne von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die dem − in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68(22) enthaltenen − gleichen Begriff im Zusammenhang mit Arbeitnehmern aus einem Mitgliedstaat gegebene Auslegung abzustellen ist(23). Wie die Europäische Kommission ausführt, bezieht sich diese letztgenannte Bestimmung insbesondere auf die Ehepartner des aus einem Mitgliedstaat stammenden Arbeitnehmers ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit.

40.      Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68 wurde durch die Richtlinie 2004/38/EG(24) aufgehoben, und Art. 38 Abs. 3 dieser Richtlinie sieht vor, dass Bezugnahmen auf die aufgehobenen Bestimmungen oder Richtlinien als Bezugnahmen auf die Richtlinie 2004/38 gelten.

41.      Aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 geht hervor, dass das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden sollte. Daher enthält Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie, der den Begriff des Familienangehörigen definiert, keine Voraussetzung bezüglich der Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen eines Unionsbürgers. Ebenso gelten die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38, die den Familienangehörigen eines Unionsbürgers Rechte einräumen, auch für diejenigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen(25).

42.      Die deutsche Regierung hat jedoch Zweifel, ob man hier auf die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 und auf die zum Begriff Familienangehöriger gegebene Auslegung Bezug nehmen kann, wenn es darum geht, die Tragweite zu bestimmen, die dieser Begriff in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 hat. Sie ist im Wesentlichen der Ansicht, dass es seit dem Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell(26), nicht mehr möglich ist, den Begriff „Familienangehöriger“ im Sinne dieser Bestimmung unter Bezugnahme auf die Auslegung desselben Begriffs in der Richtlinie 2004/38 auszulegen, da substanzielle Unterschiede bestünden zwischen den Vorschriften des Assoziierungsabkommens, die ein rein wirtschaftliches Ziel verfolgten, und den Vorschriften der Richtlinie, die darauf abzielten, die Ausübung des Grund- und Individualrechts zu erleichtern, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar durch den AEUV eingeräumt werde(27).

43.      Diese Zweifel teile ich nicht.

44.      In der Rechtssache nämlich, die zu diesem Urteil geführt hat, berief sich der Kläger des Ausgangsverfahrens auf die Regelung des verstärkten Ausweisungsschutzes, der zugunsten von Unionsbürgern durch Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 eingeführt worden war. Er war der Ansicht, dass dieser Artikel nach einer ständigen Rechtsprechung entsprechend auf eine Situation, die unter Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 falle, anzuwenden sei.

45.      Der Gerichtshof hat daher darauf hingewiesen, dass, um festzustellen, ob sich eine Vorschrift des Unionsrechts für eine entsprechende Anwendung im Rahmen des Assoziierungsabkommens eignet, Zweck und Kontext dieses Abkommens mit Zweck und Kontext des betreffenden Unionsrechtsakts zu vergleichen sind(28). Der Gerichtshof hebt somit hervor, dass das Assoziierungsabkommen im Unterschied zum Unionsrecht, wie es sich aus der Richtlinie 2004/38 ergibt, nur ein rein wirtschaftliches Ziel verfolgt und sich auf eine schrittweise Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt(29). Sodann erläutert er, dass der Begriff der Unionsbürgerschaft es rechtfertigt, nur den Unionsbürgern erheblich verstärkte Garantien in Bezug auf die Ausweisung wie diejenigen des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 zuzuerkennen. Daraus schließt er, dass eine entsprechende Anwendung des in dieser Vorschrift vorgesehenen verstärkten Ausweisungsschutzes auf Situationen, die unter Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 fallen, ausgeschlossen ist(30).

46.      Weil die Regelung zum verstärkten Ausweisungsschutz sich gerade nicht an Arbeitnehmer, die Drittstaatsangehörige sind, richtet, sondern an die Unionsbürger, für die der Unionsgesetzgeber umso größere Garantien vorgesehen hat, als ihre Integration im Aufnahmemitgliedstaat stärker ist, kann eine entsprechende Anwendung nicht in Betracht kommen.

47.      Dagegen geht es hier nicht darum, auf türkische Arbeitnehmer dieselbe Regelung und dieselben Garantien wie die für Unionsbürger anzuwenden, sondern es geht darum, die Bedeutung des Begriffs des Familienangehörigen im Kontext der Familienzusammenführung zu bestimmen. Aus dem fünften und dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 ergibt sich jedoch, dass diese darauf zielt, dadurch, dass sie den Familienangehörigen des Unionsbürgers das Recht verleiht, sich auf dem Staatsgebiet des Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, indem sie die Aufrechterhaltung seiner familiären Bindungen ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Familienangehörigen ermöglicht.

