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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

4. März 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2005/214/JI – Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen oder Geldbußen, die gegen juristische Personen verhängt werden – Unvollständige Umsetzung eines Rahmenbeschlusses – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts – Umfang“

In der Rechtssache C‑183/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy Gdańsk-Południe w Gdańsku (Kreisgericht Danzig-Süd, Danzig, Polen) mit Entscheidung vom 26. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 9. März 2018, in dem Verfahren

Centraal Justitieel Incassobureau, Ministerie van Veiligheid en Justitie (CJIB)

gegen

Bank BGŻ BNP Paribas S.A.,

Beteiligte:

Prokuratura Rejonowa Gdańsk-Śródmieście w Gdańsku,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Bank BGŻ BNP Paribas S.A., vertreten durch M. Konieczny und M. Cymmerman, radcowie prawni,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und R. D. Gesztelyi als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. November 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und 2 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005, L 76, S. 16) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

2        Es ergeht im Rahmen eines vom Centraal Justitieel Incassobureau, Ministerie van Veiligheid en Justitie (CJIB) (Zentrales Justizinkassobüro des Ministeriums für Sicherheit und Justiz [CJIP], Niederlande) eingeleiteten Verfahrens wegen der Anerkennung und Vollstreckung einer Geldbuße, die vom Adm. Verwerking Flitsgegevens CJIB HA Leeuwarden (Dienststelle für die Bearbeitung von Flashdaten des CJIP in Leeuwarden, Niederlande) gegen die in Danzig (Polen) ansässige Zweigniederlassung der Bank BGŻ BNP Paribas S.A. mit Sitz in Warschau (Polen) verhängt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Rahmenbeschluss

3        Der Erwägungsgründe 1, 2 und 4 des Rahmenbeschlusses lauten:

„(1)      Der Europäische Rat unterstützte auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere [(Finnland)] den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der [Europäischen] Union werden sollte.

(2)      Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sollte für Geldstrafen oder Geldbußen von Gerichts- oder Verwaltungsbehörden gelten, um die Vollstreckung solcher Geldstrafen oder Geldbußen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie verhängt worden sind, zu erleichtern.

(4)      Dieser Rahmenbeschluss soll auch die wegen Zuwiderhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften verhängten Geldstrafen und Geldbußen erfassen.“

4        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses sieht in seinem Buchst. a vor:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Entscheidung‘ eine rechtskräftige Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße durch eine natürliche oder juristische Person …“

5        Art. 4 („Übermittlung von Entscheidungen und Einschaltung der zentralen Behörde“) des Rahmenbeschlusses bestimmt in seinem Abs. 1:

„Eine Entscheidung kann zusammen mit der in diesem Artikel vorgesehenen Bescheinigung den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats übermittelt werden, in dem die natürliche oder juristische Person, gegen die eine Entscheidung ergangen ist, über Vermögen verfügt oder Einkommen bezieht, sich in der Regel aufhält bzw., im Falle einer juristischen Person, ihren eingetragenen Sitz hat.“

6        Art. 5 („Anwendungsbereich“) des Rahmenbeschlusses bestimmt in seinem Abs. 1:

„Die folgenden Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten) führen – wenn sie im Entscheidungsstaat strafbar sind und so wie sie in dessen Recht definiert sind – gemäß diesem Rahmenbeschluss auch ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen:

–        …

–        gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise, einschließlich Verstößen gegen Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten und des Gefahrgutrechts,

–        …“

7        Art. 6 („Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„Die zuständigen Behörden im Vollstreckungsstaat erkennen eine gemäß Artikel 4 übermittelte Entscheidung ohne jede weitere Formalität an und treffen unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu deren Vollstreckung, es sei denn, die zuständige Behörde beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Artikel 7 geltend zu machen.“

8        Art. 9 („Für die Vollstreckung maßgebliches Recht“) Abs. 1 und 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)      Unbeschadet des Absatzes 3 und des Artikels 10 ist auf die Vollstreckung einer Entscheidung das Recht des Vollstreckungsstaats in derselben Weise anwendbar wie bei Geldstrafen oder Geldbußen, die vom Vollstreckungsmitgliedstaat verhängt werden. Nur die Behörden des Vollstreckungsstaats können über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen; dies gilt auch für die Gründe für die Einstellung der Vollstreckung.

(3)      Geldstrafen oder Geldbußen, die gegen juristische Personen verhängt werden, werden selbst dann vollstreckt, wenn der Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen im Vollstreckungsstaat nicht anerkannt ist.“

9        In Art. 20 („Umsetzung“) des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um diesem Rahmenbeschluss vor dem 22. März 2007 nachzukommen.

