Language of document :

Verbundene Rechtssachen T‑236/01, T‑239/01, T‑244/01 bis T‑246/01, T‑251/01 und T‑252/01

Tokai Carbon Co. Ltd u. a.

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Wettbewerb – Kartell – Markt für Graphitelektroden – Preisfestsetzung und Marktaufteilung – Berechnung der Geldbußen – Kumulierung von Sanktionen – Leitlinien für die Berechnung von Geldbußen – Anwendbarkeit – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Erschwerende Umstände – Mildernde Umstände – Zahlungsfähigkeit – Kooperation im Verwaltungsverfahren – Zahlungsmodalitäten“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Akteneinsicht – Pflicht, die vollständige Akte zugänglich zu machen – Grenzen – Schriftstücke, die Geschäftsgeheimnisse enthalten, und interne Unterlagen – Ausnahme – Übermittlung interner Unterlagen unter außergewöhnlichen Umständen

(Artikel 81 Absatz 1 EG und 82 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates)

2.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Vorlage zusätzlicher Beweise nach Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 19 Absatz 1)

3.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Anhörungen – Pflicht des Anhörungsbeauftragten, einen Abschlussbericht über die Wahrung des Anhörungsrechts zu erstellen – Umfang

(Beschluss 2001/462 der Kommission, Artikel 15 und 16)

4.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Bestreiten des Sachverhalts, der in einer eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln ahndenden Entscheidung festgestellt wird – Zulässigkeit – Voraussetzung – Kein Einräumen des Sachverhalts im Verwaltungsverfahren

(Artikel 230 EG)

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Herabsetzung als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit, die im Nichtbestreiten bestimmter Tatsachen besteht – Bestreiten dieser Tatsachen vor dem Gericht – Möglichkeit des Gerichts, die Geldbuße im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zu erhöhen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15)

6.      Wettbewerb – Geldbußen – Sanktionen der Gemeinschaft und Sanktionen in einem Mitgliedstaat oder einem Drittstaat wegen Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht – Keine Verletzung des Grundsatzes „ne bis in idem“ – Zusammentreffen – Zulässigkeit – Verpflichtung der Kommission, bei der Bestimmung der Höhe der Geldbuße die in einem Mitgliedstaat wegen derselben Tat verhängte Sanktion zu berücksichtigen – Auf den Fall einer in einem Drittstaat verhängten Sanktion nicht übertragbare Verpflichtung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 50; Protokoll Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 4; Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15)

7.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Möglichkeit der Anhebung des Niveaus der Geldbußen, um deren abschreckende Wirkung zu verstärken – Keine Verpflichtung, dabei die bereits in einem Drittstaat verhängten Geldbußen zu berücksichtigen

(Artikel 81 Absatz 1 EG und 82 EG; EWR-Abkommen, Artikel 53 Absatz 1; Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2)

8.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Vertrauensschutz – Voraussetzungen – Zusicherungen des für Wettbewerbsfragen zuständigen Generaldirektors hinsichtlich der Höhe einer Geldbuße – Ausschluss aufgrund der ausschließlichen Zuständigkeit des Kollegiums der Kommissionsmitglieder

(Geschäftsordnung der Kommission, Artikel 1)

9.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Ermessen der Kommission – Befugnis des Gerichts zu unbeschränkter Nachprüfung – Möglichkeit, in diesem Rahmen zusätzliche Informationen heranzuziehen, die nicht in der Bußgeldentscheidung erwähnt sind

(Artikel 229 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 17)

10.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Rechtlicher Rahmen – Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 – Einführung von Leitlinien durch die Kommission, die gegenüber ihrer früheren Entscheidungspraxis Neuerungen aufweisen – Keine Verletzung des Rückwirkungsverbots und des Grundsatzes der Rechtssicherheit

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

11.    Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Anhebung des allgemeinen Niveaus der Geldbußen – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absätze 1 und 2)

12.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Bei der Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigender Umsatz – Ermessen der Kommission innerhalb der durch Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 festgelegten Grenze

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Heranziehung des weltweiten Umsatzes mit den Waren, die Gegenstand der Zuwiderhandlung sind – Zulässigkeit – Grenzen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15)

14.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Beurteilung der Schwere einer Zuwiderhandlung anhand ihrer Auswirkungen – Berücksichtigung der Auswirkungen der gesamten Zuwiderhandlung und nicht des individuellen Verhaltens der an dem geahndeten Kartell beteiligten Unternehmen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nummer 1 Teil A)

15.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Aufteilung eines Gesamtbetrags auf verschiedene Gruppen von Unternehmen – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2)

16.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – In den Leitlinien der Kommission festgelegte Berechnungsmethode – Entscheidung der Kommission, die Methode in einem konkreten Fall anzuwenden – Folgen – Begründungspflicht im Falle einer Abweichung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