48.      Der Begriff des Familienangehörigen muss daher meiner Ansicht nach dieselbe Bedeutung haben, da er sich in Bestimmungen einfügt, die in beiden Vorschriften dasselbe Ziel verfolgen. Genau aus diesem Grund hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die im Rahmen der Art. 45 AEUV bis 47 AEUV geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die Staatsangehörigen übertragen werden müssen, die durch das Assoziierungsabkommen zuerkannte Rechte besitzen(31).

49.      Mir ist nicht ersichtlich, wie die Ansicht vertreten werden könnte, dass im Rahmen der Aufrechterhaltung der familiären Bindungen der Begriff der Familie einen unterschiedlichen Inhalt haben kann, je nachdem, ob man Unionsbürger oder türkischer Staatsangehöriger ist. In beiden Fällen geht es darum, dem Betroffenen eine stärkere soziale Stabilität zuzubilligen, indem man ihm ermöglicht, seine Familie an seiner Seite zu haben und ein normales Familienleben zu führen. Die Anwesenheit des Ehepartners ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit ist in dieser Hinsicht unerlässlich, um diese Ziele zu erreichen.

50.      Diese Lösung erscheint mir umso gerechtfertigter, als sie sich auch für den Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige(32) aufdrängt, der darauf abzielt, die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten zu koordinieren, damit die türkischen Arbeitnehmer, die in einem oder mehreren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft beschäftigt sind oder waren, sowie die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer und ihre Hinterbliebenen Leistungen aus den traditionellen Zweigen der sozialen Sicherheit in Anspruch nehmen können.

51.      Art. 1 Buchst. a des Beschlusses Nr. 3/80 sieht nämlich insbesondere vor, dass für die Anwendung dieses Beschlusses der Ausdruck Familienangehöriger die Bedeutung hat, wie sie in Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(33) definiert ist. In dieser letztgenannten Bestimmung wird u. a. der Begriff Familienangehöriger definiert als jede Person, die als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt ist.

52.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht außerdem hervor, dass Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung festlegt, zwei deutlich unterschiedene Personengruppen behandelt: die Arbeitnehmer auf der einen und deren Familienangehörige und Hinterbliebene auf der anderen Seite. Erstere fallen unter diese Verordnung, wenn sie Angehörige eines Mitgliedstaats oder in einem Mitgliedstaat ansässige Staatenlose oder Flüchtlinge sind. Dagegen hängt die Geltung der Verordnung für Familienangehörige von Arbeitnehmern, die Unionsangehörige sind, nicht von deren Staatsangehörigkeit ab(34); das Gleiche gilt für Hinterbliebene(35). Ebenso hat der Gerichtshof entschieden, dass die Definition des persönlichen Geltungsbereichs des Beschlusses Nr. 3/80 in Art. 2 sich an die entsprechende Definition in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 anlehnt(36).

53.      Da nun der Begriff „Familienangehöriger“ in Art. 1 Buchst. a des Beschlusses Nr. 3/80 meines Erachtens dahin auszulegen ist, dass er nicht von der Staatsangehörigkeit abhängt, muss derselbe Begriff in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genauso ausgelegt werden.

54.      Außerdem macht die deutsche Regierung im Wesentlichen geltend, dass eine solche Analyse zur Folge hätte, dass unter Verstoß gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers im Vergleich zu Familienangehörigen eines Unionsbürgers besser behandelt würden. Nach der Richtlinie 2004/38 sei insbesondere die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts für den aus einem Drittstaat Stammenden und von einem Unionsbürger Geschiedenen bis zum Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts an die Bedingung geknüpft, dass dieser Staatsbürger über ausreichende Existenzmittel verfüge. Dagegen sei das Recht eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers aus Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 schon nach drei Jahren rechtmäßigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat entstanden und enthalte keine Voraussetzungen für seine Aufrechterhaltung. Daher würde nach Ansicht der deutschen Regierung, wenn man diese Bestimmung dahin auslegen würde, dass sie auch für den Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen gilt, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, der Anwendungsbereich dieser besseren Behandlung noch weiter ausgedehnt, als er es schon sei.

55.      Hierzu genügt der Hinweis, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass angesichts der erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Rechtsstellung die Situation eines Familienangehörigen eines türkischen Wanderarbeitnehmers nicht mit der eines Familienangehörigen eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats zu vergleichen ist(37).