(2)      Jeder Mitgliedstaat kann für einen Zeitraum von bis zu 5 Jahren ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Rahmenbeschlusses dessen Anwendung

b)      bei juristischen Personen auf Entscheidungen, die sich auf Handlungen beziehen, für die ein europäischer Rechtsakt die Anwendung des Grundsatzes der Haftung juristischer Personen vorschreibt, beschränken.“

 Richtlinie (EU) 2015/413

10      In den Erwägungsgründen 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2015/413 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2015 zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Informationen über die Straßenverkehrssicherheit gefährdende Verkehrsdelikte (ABl. 2015, L 68, S. 9) heißt es:

„(1)      Die Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit ist ein vorrangiges Ziel der Verkehrspolitik der Union. Die Union verfolgt eine Politik zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit mit dem Ziel der Verringerung der Zahl der Toten und Verletzten und der Sachschäden. Ein wichtiger Bestandteil dieser Politik ist die konsequente Ahndung von in der Union begangenen Straßenverkehrsdelikten, die die Straßenverkehrssicherheit erheblich gefährden.

(2)      … Mit dieser Richtlinie wird angestrebt, dass … die Effektivität der Ermittlungen bei die Straßenverkehrssicherheit gefährdenden Verkehrsdelikten gewährleistet ist.“

11      Nach Art. 2 („Geltungsbereich“) dieser Richtlinie gilt diese u. a. bei Geschwindigkeitsübertretung.

12      Art. 4 („Verfahren für den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten“) der Richtlinie bestimmt in seinem Abs. 3 Unterabs. 3:

„Der Deliktsmitgliedstaat verwendet nach Maßgabe dieser Richtlinie die erhaltenen Daten, um die Person festzustellen, die persönlich für die in Artikel 2 der vorliegenden Richtlinie genannten, die Straßenverkehrssicherheit gefährdenden Verkehrsdelikte haftbar ist.“

 Polnisches Recht

 Strafprozessordnung

13      Die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses wurden durch die Kapitel 66a und 66b des Kodeks postępowania karnego (Strafprozessordnung) (im Folgenden: CPP) in polnisches Recht umgesetzt.

14      Art. 611ff in Kapitel 66b („Ersuchen eines Mitgliedstaats der [Union] um Vollstreckung einer rechtskräftig verhängten Geldsanktion“) CPP sieht vor:

„§ 1      Ersucht ein Mitgliedstaat der [Union] (‚Entscheidungsstaat‘ im Sinne der Bestimmungen dieses Kapitels) um die Vollstreckung einer rechtskräftigen Entscheidung zur Verhängung einer Geldsanktion, ist für die Vollstreckung der Sąd Rejonowy [(Kreisgericht, Polen)] zuständig, in dessen Gebiet der Täter Vermögen besitzt, Einkünfte erzielt oder seinen gewöhnlichen bzw. vorübergehenden Aufenthalt hat. Für die Zwecke dieses Kapitels bezeichnet der Begriff ‚Geldsanktion‘ die Verpflichtung des Täters zur Zahlung des in der Entscheidung genannten

1.      Geldbetrags als Strafe für eine begangene Straftat;

§ 6      Soweit in diesem Kapitel nichts anderes bestimmt ist, findet auf die Vollstreckung der in § 1 genannten Entscheidungen polnisches Recht Anwendung. …“

15      Art. 611fg CPP bestimmt:

„Die Vollstreckung einer Entscheidung nach Art. 611ff § 1 kann abgelehnt werden, wenn

1.      die Tat, derentwegen die Entscheidung ergangen ist, nach polnischem Recht keine Straftat darstellt, es sei denn, es handelt sich dabei nach dem Recht des Entscheidungsstaats um eine in Art. 607w genannte Straftat oder eine Straftat

c)      gegen die Verkehrssicherheit,

…“

16      Art. 611fh CPP bestimmt:

„§ 1      Das Gericht prüft die Vollstreckung der Geldsanktionen in einer Sitzung, an der der Staatsanwalt, der Täter, wenn er sich in der Republik Polen aufhält, und sein Verteidiger, falls er erscheint, teilnehmen können. Hat der Täter, der sich nicht in der Republik Polen aufhält, keinen Verteidiger, kann der Präsident des für die Strafsache zuständigen Gerichts einen Verteidiger von Amts wegen bestellen.

§ 2      Gegen die Entscheidung des Gerichts über die Vollstreckung einer Geldsanktion kann Beschwerde eingelegt werden.

§ 3      Eine mit einer Bescheinigung nach Art. 611ff § 2 versehene rechtkräftige Entscheidung über eine Geldsanktion stellt einen Vollstreckungstitel dar und kann nach der Vollstreckbarerklärung in der Republik Polen vollstreckt werden.

§ 4      Reichen die vom Entscheidungsstaat übermittelten Informationen nicht aus, um über die Vollstreckung der Geldsanktion zu befinden, ersucht das Gericht das zuständige Gericht oder eine andere Behörde des Entscheidungsstaats um ihre Vervollständigung innerhalb einer bestimmten Frist.