17.    Wettbewerb – Geldbußen – Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden – Begründungspflicht – Umfang – Angabe der Beurteilungsgesichtspunkte, die es der Kommission ermöglicht haben, die Schwere der Zuwiderhandlung zu ermitteln – Ausreichende Angaben

(Artikel 253 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2)

18.    Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche juristische Person

(Artikel 81 Absatz 1 EG)

19.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlungen – Jeweilige Rolle der an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15)

20.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlungen – Mildernde Umstände – Passive Mitwirkung oder Mitläufertum des Unternehmens

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission)

21.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlungen – Mildernde Umstände – Keine Verpflichtung der Kommission, sich an ihre frühere Entscheidungspraxis zu halten – Einführung eines Programms zur Befolgung der Wettbewerbsregeln durch ein Unternehmen – Schlechte finanzielle Lage im Tätigkeitsbereich eines Unternehmens

(Artikel 81 Absatz 1 EG; Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15)

22.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Durch Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 festgelegte Grenze – Anwendungsmodalitäten

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2)

23.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Finanzielle Lage des betreffenden Unternehmens – Berücksichtigung – Keine Verpflichtung der Kommission, sich an ihre frühere Entscheidungspraxis zu halten

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15)

24.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Auskunftsverlangen – Verteidigungsrechte – Kein absolutes Auskunftsverweigerungsrecht – Recht zur Verweigerung einer Antwort, mit der eine Zuwiderhandlung eingestanden würde

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 11 Absatz 5)

25.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Kooperation des beschuldigten Unternehmens – Kooperation im Rahmen der Beantwortung eines Auskunftsverlangens – Berücksichtigung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission)

26.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Kooperation des beschuldigten Unternehmens – Begriff „Beweismittel“

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission)

27.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Kooperation des beschuldigten Unternehmens – Information über die Existenz eines illoyalen Beamten der Kommission – Berücksichtigung

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission)

28.    Wettbewerb – Geldbußen – Ermessen der Kommission – Umfang – Befugnis zur Festlegung der Zahlungsmodalitäten der Geldbußen – Festsetzung von Verzugszinsen

(Verordnung Nr. 17 des Rates, Artikel 15 Absatz 2)

1.      Die Kommission muss den betroffenen Unternehmen, damit sich diese gegen die ihnen in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zur Last gelegten Beschwerdepunkte sachgerecht verteidigen können, die vollständige Ermittlungsakte zugänglich machen, mit Ausnahme der Schriftstücke, die Geschäftsgeheimnisse anderer Unternehmen oder sonstige vertrauliche Informationen enthalten, und der internen Vermerke der Kommission.

Die Beschränkung der Einsichtnahme in interne Unterlagen ist durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Funktionsfähigkeit der Kommission im Bereich der Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrages sicherzustellen; die internen Unterlagen können nur dann zugänglich gemacht werden, wenn die betreffende Partei sowohl vor dem Gemeinschaftsrichter als auch im Rahmen des von der Kommission durchgeführten Verwaltungsverfahrens ernsthafte Anhaltspunkte dafür geliefert hat, dass die außergewöhnlichen Umstände des konkreten Falles dies erfordern.

(vgl. Randnrn. 38, 40)

2.      Die Betroffenen müssen der Mitteilung der Beschwerdepunkte tatsächlich entnehmen können, welches Verhalten ihnen die Kommission zur Last legt; dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn ihnen in der Endentscheidung keine anderen als die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte genannten Zuwiderhandlungen zur Last gelegt und nur Tatsachen berücksichtigt werden, zu denen sie sich äußern konnten.

Es gibt jedoch keine Bestimmung, die es der Kommission verbietet, den Betroffenen nach der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte neue Schriftstücke zu übermitteln, in denen sie eine Stütze für ihr Vorbringen sieht, sofern sie den Unternehmen die erforderliche Zeit einräumt, sich hierzu zu äußern.

(vgl. Randnrn. 45, 47)

3.      Nach den Artikeln 15 und 16 Absatz 1 des Beschlusses 2001/462 über das Mandat von Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren erstellt der Anhörungsbeauftragte einen Abschlussbericht über die Wahrung des Anhörungsrechts, der auch auf die Frage eingeht, ob der Entscheidungsentwurf ausschließlich Beschwerdepunkte behandelt, zu denen sich die Parteien haben äußern können, und der dem der Kommission vorgelegten Entscheidungsentwurf beigefügt wird, damit diese ihre Entscheidung in voller Kenntnis „aller sachdienlichen Informationen“ über den Ablauf des Verfahrens und die Ausübung des Anhörungsrechts treffen kann.