56.      Insbesondere ist festzustellen, dass nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, ein Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten haben und dass von ihnen nur ein Einreisevisum oder ein gültiger Aufenthaltstitel gefordert werden kann, wobei die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, um die Beschaffung der Visa zu erleichtern, ohne dass die Erteilung Kosten verursacht und unter der Bedingung, dass dies so bald wie möglich nach einem beschleunigten Verfahren geschieht. Dagegen unterwirft Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die Familienzusammenführung ausdrücklich der Genehmigung, zum türkischen Wanderarbeitnehmer zu ziehen, die gemäß den Vorgaben der Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats erteilt wird.

57.      Der Gerichtshof hat zudem wiederholt entschieden, dass „türkische Staatsangehörige im Gegensatz zu den Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft genießen, sondern nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte besitzen“(38).

58.      Außerdem gibt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen, unter denen die aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 abgeleiteten Rechte beschränkt werden können, zusätzlich zu der Ausnahme wegen der Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die gleichermaßen auf türkische Staatsangehörige wie auf Unionsangehörige anwendbar ist, einen zweiten Erlöschensgrund für diese Rechte, der nur die türkischen Migranten betrifft, nämlich den, dass sie den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen. Will sich der Betroffene in einem solchen Fall später erneut in dem fraglichen Mitgliedstaat niederlassen, können die Behörden dieses Staates verlangen, dass er erneut eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, um zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, wenn er noch von ihm abhängt, oder um auf der Grundlage von Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 dort eine Arbeit aufnehmen zu können(39).

59.       Daher bin ich angesichts der vorstehenden Erwägungen der Ansicht, dass Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und der mindestens fünf Jahre rechtmäßig mit seinem Ehepartner, einem dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmer, zusammengewohnt hat, als „Familienangehöriger“ eines türkischen Arbeitnehmers angesehen werden kann.

B –    Zur Aufrechterhaltung der nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vor der Auflösung der Ehe erworbenen Rechte

60.      Es stellt sich nun die Frage, ob der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 wegen seiner Scheidung vom türkischen Arbeitnehmer verliert, die nach dem Erwerb dieser Rechte ausgesprochen wird.

61.      Aus dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ergibt sich nämlich, dass sich die Klägerin am 3. Juni 2009 von ihrem Ehemann trennte und die Scheidung am 3. Februar 2011 rechtskräftig wurde. Außerdem lebte die Klägerin des Ausgangsverfahrens mit ihrem Ehemann seit ihrer Heirat im September 2002 bis zu ihrer Trennung im Juni 2009 ununterbrochen zusammen.

62.      Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Scheidung rechtskräftig wurde, hatte die Klägerin mindestens fünf Jahre mit ihrem Ehemann zusammengewohnt und hatte daher das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 bereits erworben.

63.      Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass der Familienangehörige zwar grundsätzlich vorbehaltlich berechtigter Gründe tatsächlich mit dem Wanderarbeitnehmer zusammenwohnen muss, solange er nicht selbst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt hat – d. h. bis zum Ablauf des Dreijahreszeitraums –, dass dies aber nicht mehr der Fall ist, sobald der Betroffene dieses Recht nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworben hat, und erst recht nicht, wenn er nach fünf Jahren ein uneingeschränktes Recht auf Beschäftigung innehat(40).

64.       Sind nämlich die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt, verleiht diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat und entsprechend das Recht, sich dort weiter aufzuhalten(41).

65.      Die Rechte wie die nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtmäßig erworbenen sind vom Fortbestehen der Voraussetzungen für ihre Entstehung unabhängig, so dass der Familienangehörige, der bereits Rechte nach diesem Beschluss innehat, seine Stellung im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise festigen und sich dort dauerhaft integrieren kann, indem er ein von der Person, von der er diese Rechte ableitete, unabhängiges Leben führt(42).

66.      Wie der Gerichtshof in Randnr. 41 des Urteils Bozkurt ausgeführt hat, handelt es sich bei einer solchen Auslegung lediglich um den Ausdruck des allgemeineren Grundsatzes der Wahrung wohlerworbener Rechte, der von der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellt wurde. Mit anderen Worten, sobald ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers wirksam Rechte nach einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hat, hängen diese Rechte nicht mehr vom Fortbestehen der Umstände ab, die zu ihrer Entstehung geführt haben, da dieser Beschluss keine solche Voraussetzung vorsieht(43).

67.      Daher bin ich der Ansicht, dass Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und dem in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus dieser Bestimmung zustehen, diese Rechte nicht wegen seiner Scheidung von diesem türkischen Arbeitnehmer verliert, die nach dem Erwerb dieser Rechte ausgesprochen wird.