§ 5      Wird die in § 4 genannte Frist nicht eingehalten, fasst das Gericht den Vollstreckungsbeschluss auf der Grundlage der bis dahin übermittelten Informationen.“

 Gesetz über die Verantwortlichkeit nicht natürlicher Personen für strafbewehrte Handlungen

17      Die Ustawa o odpowiedzialności podmiotów zbiorowych za czyny zabronione pod groźbą kary (Gesetz über die Verantwortlichkeit nicht natürlicher Personen für strafbewehrte Handlungen) vom 28. Oktober 2002 (Dz. U. Nr. 197, Pos. 1661) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht in Abs. 2 vor:

„1.      Eine nicht natürliche Person ist … eine juristische Person oder eine Organisationseinheit ohne Rechtspersönlichkeit, der durch besondere Bestimmungen Rechtsfähigkeit verliehen wird; ausgenommen sind die Staatskasse, die regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften und deren Verbände.

2.      Eine nicht natürliche Person im Sinne des Gesetzes ist auch eine Handelsgesellschaft mit Beteiligung der öffentlichen Hand, einer regionalen oder lokalen Gebietskörperschaft oder deren Verbänden, eine Kapitalgesellschaft in Gründung, eine Einheit in Liquidation oder ein Unternehmer, der keine natürliche Person ist, sowie eine ausländische Organisationseinheit.“

18      Art. 22 dieses Gesetzes sieht vor:

„Sofern dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, gelten für das Verfahren betreffend die Verantwortlichkeit nicht natürlicher Personen für strafbare Handlungen die Bestimmungen der Strafprozessordnung sinngemäß. …“

 Ordnungswidrigkeitenverfahrensordnung

19      Der Kodeks postępowania w sprawach o wykroczenia (Ordnungswidrigkeitenverfahrensordnung) sieht in seinem Art. 116b § 1 vor:

„Für das bei einem Mitgliedstaat der [Union] eingehende Ersuchen auf Vollstreckung einer Geldbuße, einer zusätzlichen Geldstrafe oder Geldbuße, einer Schadensersatzpflicht oder einer Verpflichtung zur Vollstreckung einer von einem Gericht oder einer anderen Stelle eines Mitgliedstaats der [Union] verhängten Geldsanktion gelten die Bestimmungen der Kapitel 66a und 66b der Strafprozessordnung sinngemäß.“

 Ordnungswidrigkeitengesetz

20      Art. 92a in Kapitel XI („Verstöße gegen die Sicherheit und Ordnung im Verkehr“) des Kodeks Wykroczeń (Ordnungswidrigkeitengesetz) sieht vor:

„Die Überschreitung der gesetzlich oder durch ein Verkehrszeichen vorgeschriebenen Geschwindigkeit durch den Fahrzeugführer wird mit einer Geldbuße geahndet.“

 Zivilgesetzbuch

21      Nach Art. 33 des Kodeks cywilny (Zivilgesetzbuch) sind juristische Personen die Staatskasse und Organisationseinheiten, denen besondere Bestimmungen Rechtspersönlichkeit verleihen.

 Zivilprozessordnung

22      Art. 64 Abs. 1 des Kodeks postępowania cywilnego (Zivilprozessordnung) bestimmt, dass jede natürliche oder juristische Person berechtigt ist, im Verfahren als Partei aufzutreten (Parteifähigkeit). Er sieht auch vor, dass parteifähig auch Organisationseinheiten sind, die zwar keine Rechtspersönlichkeit besitzen, denen das Gesetz aber Rechtsfähigkeit verleiht.

 Gesetz über die Gewerbefreiheit

23      Art. 5 Nr. 4 der Ustawa o swobodzie działalności gospodarczej (Gesetz über die Gewerbefreiheit) vom 2. Juli 2004 (Dz. U. Nr. 173, Pos. 1807) definiert die „Zweigniederlassung“ als eine getrennte und organisatorisch selbständige Betriebsstätte des Unternehmers, die der Unternehmer außerhalb seines Sitzes oder seiner Hauptniederlassung betreibt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

24      Am 9. Juli 2017 beantragte das CJIB beim Sąd Rejonowy Gdańsk‑Południe w Gdańsku (Kreisgericht Danzig-Süd, Danzig, Polen) die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung der Dienststelle für die Bearbeitung von Flashdaten des CJIP in Leeuwarden vom 25. November 2016 (im Folgenden: Entscheidung vom 25. November 2016), mit der gegen die in Danzig ansässige Bank BGŻ BNP Paribas S.A. (im Folgenden: Bank BGŻ BNP Paribas Gdańsk), einer Zweigniederlassung der Bank BGŻ BNP Paribas mit Sitz in Warschau, eine Geldbuße in Höhe von 36 Euro verhängt wurde.