Folglich hat der Anhörungsbeauftragte nicht die Aufgabe, alle von den Beteiligten während des Verwaltungsverfahrens erhobenen Verfahrensrügen zu sammeln. Er hat dem Kollegium der Kommissionsmitglieder nur die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Ablaufs des Verwaltungsverfahrens relevanten Rügen mitzuteilen.

(vgl. Randnrn. 52-53)

4.      Hat das im Rahmen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln beschuldigte Unternehmen den Sachverhalt nicht ausdrücklich eingeräumt, so muss die Kommission ihn nachweisen, wobei es dem Unternehmen freisteht, im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens alle ihm zweckdienlich erscheinenden Verteidigungsmittel vorzubringen. Umgekehrt kann dies nicht der Fall sein, wenn das betreffende Unternehmen den Sachverhalt ausdrücklich, klar und präzise einräumt. Hat es im Verwaltungsverfahren die ihm von der Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zur Last gelegten Tatsachen ausdrücklich eingeräumt, so sind diese Tatsachen als erwiesen anzusehen, und es kann sie im Verfahren vor dem Gericht grundsätzlich nicht mehr bestreiten.

(vgl. Randnr. 108)

5.      Es kann dem Gericht nicht unter allen Umständen verwehrt sein, in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung die Geldbuße eines Unternehmens zu erhöhen, das, nachdem seine Geldbuße herabgesetzt worden war, weil es im Verwaltungsverfahren den von der Kommission zugrunde gelegten Sachverhalt nicht bestritten hatte, die Richtigkeit dieses Sachverhalts erstmals vor Gericht in Frage stellt.

(vgl. Randnr. 113)

6.      Bei dem auch in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Grundsatz ne bis in idem handelt es sich um einen tragenden Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dessen Wahrung der Richter zu sichern hat. Im Bereich des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft verbietet es dieser Grundsatz, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, für das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung der Kommission bereits mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird.

Die Möglichkeit einer doppelten Sanktion – einer gemeinschaftsrechtlichen und einer innerstaatlichen – infolge von zwei Parallelverfahren, die verschiedenen Zielen dienen und deren Zulässigkeit aus dem besonderen System der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten auf kartellrechtlichem Gebiet folgt, besteht jedoch. Ein allgemeiner Billigkeitsgedanke gebietet es allerdings, dass die Kommission bei der Zumessung der Geldbuße die einem Unternehmen für dieselbe Tat bereits auferlegten Sanktionen berücksichtigt, wenn es sich um Sanktionen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Kartellrecht eines Mitgliedstaats handelt, also solchen, die im Gebiet der Gemeinschaft begangen wurden.

Diese Möglichkeit einer Mehrfachahndung ist dadurch gerechtfertigt, dass das innerstaatliche und das gemeinschaftsrechtliche Verfahren verschiedenen Zielen dienen. Der Grundsatz ne bis in idem kann unter diesen Umständen erst recht keine Anwendung finden, wenn es sich um Verfahren und Sanktionen der Kommission einerseits und von Drittstaatsbehörden andererseits handelt, die eindeutig nicht denselben Zielen dienen. Im ersten Fall geht es darum, im Gebiet der Europäischen Union oder im Europäischen Wirtschaftsraum einen unverfälschten Wettbewerb zu erhalten, im zweiten Fall dagegen um den Schutz des Marktes eines Drittstaats. Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt nämlich nicht nur die Übereinstimmung des Sachverhalts der Zuwiderhandlung und der zur Rechenschaft gezogenen Personen voraus, sondern es muss sich auch um ein einziges geschütztes Rechtsgut handeln.

Diese Feststellung wird durch die Tragweite des in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Grundsatzes des Verbotes einer Mehrfachahndung bestätigt. Nach dem Wortlaut dieses Artikels bewirkt dieser Grundsatz lediglich, dass es den Gerichten eines Staates untersagt ist, sich mit einer Straftat zu befassen oder wegen einer solchen Tat zu bestrafen, wenn die angeklagte Person wegen derselben Tat bereits in demselben Staat rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist. Dagegen verbietet es der Grundsatz ne bis in idem nicht, dass eine Person in zwei oder mehr verschiedenen Staaten mehr als einmal wegen derselben Tat verfolgt oder bestraft wird.

Zwar darf nach Artikel 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden. Die Charta soll jedoch nur im Gebiet der Union gelten und beschränkt die Tragweite des in ihrem Artikel 50 festgelegten Rechts ausdrücklich auf die Fälle, in denen der Freispruch oder die Verurteilung innerhalb dieses Gebietes erfolgt ist.