IV – Ergebnis

68.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Verwaltungsgericht Gießen wie folgt zu antworten:

Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem Assoziationsrat erlassen wurde, der durch das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet wurde, ist dahin auszulegen, dass

–        ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und der mindestens fünf Jahre mit seinem Ehepartner, einem dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmer, zusammengewohnt hat, als „Familienangehöriger“ eines türkischen Arbeitnehmers angesehen werden kann;

–        ein Drittstaatsangehöriger, der nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und dem in seiner Eigenschaft als Familienmitglied eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 zustehen, diese Rechte nicht wegen seiner Scheidung von diesem türkischen Arbeitnehmer verliert, die nach dem Erwerb dieser Rechte ausgesprochen wird.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 –      Der Assoziationsrat wurde mit dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingerichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet worden war. Dieses wurde im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685, im Folgenden: Assoziierungsabkommen).


3 –      Der Beschluss Nr. 1/80 kann eingesehen werden in: Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG–Türkei sowie andere Basisdokumente, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel 1992.


4 –      Vgl. Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens.


5 –      Vgl. Art. 6 des Assoziierungsabkommens.


6 – Dieses Protokoll wurde am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt (ABl. L 293, S. 1).


7 –      BGBl. I S. 1950, in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162).


8 – Vgl. insbesondere Punkt 5 der Vorlageentscheidung.


9 –      Vgl. Punkt 5 Buchst. c der Vorlageentscheidung.


10 –      Vgl. insbesondere Urteile vom 16. März 2000, Ergat (C‑329/97, Slg. 2000, I‑1487, Randnrn. 26 und 27), sowie vom 4. Oktober 2007, Polat (C‑349/06, Slg. 2007, I‑8167, Randnr. 21).


11 –      Vgl. Urteil vom 30. September 2004, Ayaz (C‑275/02, Slg. 2004, I‑8765).


12 –      Vgl. insbesondere Urteile vom 22. Juni 2000, Eyüp (C‑65/98, Slg. 2000, I‑4747), vom 18. Juli 2007, Derin (C‑325/05, Slg. 2007, I‑6495), und vom 22. Dezember 2010, Bozkurt (C‑303/08, Slg. 2010, I‑13445).


13 –      Vgl. Randnr. 39 dieses Urteils.


14 –      Vgl. Randnr. 40 dieses Urteils.


15 –      Vgl. Urteil vom 29. März 2012, Kahveci und Inan (C‑7/10 und C‑9/10, Randnr. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


16 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil Kahveci und Inan (Randnr. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


17 –      Ebd.


18 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil Bozkurt (Randnrn. 36 und 37).


19 –      Hervorhebung nur hier.


20 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2004, Cetinkaya (C‑467/02, Slg. 2004, I‑10895, Randnr. 22).


21 –      Vgl. Urteil Ayaz (Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22 –      Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).


23 –      Vgl. Urteil Ayaz (Randnr. 45).


24 –      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, sowie Berichtigungen ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28).


25 –      Vgl. insbesondere die Art. 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 und 12 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie über das Aufenthaltsrecht sowie Art. 16 Abs. 2 dieser Richtlinie zum dauerhaften Aufenthaltsrecht.


26 –      C‑371/08, Slg. 2011, I‑12735.


27 –      Vgl. Erklärungen der deutschen Regierung (Randnrn. 70 bis 72).


28 –      Vgl. Urteil Ziebell (Randnr. 62).


29 –      Ebd. (Randnr. 72).


30 –      Ebd. (Randnr. 74).


31 –      Ebd. (Randnrn. 66 bis 68).


32 –      ABl. 1983, C 110, S. 60.


33 –      Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2).


34 –      Hervorhebungen nur hier.


35 –      Vgl. Urteil vom 30. April 1996, Cabanis-Issarte (C‑308/93, Slg. 1996, I‑2097, Randnr. 21).


36 –      Vgl. Urteil vom 4. Mai 1999, Sürül (C‑262/96, Slg. 1999, I‑2685, Randnr. 84).


37 –      Vgl. Urteil Bozkurt (Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38 –      Vgl. Urteil Derin (Randnr. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).


39 –      Urteil Derin (Randnr. 67).


40 –      Urteil Bozkurt (Randnr. 35).


41 –      Ebd. (Randnr. 36).


42 –      Ebd. (Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43 –      Vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 29. September 2011, Unal (C‑187/10, Slg. 2011, I‑9045, Randnr. 50).