25      Die geahndete Handlung war am 13. November 2016 in Utrecht (Niederlande) begangen worden und bestand darin, dass der Fahrer eines auf den Namen der Bank BGŻ BNP Paribas Gdańsk zugelassenen Fahrzeugs die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 6 km/h überschritten hatte.

26      Aus der Bescheinigung, die das CJIP der Entscheidung vom 25. November 2016 beigefügt hatte, geht hervor, dass die Bank BGŻ BNP Paribas Gdańsk in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Verfahren nicht angehört wurde, sondern dass sie von ihrem Recht in Kenntnis gesetzt wurde, sich gegen die gegen sie vorgebrachten Vorwürfe zu verteidigen, innerhalb der gesetzten Frist jedoch keinen Einspruch eingelegt hatte. Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge wurde die Entscheidung vom 25. November 2016 am 6. Januar 2017 rechtskräftig und verjährt die Vollstreckung der durch diese Entscheidung verhängten Geldbuße nach niederländischem Recht am 6. Januar 2022.

27      Zur Prüfung des in Rn. 24 des vorliegenden Urteils genannten Antrags des CJIP beraumte das vorlegende Gericht eine mündliche Verhandlung an, zu der die Parteien des Ausgangsverfahrens nicht erschienen und in der sie keine Erklärungen abgaben.

28      Das vorlegende Gericht macht geltend, dass Kapitel 66b CPP, mit dem die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses in polnisches Recht umgesetzt worden seien, aufgrund des Verweises von Art. 116b Abs. 1 der Ordnungswidrigkeitenverfahrensordnung auf dieses Kapitel sowohl für die Vollstreckung von Entscheidungen in Straf- als auch für die Vollstreckung von Entscheidungen in Ordnungswidrigkeitssachen gelte.

29      Jedoch hält das vorlegende Gericht die Umsetzung des Rahmenbeschlusses in polnisches Recht für unvollständig, da sich im polnischen Recht nicht die dem Vollstreckungsstaat nach Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses auferlegte Verpflichtung finde, die Vollstreckung von gegen eine juristische Person verhängten Geldstrafen oder Geldbußen auch vorzunehmen, wenn dieser Staat den Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen nicht kenne.

30      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts bezieht sich Art. 611ff CPP auf den „Täter“ der strafbewehrten Handlung sowie auf „dessen gewöhnlichen oder vorübergehenden Aufenthalt“. Auch wenn der Begriff „Täter“ im üblichen Sinn weit ausgelegt werden und natürliche wie juristische Personen einschließen könne, führe eine systematische Auslegung dieses Begriffs im Licht der Systematik des CPP sowie das Fehlen eines Hinweises auf den satzungsmäßigen Sitz zu dem Schluss, dass der Begriff „Täter“ im Sinne von Art. 611ff CPP nur natürliche Personen erfasse.

31      Daher sei in den Art. 611ff ff. CPP nicht vorgesehen, dass eine Entscheidung zur Verhängung einer Geldsanktion gegen eine juristische Person vollstreckt werden könne.

32      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts sehe auch das Gesetz über die Verantwortlichkeit nicht natürlicher Personen für strafbewehrte Handlungen keine solche Möglichkeit vor, da es mit seinem auf straf- oder steuerrechtliche Zuwiderhandlungen beschränkten Anwendungsbereich für Ordnungswidrigkeiten, die von nicht natürlichen Personen begangen würden, nicht gelte.

33      Die unvollständige Umsetzung des Rahmenbeschlusses in die polnische Rechtsordnung führe daher dazu, dass es keine Vorschriften gebe, nach denen gegen juristische Personen verhängte Geldstrafen oder Geldbußen anerkannt oder vollstreckt werden könnten, was dazu führe, dass sich die polnischen Gerichte systematisch weigerten, Entscheidungen, mit denen solche Sanktionen verhängt würden, anzuerkennen und zu vollstrecken.

34      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, u. a. dem Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503), ergebe, dass die Rahmenbeschlüsse zwar keine unmittelbare Wirkung hätten, die nationalen Behörden und insbesondere die nationalen Gerichte, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entschieden, das nationale Recht jedoch im Einklang mit ihren Bestimmungen auslegen müssten, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen. Der Grundsatz der konformen Auslegung des nationalen Rechts könne indessen nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.

35      Eine weite Auslegung des Begriffs „Täter“, die, um die Vereinbarkeit des polnischen Rechts mit dem Rahmenbeschluss sicherzustellen, auch juristische Personen erfasse, laufe jedoch auf eine solche Auslegung contra legem hinaus.