(vgl. Randnrn. 130-135, 137)

7.      Die Befugnis der Kommission, Geldbußen gegen Unternehmen zu verhängen, die vorsätzlich oder fahrlässig gegen Artikel 81 Absatz 1 EG oder Artikel 82 EG verstoßen, gehört zu den Mitteln, mit denen die Kommission ausgestattet wurde, um sie in die Lage zu versetzen, die ihr durch das Gemeinschaftsrecht übertragene Überwachungsaufgabe zu erfüllen. Diese Aufgabe umfasst den Auftrag, eine allgemeine Politik mit dem Ziel zu verfolgen, die im Vertrag niedergelegten Grundsätze auf das Wettbewerbsrecht anzuwenden und das Verhalten der Unternehmen in diesem Sinne zu lenken.

Die Kommission darf daher das Niveau von Geldbußen anheben, um ihre abschreckende Wirkung zu verstärken, wenn bestimmte Zuwiderhandlungen wegen des Gewinns, den einige der betreffenden Unternehmen daraus ziehen können, immer noch verhältnismäßig häufig sind, obwohl ihre Rechtswidrigkeit von Beginn der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik an feststand.

Das Abschreckungsziel, das die Kommission bei der Festsetzung des Betrages einer Geldbuße verfolgen darf, besteht darin, zu gewährleisten, dass Unternehmen die im Vertrag für ihre Tätigkeiten in der Gemeinschaft oder im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) festgelegten Wettbewerbsregeln beachten. Die abschreckende Wirkung einer wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft festgesetzten Geldbuße darf daher weder allein nach Maßgabe der besonderen Situation des verurteilten Unternehmens noch danach ermittelt werden, ob es die in Drittstaaten außerhalb des EWR festgelegten Wettbewerbsregeln beachtet.

Die Kommission ist daher berechtigt, gegen ein Unternehmen innerhalb der in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 vorgesehenen Grenzen eine Geldbuße in hinreichend abschreckender Höhe festzusetzen, ohne dass sie die in Drittstaaten gegen das Unternehmen verhängten Sanktionen bei der Ermittlung dieser Grenzen berücksichtigen muss.

(vgl. Randnrn. 144-145, 147-148)

8.      Auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes kann sich jeder berufen, bei dem die Gemeinschaftsverwaltung begründete Erwartungen geweckt hat, wobei eine Verletzung dieses Grundsatzes nur dann geltend gemacht werden kann, wenn die Verwaltung präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Zusicherungen von zuständiger und zuverlässiger Seite gegeben hat.

Insoweit kann ein Unternehmen vernünftigerweise nicht erwarten, dass eine vom Kollegium der Kommissionsmitglieder gemäß dem in Artikel 1 der Geschäftsordnung der Kommission vom 29. November 2000 verankerten Kollegialprinzip erlassene Entscheidung, mit der gegen das Unternehmen eine Geldbuße wegen seiner Beteiligung an einem weltweit tätigen Kartell festgesetzt wurde, als Maßnahme der Geschäftsführung und der Verwaltung gemäß Artikel 14 der Geschäftsordnung dem für Wettbewerbsfragen zuständigen Generaldirektor übertragen werden könnte. Folglich kann ein Generaldirektor hinsichtlich der Anrechnung der in einem Drittstaat gegen das Unternehmen verhängten Sanktionen keine „präzisen Zusicherungen von zuständiger und zuverlässiger Seite“ geben, da sich seine Befugnis darauf beschränkt, dem Kollegium Vorschläge zu unterbreiten, die dieses annehmen oder ablehnen kann.

(vgl. Randnrn. 152-153)

9.      Die Kommission verfügt zwar über ein Ermessen bei der Festsetzung der einzelnen Geldbußen, ohne verpflichtet zu sein, eine genaue mathematische Formel anzuwenden; das Gericht hat jedoch nach Artikel 17 der Verordnung Nr. 17 bei Klagen gegen Entscheidungen der Kommission, in denen eine Geldbuße festgesetzt ist, die Befugnis zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung im Sinne von Artikel 229 EG und kann somit die festgesetzte Geldbuße aufheben, herabsetzen oder erhöhen. In diesem Rahmen kann die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Geldbuße, unabhängig von etwaigen offensichtlichen Ermessensfehlern der Kommission, die Vorlage und Heranziehung zusätzlicher Informationen erfordern, die nicht in der Entscheidung der Kommission erwähnt sind.

(vgl. Randnr. 165)

10.    Die Änderung der früheren Verwaltungspraxis der Kommission durch die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, stellt keine gegen das allgemeine Verbot der Rückwirkung von Gesetzen oder den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßende Verfälschung des rechtlichen Rahmens für die Ermittlung des Betrages der zu verhängenden Geldbußen dar. Zum einen bildet nämlich die frühere Praxis der Kommission nicht selbst den rechtlichen Rahmen für Geldbußen in Wettbewerbssachen, da dieser allein in der Verordnung Nr. 17 geregelt ist. Zum anderen kann die Einführung einer neuen Methode für die Berechnung von Geldbußen durch die Kommission, auch wenn sie zu einer Erhöhung des allgemeinen Niveaus der Geldbußen führen kann, die aber nicht über den in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 vorgegebenen rechtlichen Rahmen für Sanktionen hinausgeht, angesichts des der Kommission in dieser Verordnung eingeräumten Ermessens nicht als rückwirkende Verschärfung der Geldbußen angesehen werden, wie sie in der genannten Bestimmung geregelt sind.

(vgl. Randnrn. 190-191)

11.    Die Kommission ist dadurch, dass sie in der Vergangenheit für bestimmte Arten von Zuwiderhandlungen Geldbußen in bestimmter Höhe verhängt hat, nicht daran gehindert, dieses Niveau innerhalb der durch die Verordnung Nr. 17 gezogenen Grenzen anzuheben, wenn dies erforderlich ist, um die Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik sicherzustellen und die abschreckende Wirkung der Geldbußen zu verstärken. Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft verlangt vielmehr, dass die Kommission das Niveau der Geldbußen jederzeit den Erfordernissen dieser Politik anpassen kann.

(vgl. Randnrn. 192, 216)

12.    Im Bereich der Bußgeldbemessung in Wettbewerbssachen betrifft die einzige ausdrückliche Bezugnahme auf den Umsatz in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 die Obergrenze, die eine Geldbuße nicht übersteigen darf und bei der auf den Gesamtumsatz abzustellen ist. Innerhalb dieser Grenze kann die Kommission den Umsatz, den sie hinsichtlich des geografischen Gebietes und der betroffenen Produkte als Bemessungsgrundlage für die Festsetzung der Geldbuße heranziehen will, grundsätzlich frei wählen, ohne dass sie verpflichtet wäre, genau auf den Gesamtumsatz oder den auf dem relevanten räumlichen oder Produktmarkt erzielten Umsatz abzustellen. Schließlich sehen die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, zwar nicht vor, dass die Geldbußen anhand eines bestimmten Umsatzes berechnet werden, stehen der Heranziehung eines solchen Umsatzes aber auch nicht entgegen, sofern die von der Kommission getroffene Wahl nicht offensichtlich ermessensfehlerhaft ist.

(vgl. Randnr. 195)

13.    Dass die Kommission nur über eine auf das Hoheitsgebiet des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) begrenzte Zuständigkeit für die Verhängung von Sanktionen wegen eines Verstoßes gegen Wettbewerbsregeln verfügt, hindert sie nicht daran, bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Fähigkeit der Kartellmitglieder, den Wettbewerb innerhalb des EWR zu beeinträchtigen, den weltweiten Umsatz mit dem fraglichen Erzeugnis heranzuziehen; unabhängig davon, welcher Umsatz herangezogen wird, darf ihm jedoch keine zu den übrigen Beurteilungskriterien außer Verhältnis stehende Bedeutung beigemessen werden.

(vgl. Randnrn. 200-201)

14.    Stützt sich die Kommission bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung nach Nummer 1 Teil A Absätze 1 und 2 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, auf die Auswirkungen der Zuwiderhandlung, so sind die Auswirkungen der gesamten Zuwiderhandlung, an der alle Unternehmen beteiligt waren, zu berücksichtigen, so dass es auf das individuelle Verhalten oder spezielle Gegebenheiten des jeweiligen Unternehmens insoweit nicht ankommt.

(vgl. Randnr. 203)

15.    Bei der Festsetzung der Geldbußen wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln ist eine Vorgehensweise der Kommission, die in der Einteilung der Mitglieder eines Kartells in mehrere Kategorien besteht, wobei der für die Unternehmen einer Kategorie festgesetzte Ausgangsbetrag pauschaliert wird, grundsätzlich nicht zu beanstanden, auch wenn sie bewirkt, dass die Größenunterschiede zwischen Unternehmen ein und derselben Kategorie unberücksichtigt bleiben. Die Kommission ist nämlich, wenn Geldbußen gegen mehrere an derselben Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen festgesetzt werden, bei der Ermittlung der Höhe der Geldbußen nicht verpflichtet, dafür zu sorgen, dass in den Endbeträgen der Geldbußen alle Unterschiede, die zwischen dem Gesamtumsatz der betreffenden Unternehmen bestehen, zum Ausdruck kommen.