36      Folglich fragt sich das vorlegende Gericht in seiner ersten Vorlagefrage, welche Folgen aus der Feststellung der Unvereinbarkeit des polnischen Rechts mit dem Rahmenbeschluss zu ziehen seien und, insbesondere, ob es in einem solchen Fall verpflichtet sei, die nationale Regelung unangewandt zu lassen, wenn sie nicht konform ausgelegt werden könne, oder sie in Ermangelung anderer, vereinbarer Vorschriften des nationalen Rechts durch die Regelung in diesem Rahmenbeschluss zu ersetzen.

37      In der zweiten Frage hinterfragt das vorlegende Gericht auch den Begriff „juristische Person“. Es weist insoweit darauf hin, dass die Zweigniederlassung einer juristischen Person nach polnischem Recht zwar im Handelsregister erwähnt werde, aber keinen eigenen Sitz habe. Trotz ihrer organisatorischen Unabhängigkeit habe die Zweigniederlassung keine von der Muttergesellschaft getrennte Rechtspersönlichkeit und sei vor Gericht nicht parteifähig. Dagegen fielen nach niederländischem Recht offensichtlich auch die Organisationseinheiten einer juristischen Person unter den Begriff „juristische Person“.

38      In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „juristische Person“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses als autonomer Begriff des Unionsrechts zu verstehen ist oder ob er nach dem Recht des Entscheidungsstaats oder dem des Vollstreckungsstaats auszulegen ist.

39      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist dieser Begriff nach dem Recht des Entscheidungsstaats auszulegen, da es Sache dieses Staates sei, eine Geldstrafe oder Geldbuße nach seinen eigenen Rechtsvorschriften zu verhängen.

40      Unter diesen Bedingungen hat der Sąd Rejonowy Gdańsk‑Południe w Gdańsku (Kreisgericht Danzig-Süd, Danzig) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und 2 Buchst. b des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass eine zum Zwecke der Vollstreckung übermittelte Entscheidung, mit der eine Geldstrafe oder Geldbuße gegen eine juristische Person verhängt wurde, auch dann im Vollstreckungsstaat vollstreckt werden muss, wenn die nationalen Bestimmungen, die diesen Rahmenbeschluss umsetzen, keine Möglichkeit vorsehen, eine gegen eine juristische Person verhängte Geldstrafe oder Geldbuße zu vollstrecken?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Ist der Ausdruck „juristische Person“ in Art. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses im Einklang mit

a)      den Vorschriften des Entscheidungsstaats (Art. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses),

b)      den Vorschriften des Vollstreckungsstaats (Art. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses) oder

c)      als ein autonomer Begriff des Unionsrechts

mit der Folge auszulegen, dass er auch eine Zweigniederlassung einer juristischen Person ungeachtet der Tatsache umfasst, dass die Zweigniederlassung einer juristischen Person im Vollstreckungsstaat keine Rechtspersönlichkeit besitzt?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur zweiten Frage

41      Mit seiner zweiten Frage, die zunächst zu beantworten ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „juristische Person“, der u. a. in Art. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses enthalten ist, nach dem Recht des Staates, der die Entscheidung zur Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße erlässt, oder dem Recht des Vollstreckungsstaats auszulegen ist oder ob er einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt.

42      Insoweit ist festzustellen, dass der Rahmenbeschluss den Begriff „juristische Person“ zwar nicht definiert, dass in seinen Bestimmungen jedoch mehrfach, insbesondere im Wortlaut seines Art. 1 Buchst. a und seines Art. 9 Abs. 3, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht hat, auf diesen Begriff Bezug genommen wird.

43      In Ermangelung einer solchen Definition ist für die Auslegung dieses Begriffs auf die allgemeine Systematik und den Zweck des Rahmenbeschlusses zu verweisen.

44      Was die allgemeine Systematik des Rahmenbeschlusses betrifft, sind in dessen Art. 5 die Straftaten und Ordnungswidrigkeiten aufgeführt, die auch ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen führen; ferner wird in dieser Vorschrift klargestellt, dass diese Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Recht des Entscheidungsstaats definiert sind. Wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus diesem Artikel, dass die Gesichtspunkte der Verantwortlichkeit für Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, insbesondere die anwendbare Sanktion und die Einheit, die von dieser Sanktion betroffen ist, durch das Recht des Entscheidungsstaats geregelt werden.

45      Dagegen ist auf die Vollstreckung einer Entscheidung, mit der eine Geldstrafe oder Geldbuße verhängt wird, nach Art. 9 des Rahmenbeschlusses das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar, was zum einen bedeutet, dass nur die Behörden dieses Staates für die Entscheidung über die Modalitäten der Vollstreckung und die Festlegung der damit zusammenhängenden Maßnahmen, einschließlich der Gründe für die Einstellung der Vollstreckung, zuständig sind, und zum anderen, dass Geldstrafen oder Geldbußen, die gegen juristische Personen verhängt werden, selbst dann zu vollstrecken sind, wenn der Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen im Vollstreckungsstaat nicht anerkannt ist.

46      Daraus folgt, dass nach der allgemeinen Systematik des Rahmenbeschlusses der Begriff „juristische Person“ nach dem Recht des Staates auszulegen ist, der die Entscheidung zur Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße erlässt.

47      Dieses Ergebnis wird durch den Zweck des Rahmenbeschlusses bestätigt.

48      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss, wie insbesondere aus seinen Art. 1 und 6 sowie seinen Erwägungsgründen 1 und 2 hervorgeht, darauf abzielt, einen wirksamen Mechanismus zur Anerkennung und grenzüberschreitenden Vollstreckung von rechtskräftigen Entscheidungen über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße durch eine natürliche oder juristische Person nach der Begehung einer der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses aufgezählten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten einzuführen (Urteile vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 27, und vom 5. Dezember 2019, Centraal Justitieel Incassobureau [Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen], C‑671/18, EU:C:2019:1054, Rn. 29).

49      Wie auch der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll der Rahmenbeschluss, ohne eine Harmonisierung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten vorzunehmen, durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung die Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen innerhalb dieser Staaten sicherstellen.

50      Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der der Systematik des Rahmenbeschlusses zugrunde liegt, bedeutet nach dessen Art. 6, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, eine Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße, die gemäß Art. 4 des Rahmenbeschlusses übermittelt wurde, ohne jede weitere Formalität anzuerkennen und unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Vollstreckung zu treffen, wobei die Gründe für die Ablehnung der Anerkennung oder Vollstreckung einer solchen Entscheidung eng auszulegen sind (Urteile vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 29, und vom 5. Dezember 2019, Centraal Justitieel Incassobureau [Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen], C‑671/18, EU:C:2019:1054, Rn. 31).

51      Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Sanktion, um deren Vollstreckung das CJIB ersuchte, formal gegen die Bank BGŻ BNP Paribas Gdańsk verhängt wurde, die eine Zweigniederlassung der Bank BGŻ BNP Paribas mit Sitz in Warschau ist und nach polnischem Recht weder Rechtspersönlichkeit noch Parteifähigkeit besitzt. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts könnte dieser Umstand in der Praxis zur Folge haben, dass die Vollstreckung einer Geldstrafe oder Geldbuße nach dem Rahmenbeschluss auf Antrag der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats unmöglich ist.

52      Es ist indessen darauf hinzuweisen, dass, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, eine Zweigniederlassung nach polnischem Recht keine von der Gesellschaft, zu der sie gehört, getrennte Rechtspersönlichkeit besitzt. Unter diesen Umständen scheint es vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht durchzuführenden Überprüfungen, dass die Handlungen der Bank BGŻ BNP Paribas Gdańsk der Bank BGŻ BNP Paribas zuzurechnen sind und die Sanktion als gegen diese verhängt angesehen werden kann. Die Vollstreckung der Sanktion kann daher nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats offensichtlich bei der Bank BGŻ BNP Paribas erfolgen.

53      Soweit die Zweigniederlassung und das Unternehmen, das sie besitzt, eine einzige juristische Einheit des polnischen Rechts darstellen, könnte daher die Zustellung der Entscheidung zur Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße gegen die Erstere mit der Zustellung der Entscheidung an die Letztere gleichgesetzt werden, die auch in der Vollstreckungsphase über Parteifähigkeit verfügt.

54      Darüber hinaus ist ganz allgemein darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2015/413, die bei Verstößen gegen die Straßenverkehrssicherheit und insbesondere bei Geschwindigkeitsüberschreitungen gelten, vorsehen, dass die Mitgliedstaaten im Geist der loyalen Zusammenarbeit den grenzüberschreitenden Austausch von Informationen über solche Verstöße erleichtern müssen, um die Verhängung von Sanktionen zu erleichtern, wenn diese Verstöße in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem das betreffende Fahrzeug zugelassen wurde, begangen wurden, und um auf diese Weise zur Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels beizutragen, das darin besteht, ein hohes Schutzniveau für alle Verkehrsteilnehmer in der Union zu gewährleisten.

55      Für diese Zwecke bringt es der grenzüberschreitende Informationsaustausch, wie auch vom Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge ausgeführt, mit sich, dass anhand der vom Zulassungsmitgliedstaat, vorliegend dem Vollstreckungsstaat, vorgelegten Daten nicht nur der Inhaber der Fahrzeugzulassung, sondern auch die nach nationalem Recht im Fall eines Straßenverkehrsdelikts verantwortliche Person identifiziert werden kann, um die Vollstreckung möglicher Geldstrafen oder Geldbußen zu erleichtern.

56      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Begriff „juristische Person“, der u. a. in Art. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses enthalten ist, nach dem Recht des Staates auszulegen ist, der die Entscheidung zur Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße erlässt.