Bei einer solchen Einteilung in Kategorien muss jedoch der Grundsatz der Gleichbehandlung beachtet werden, der es verbietet, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist. Im Übrigen muss der Betrag der Geldbußen zumindest in angemessenem Verhältnis zu den Faktoren stehen, die bei der Beurteilung der Schwere des Verstoßes herangezogen wurden.

Folglich muss, wenn die Kommission die betroffenen Unternehmen bei der Festsetzung der Geldbußen in Kategorien einteilt, die Bestimmung der Schwellenwerte für jede der auf diese Weise gebildeten Kategorien schlüssig und objektiv gerechtfertigt sein.

(vgl. Randnrn. 217, 219-220)

16.    Beschließt die Kommission, die in den von ihr erlassenen Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, vorgesehene Differenzierungsmethode bei der Bemessung der Geldbußen von Wirtschaftsteilnehmern anzuwenden, die gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen haben, so muss sie sich an diese Leitlinien halten, sofern sie nicht genau die Gründe darlegt, die gegebenenfalls eine Abweichung in einem bestimmten Punkt rechtfertigen. Daher kann die Kommission zwar bei der Ermittlung des Endbetrags einer Geldbuße eine Vielzahl von Umständen berücksichtigen und ist nicht verpflichtet, insoweit mathematische Formeln anzuwenden; gleichwohl muss sie, wenn sie es als angebracht und gerecht angesehen hat, auf einer bestimmten Stufe dieses Vorgangs zahlenmäßige Berechnungsfaktoren heranzuziehen, ihre eigene Methode korrekt, schlüssig und vor allem ohne Diskriminierung anwenden. Hat sie sich aus freien Stücken für die Anwendung einer solchen arithmetischen Methode entschieden, so ist sie gegenüber allen Mitgliedern eines Kartells an die Regeln dieser Methode gebunden, sofern es für eine Abweichung keine ausdrückliche Rechtfertigung gibt.

(vgl. Randnrn. 231-232, 352)

17.    Die Begründung einer Einzelfallentscheidung muss die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Artikels 253 EG genügt, nicht nur anhand des Wortlauts des fraglichen Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand des Zusammenhangs, in dem dieser Rechtsakt erlassen wurde.

Insoweit genügt die Kommission ihrer Begründungspflicht, wenn sie in einer Entscheidung, mit der Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft geahndet werden, die Beurteilungskriterien angibt, die es ihr ermöglichten, die Schwere der begangenen Zuwiderhandlung zu ermessen; sie ist nicht verpflichtet, darin eingehendere Ausführungen oder Zahlenangaben zur Berechnungsweise der Geldbuße zu machen.

(vgl. Randnrn. 250, 252)

18.    Die Regel, wonach grundsätzlich die natürliche oder juristische Person, die das fragliche Unternehmen leitete, als die Zuwiderhandlung begangen wurde, für diese einstehen muss, auch wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung ergeht, mit der die Zuwiderhandlung festgestellt wird, eine andere Person für den Betrieb des Unternehmens verantwortlich ist, ist dahin auszulegen, dass ein Unternehmen – d. h. eine aus persönlichen, materiellen und immateriellen Elementen bestehende wirtschaftliche Einheit – von den nach seiner Rechtsform vorgesehenen Organen geleitet wird und dass alle Entscheidungen, mit denen ihm eine Geldbuße auferlegt wird, an die satzungsgemäße Leitung des Unternehmens (Verwaltungsrat, Vorstand, Präsident, Geschäftsführer usw.) gerichtet werden können, auch wenn die finanziellen Auswirkungen letztlich von seinen Eigentümern getragen werden. Gegen diesen Grundsatz würde verstoßen, wenn von der Kommission verlangt würde, bei einem rechtswidrigen Verhalten eines Unternehmens stets zu prüfen, wer der Eigentümer ist, der maßgebenden Einfluss auf das Unternehmen ausübt, und wenn sie nur gegen diesen Eigentümer eine Sanktion verhängen dürfte.

(vgl. Randnrn. 280-281)

19.    Wenn eine Zuwiderhandlung von mehreren Unternehmen begangen wurde, ist im Rahmen der Ermittlung des Betrages der Geldbußen ihre jeweilige Rolle bei der Zuwiderhandlung während der Dauer ihrer Beteiligung festzustellen. Daraus folgt u. a., dass die von einem oder mehreren Unternehmen im Rahmen eines Kartells gespielte Rolle des „Anführers“ bei der Berechnung des Betrages der Geldbuße zu berücksichtigen ist, da die Unternehmen, die eine solche Rolle gespielt haben, im Vergleich zu den anderen Unternehmen eine besondere Verantwortung tragen müssen.

(vgl. Randnr. 301)

20.    Nach Nummer 3, erster Gedankenstrich, der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, kann „ausschließlich passive Mitwirkung oder reines Mitläufertum“ eines Unternehmens bei der Zuwiderhandlung, soweit erwiesen, einen mildernden Umstand darstellen.

Insoweit können als Anhaltspunkte für die passive Rolle eines Unternehmens in einem Kartell dienen, dass dieses Unternehmen deutlich seltener als die gewöhnlichen Kartellmitglieder an den Treffen teilnahm und dass es ausdrückliche dahin gehende Erklärungen von Vertretern dritter an der Zuwiderhandlung beteiligter Unternehmen gibt. Zu berücksichtigen sind jedenfalls alle relevanten Umstände des Einzelfalls.

(vgl. Randnrn. 330-331)

21.    Bei der Festsetzung der Geldbußen von Mitgliedern eines gegen die Wettbewerbsregeln verstoßenden Kartells ist die Kommission nicht verpflichtet, sich hinsichtlich der Berücksichtigung mildernder Umstände an ihre frühere Entscheidungspraxis zu halten. Der Tatsache, dass ein Unternehmen ein Programm zur Befolgung der Wettbewerbsregeln eingeführt hat, oder der schlechten finanziellen Lage der Branche, zu der ein Unternehmen gehört, braucht sie daher nicht Rechnung zu tragen, auch wenn sie dies in der Vergangenheit getan hat.

(vgl. Randnrn. 343, 345)

22.    Die in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 genannte Obergrenze von 10 % für eine Geldbuße, die gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln verhängt wird, bezieht sich auf den Gesamtumsatz des betroffenen Unternehmens, da nur dieser einen Anhaltspunkt für die Größe und den Einfluss des Unternehmens auf den Markt liefert. Zudem ist nach Artikel 15 nur der Endbetrag der verhängten Geldbuße auf die genannte Grenze herabzusetzen; diese Bestimmung verbietet es der Kommission nicht, bei ihrer Berechnung einen Zwischenbetrag heranzuziehen, der diese Grenze übersteigt, sofern die letztlich festgesetzte Geldbuße nicht darüber liegt.

(vgl. Randnr. 367)

23.    Im Bereich des Wettbewerbs ist die Kommission nicht verpflichtet, die defizitäre finanzielle Lage eines betroffenen Unternehmens bei der Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigen, da die Anerkennung einer solchen Verpflichtung darauf hinauslaufen würde, den am wenigsten den Marktbedingungen angepassten Unternehmen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Dass die Kommission in ihrer früheren Entscheidungspraxis den finanziellen Schwierigkeiten mancher Unternehmen Rechnung getragen hat, bedeutet nicht, dass sie verpflichtet wäre, dies in einer späteren Entscheidung ebenfalls zu tun.

Im Übrigen ist die Tatsache, dass eine Maßnahme einer Gemeinschaftsbehörde zum Konkurs oder zur Auflösung eines bestimmten Unternehmens führt, als solche gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden.

(vgl. Randnrn. 370, 372, 484)

24.    Ein absolutes Auskunftsverweigerungsrecht kann einem Unternehmen, an das ein Auskunftsverlangen im Sinne von Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 gerichtet wird, nicht zuerkannt werden. Die Anerkennung eines solchen Rechts ginge über das hinaus, was zur Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen erforderlich ist, und würde zu einer ungerechtfertigten Behinderung der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgabe führen, die Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu überwachen. Ein Auskunftsverweigerungsrecht kann nur insoweit anerkannt werden, als von dem betroffenen Unternehmen Antworten verlangt werden, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Nachweis zu erbringen hat.

Daher darf die Kommission, um die praktische Wirksamkeit von Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 zu erhalten, die Unternehmen zwingen, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihnen eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und erforderlichenfalls die in ihrem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn diese dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten zu erbringen. Diese Befugnis der Kommission, Auskünfte zu verlangen, steht weder in Widerspruch zu Artikel 6 Absätze 1 und 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention noch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Die Pflicht zur Beantwortung rein tatsächlicher Fragen der Kommission und zur Vorlage von ihr angeforderter vorhandener Unterlagen kann jedenfalls den tragenden Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und den Anspruch auf einen fairen Prozess nicht verletzen, die auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts einen Schutz bieten, der dem durch Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährten Schutz gleichwertig ist. Denn nichts hindert den Adressaten eines Auskunftsverlangens daran, später im Verwaltungsverfahren oder in einem Verfahren vor dem Gemeinschaftsrichter zu beweisen, dass die in seinen Antworten mitgeteilten Tatsachen oder die übermittelten Unterlagen eine andere als die ihnen von der Kommission beigemessene Bedeutung haben.