 Zur ersten Frage

57      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Rahmenbeschluss dahin auszulegen ist, dass er ein Gericht eines Mitgliedstaats dazu verpflichtet, eine mit Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses unvereinbare Bestimmung des nationalen Rechts unangewandt zu lassen.

58      Wie sich aus den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses in ihrem Zusammenhang, insbesondere aus dessen Art. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 3, ergibt, muss eine gegen eine juristische Person verhängte Geldstrafe oder Geldbuße im Sinne dieses Rahmenbeschlusses vom Vollstreckungsstaat vollstreckt werden. Der Rahmenbeschluss, dessen Verbindlichkeit von der Rechtsprechung hervorgehoben wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 33 und 34), verpflichtet die Mitgliedstaaten daher, eine solche Geldstrafe oder Geldbuße unabhängig davon zu vollstrecken, ob die nationalen Rechtsvorschriften den Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen kennen.

59      In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet sei, eine Vorschrift des nationalen Rechts unangewandt zu lassen, wenn sie nicht konform ausgelegt werden könne, oder sie in Ermangelung anderer, vereinbarer Vorschriften des nationalen Rechts durch die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses selbst zu ersetzen.

60      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts u. a. den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 57).

61      Jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht ist, wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung unangewandt zu lassen, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Hingegen kann eine Bestimmung des Unionsrechts, die keine unmittelbare Wirkung hat, als solche im Rahmen eines dem Unionsrecht unterliegenden Rechtsstreits nicht geltend gemacht werden, um die Anwendung einer ihr entgegenstehenden Bestimmung des nationalen Rechts auszuschließen (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 62).

63      Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass die Verpflichtung eines nationalen Gerichts, eine Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewandt zu lassen, dann, wenn sie sich aus dem der letztgenannten Bestimmung zuerkannten Vorrang ergibt, gleichwohl unter der Bedingung steht, dass diese Bestimmung in dem bei diesem Gericht anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat. Daher ist ein nationales Gericht nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine Bestimmung seines nationalen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewandt zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 68).

64      Was den Rahmenbeschluss anbelangt, wurde dieser auf der Grundlage der ehemaligen dritten Säule der Union, und zwar gemäß Art. 31 Abs. 1 Buchst. a und Art. 34 Abs. 2 Buchst. b des EU-Vertrags erlassen. Da der Rahmenbeschluss nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert wurde, ergibt sich aus Art. 9 des den Verträgen beigefügten Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, dass seine Wirkungen weiterhin dem EU-Vertrag unterliegen und dass er daher keine unmittelbare Wirkung hat (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 69 und 70).

65      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt auch, dass die Rahmenbeschlüsse zwar keine unmittelbare Wirkung haben können, ihr zwingender Charakter für die nationalen Behörden aber gleichwohl eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung ihres innerstaatlichen Rechts ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse zur Folge hat (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66      Diese Behörden müssen das nationale Recht bei seiner Anwendung daher unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses auslegen, um die volle Wirksamkeit des betreffenden Rahmenbeschlusses zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihm verfolgten Zweck steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 73 und 77 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Der Grundsatz der konformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts hat jedoch bestimmte Grenzen, die darauf beruhen, dass zum einen eine Festlegung oder Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit derjenigen, die eine Zuwiderhandlung begangen haben, auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses unabhängig von einem zu seiner Durchführung erlassenen Gesetz (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2016, Ognyanov, C‑554/14, EU:C:2016:835, Rn. 63 und 64, sowie vom 29. Juni 2017, Popławski, C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 32) und zum anderen eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem nicht möglich ist (Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski, C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass ein nationales Gericht nicht davon ausgehen darf, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen kann, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt worden ist oder von den zuständigen nationalen Behörden auf diese Weise angewandt wird (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt erst recht in Bezug auf die Lehrmeinungen.

69      Im vorliegenden Fall ist erstens anzumerken, dass das vorlegende Gericht zwar feststellt, dass sich der Umstand, dass es das polnische Recht nicht im Einklang mit den Zielen des Rahmenbeschlusses auslegen könne, auch aus der nationalen Rechtsprechung, einschließlich der Rechtsprechung in der Rechtsmittelinstanz, und eines Teils der Lehrmeinungen ergebe, es sich jedoch nicht allein auf diese Gesichtspunkte stützen kann, um davon auszugehen, dass es dieses Recht nicht unionsrechtskonform auslegen könne.

70      Zweitens ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht entgegen den Ausführungen der polnischen Regierung und der Europäischen Kommission die Auffassung vertritt, dass eine Auslegung des polnischen Rechts zur Sicherstellung seiner Konformität mit dem Rahmenbeschluss darauf hinausliefe, dieses Recht contra legem auszulegen. Der in Art. 611ff § 1 CPP verwendete Begriff „Täter“ sei einer weiten Auslegung, die auch juristische Personen einschließe, nicht zugänglich. Darüber hinaus ermöglichte es keine innerstaatliche Vorschrift, auch nicht das Gesetz über die Verantwortlichkeit nicht natürlicher Personen für strafbewehrte Handlungen, das für Ordnungswidrigkeiten nicht gelte, die Vereinbarkeit des polnischen Rechts mit dem Rahmenbeschluss sicherzustellen.

71      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf die Auslegung nationaler Bestimmungen grundsätzlich gehalten ist, die sich aus der Vorlageentscheidung ergebenden Äußerungen zugrunde zu legen. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof nämlich nicht befugt, das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats auszulegen (Urteil vom 10. Januar 2019, ET, C‑97/18, EU:C:2019:7, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Es ist daher allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob das polnische Recht dahin ausgelegt werden kann, dass es die Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen zulässt, die im Einklang mit den Anforderungen nach Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses gegen juristische Personen verhängt worden sind.

73      Der Gerichtshof, der im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Fragen des vorlegenden Gerichts sachdienlich zu beantworten hat, kann jedoch auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der ihm unterbreiteten Erklärungen Hinweise geben, die geeignet sind, dem nationalen Gericht die Entscheidung zu ermöglichen (Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski, C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74      Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass nach den Ausführungen der polnischen Regierung und der Kommission die Bestimmungen des Kapitels 66b CPP eine geeignete Rechtsgrundlage für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über die Verhängung von Geldstrafen oder Geldbußen gegen juristische Personen wegen einer Ordnungswidrigkeit darstellen, da einer weiten Auslegung des Begriffs „Täter“ nichts entgegenstehe. Insbesondere ist die polnische Regierung der Ansicht, dass das Fehlen eines Verweises auf den Sitz in den Bestimmungen dieses Kapitels kein unüberwindliches Hindernis für eine solche Auslegung sei. Sie weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Kapitel 611ff § 1 CPP die Zuständigkeit für die Vollstreckung einer Geldstrafe auch zugunsten des Gerichts festlege, in dessen Zuständigkeitsbereich der „Täter“ über Vermögen oder Einkommen verfüge, wobei dieses Kriterium auf juristische Personen uneingeschränkt anwendbar sei.

75      Der Generalanwalt hat wie die polnische Regierung und die Kommission in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt, dass für die Auslegung des Begriffs „Täter“ im Sinne der Bestimmungen des CPP über die Vollstreckung von Geldsanktionen auf diesen Begriff im Sinne des materiellen Strafrechts nicht Bezug genommen zu werden brauche und dass dieser Begriff dahin ausgelegt werden könne, dass er auf die von einer rechtskräftigen Geldsanktion betroffene Einheit verweise, unabhängig davon, ob es sich hierbei um eine juristische oder eine natürliche Person handele.

76      Darüber hinaus lässt sich den Akten des Gerichtshofs entnehmen, dass verschiedene polnische Gerichte bereits Anträgen auf Vollstreckung von Geldstrafen oder Geldbußen stattgegeben haben, die in den Niederlanden für Straßenverkehrsdelikte gegen juristische Personen verhängt wurden.

77      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der vorstehenden Erwägungen zu prüfen, ob eine solche Auslegung des Begriffs „Täter“ im Rahmen von Kapitel 66b CCP möglich ist.

78      Schließlich ist anzumerken, dass eine solche Auslegung nicht zu einer möglichen Verschärfung der Verantwortlichkeit juristischer Personen führen würde, da der Umfang dieser Verantwortlichkeit durch das Recht des Entscheidungsstaats bestimmt wird.

79      Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass der Rahmenbeschluss dahin auszulegen ist, dass er ein Gericht eines Mitgliedstaats nicht dazu verpflichtet, eine mit Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses unvereinbare Bestimmung des nationalen Rechts unangewandt zu lassen, da diese Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat. Das vorlegende Gericht ist jedoch im Rahmen des Möglichen zu einer konformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet, um ein Ergebnis zu gewährleisten, das mit dem Zweck vereinbar ist, der mit diesem Rahmenbeschluss verfolgt wird.

 Kosten

80      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Der Begriff „juristische Person“, der u. a. in Art. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung enthalten ist, ist nach dem Recht des Staates auszulegen, der die Entscheidung zur Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße erlässt.

2.      Der Rahmenbeschluss 2005/214 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er ein Gericht eines Mitgliedstaats nicht dazu verpflichtet, eine mit Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung unvereinbare Bestimmung des nationalen Rechts unangewandt zu lassen, da diese Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat. Das vorlegende Gericht ist jedoch im Rahmen des Möglichen zu einer konformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet, um ein Ergebnis zu gewährleisten, das mit dem Zweck vereinbar ist, der mit dem Rahmenbeschluss 2005/214 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung verfolgt wird.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.