(vgl. Randnrn. 402-404, 406)

25.    Dass ein Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 an ein Unternehmen gerichtet wurde, kann nicht den Ausschlag dafür geben, die Kooperation des Unternehmens gemäß Abschnitt D Absatz 2, erster Gedankenstrich, der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen geringer zu bewerten.

(vgl. Randnr. 410)

26.    Mündliche Informationen, die ein Unternehmen der Kommission gibt, können brauchbare Beweismittel im Sinne von Abschnitt D Absatz 2, erster Gedankenstrich, der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen darstellen. Diese Bestimmung sieht nämlich vor, dass nicht nur „Unterlagen“, sondern auch „Informationen“ als „Beweismittel“ dienen können, die zur Feststellung des Vorliegens eines Verstoßes beitragen. Folglich müssen diese Informationen nicht zwingend in schriftlicher Form gegeben werden. Zum anderen ist der praktische Nutzen einer rein mündlichen Information unbestreitbar, wenn sie es der Kommission z. B. ermöglicht, unmittelbare Beweise für die Zuwiderhandlung zu finden, oder wenn sie aufgrund ihrer Genauigkeit die Kommission zur Fortführung einer Untersuchung ermutigt, die sie ohne diese Information mangels ausreichender zum fraglichen Zeitpunkt verfügbarer Beweise abgebrochen hätte.

(vgl. Randnrn. 430-431)

27.    Mit einer Herabsetzung der Geldbuße kann jede Zusammenarbeit belohnt werden, die es der Kommission ermöglicht hat, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung leichter festzustellen und diese gegebenenfalls abzustellen. Nach Abschnitt A Absatz 3 der Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen können Geldbußen für Unternehmen, die mit der Kommission zusammenarbeiten, „nicht oder niedriger festgesetzt werden“; diese Bestimmung verlangt nicht, dass sich jeder einzelne Bestandteil der Informationen auf eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht beziehen muss, die gesondert mit einer Sanktion belegt werden kann. Um von der genannten Mitteilung profitieren zu können, genügt es, dass sich das kooperationsbereite Unternehmen durch die Aufdeckung seiner Verwicklung in eine Zuwiderhandlung Sanktionen aussetzt, während die verschiedenen Bestandteile der Informationen im Rahmen einer etwaigen Herabsetzung der Geldbuße je nachdem berücksichtigt werden, welchen Nutzen sie für die Aufgabe der Kommission haben, das Vorliegen einer Zuwiderhandlung nachzuweisen und diese abzustellen.

Da ein illoyaler Beamter der Kommission in der Lage ist, deren Aufgabe zu sabotieren, wenn er die Mitglieder eines rechtswidrigen Kartells unterstützt, und somit die Untersuchung der Kommission erheblich erschweren kann, indem er z. B. Beweise vernichtet oder manipuliert, die Kartellmitglieder über eine bevorstehende unangekündigte Nachprüfung informiert und die gesamte Ermittlungsstrategie der Kommission offen legt, sind Informationen darüber, dass es einen solchen Beamten gibt, grundsätzlich geeignet, die Aufgabe der Kommission zu erleichtern, eine Zuwiderhandlung nachzuweisen und diese abzustellen. Der Nutzen solcher Informationen ist besonders groß, wenn sie zu Beginn der von der Kommission eingeleiteten Untersuchung möglicher wettbewerbswidriger Handlungen geliefert werden.

(vgl. Randnrn. 435-436)

28.    Die der Kommission gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 eingeräumte Befugnis umfasst das Recht, den Fälligkeitstermin für Geldbußen und den Beginn der Laufzeit der Verzugszinsen zu bestimmen sowie den Zinssatz für diese Zinsen und die Einzelheiten der Durchführung ihrer Entscheidung festzulegen, wobei sie gegebenenfalls die Stellung einer Bankbürgschaft verlangen kann, die die Hauptforderung und die Zinsen für die festgesetzten Geldbußen abdeckt. Hätte sie diese Befugnis nämlich nicht, so könnten die Unternehmen aus der verspäteten Zahlung der Geldbußen einen Vorteil ziehen, wodurch die Sanktionen abgeschwächt würden, die die Kommission im Rahmen ihrer Aufgabe, über die Anwendung der Wettbewerbsregeln zu wachen, verhängt hat. So ist die Berechnung von Verzugszinsen auf Geldbußen gerechtfertigt, um zu verhindern, dass die praktische Wirksamkeit des Vertrages durch einseitiges Verhalten von Unternehmen unterlaufen wird, die die Zahlung der Geldbußen hinauszögern, zu denen sie verurteilt worden sind, und um auszuschließen, dass diese Unternehmen gegenüber den Unternehmen einen Vorteil erlangen, die ihre Geldbußen zum festgesetzten Fälligkeitstermin zahlen.

(vgl. Randnrn. 475-476)