Language of document : ECLI:EU:C:2021:1034

Verbundene Rechtssachen C357/19, C379/19, C547/19, C811/19 und C840/19

Strafverfahren

gegen

PM u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen,
eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie sowie vom Tribunalul Bihor)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. Dezember 2021

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption – Natur und Rechtswirkungen – Verbindlichkeit für Rumänien – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Korruptionsbekämpfung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Art. 325 Abs. 1 AEUV – ‚PIF‘‑Übereinkommen – Strafverfahren – Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) über die Rechtmäßigkeit der Erhebung bestimmter Beweise und die Besetzung von Spruchkörpern im Bereich der schweren Korruption – Verpflichtung der nationalen Richter, den Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) volle Wirksamkeit zu verschaffen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Entscheidungen – Befugnis, Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unangewendet zu lassen – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts“

1.        Recht der Europäischen Union – Werte und Ziele der Union – Werte – Achtung der Rechtsstaatlichkeit – Bedeutung – Beitritt zur Union – Vertrag über den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union – Verfahren für Zusammenarbeit und Überprüfung – Entscheidung 2006/928 – Verbindlichkeit – Umfang – Berücksichtigung der von der Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte

(Art. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 19 und Art. 49 EUV; Art. 288 Abs. 4 AEUV; Beitrittsvertrag von 2005, Art. 2, 37 und 38 sowie Anhang IX; Entscheidung 2006/928 der Kommission, Erwägungsgründe 2 bis 6 und 9 sowie Art. 1, 2 und 4 und Anhang)

(vgl. Rn. 156, 158-165, 167-175, Tenor 1)

2.        Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame und abschreckende Sanktionen festzulegen – Begriff des Betrugs und der sonstigen rechtswidrigen Handlungen – Korruption – Korruptionsversuch – Einbeziehung

(Art. 325 Abs. 1 AEUV; Beitrittsvertrag von 2005, Anhang IX; Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1; Entscheidung 2006/928 der Kommission)

(vgl. Rn. 181-189)

3.        Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame und abschreckende Sanktionen festzulegen – Umfang – Nationale Regelung oder Praxis, die zur erneuten Prüfung von Urteilen über die Verurteilung im Bereich des Betrugs und der Korruption verpflichtet – Systemische Gefahr der Straflosigkeit – Unzulässigkeit

(Art. 325 Abs. 1 AEUV; Beitrittsvertrag von 2005, Anhang IX; Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Art. 1 Abs. 1 und Art. 2; Entscheidung 2006/928 der Kommission)

(vgl. Rn. 190-194, 197, 200-203, 213, Tenor 2)

4.        Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame und abschreckende Sanktionen festzulegen – Umfang – Pflicht des nationalen Gerichts – Beachtung der Grundrechte – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Umfang – Bestimmung der für Korruptionssachen zuständigen Richter durch Losentscheid – Spezialisierung der Richter in Korruptionssachen – Anwendung eines nationalen Schutzstandards, der eine systemische Gefahr der Straflosigkeit birgt – Unzulässigkeit

(Art. 325 Abs. 1 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 Abs. 2, Art. 51 Abs. 1 und Art. 53; Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Art. 1 Abs. 1 und Art. 2; Entscheidung 2006/928 der Kommission)

(vgl. Rn. 204-206, 211-213, Tenor 2)

5.        Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Tragweite

(Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 Abs. 2; Entscheidung 2006/928, dritter Erwägungsgrund und Anhang)

(vgl. Rn. 217-226)

6.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Beachtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Rechtsprechung mit Verfassungsrang, die die ordentlichen Gerichte bindet – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Beachtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung – Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts

(Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Entscheidung 2006/928, dritter Erwägungsgrund und Anhang)

(vgl. Rn. 227-230, 232-234, 236, 242, 263, Tenor 3)

7.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Beachtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der Richter – Umfang – Nationale Regelung, die die Auslösung dieser Verantwortlichkeit im Fall der Nichtbeachtung der Rechtsprechung mit Verfassungsrang vorsieht – Unzulässigkeit

(Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Entscheidung 2006/928, dritter Erwägungsgrund und Anhang)

(vgl. Rn. 238-242, 263, Tenor 3)

8.        Recht der Europäischen Union – Vorrang – Tragweite – Auslegung – Ausschließliche Zuständigkeit des Unionsrichters

(Art. 19 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 245-254)

9.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz gewährleistet ist – Beachtung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit – Vorrang – Unmittelbare Wirkung – Pflichten der nationalen Gerichte – Nationale Regelung, die es einem ordentlichen Gericht unter Androhung einer Disziplinarsanktion verbietet, die gegen das Unionsrecht verstoßende Rechtsprechung mit Verfassungsrang unangewendet zu lassen – Unzulässigkeit

(Art. 4 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV; Art. 267 und Art. 325 und Abs. 1 AEUV; Entscheidung 2006/928 der Kommission, Anhang)

(vgl. Rn. 256-260, 262, 263, Tenor 4)

Zusammenfassung

Das Unionsrecht steht der Anwendung einer Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs entgegen, wenn diese in Verbindung mit den nationalen Verjährungsvorschriften eine systemische Gefahr der Straflosigkeit begründet

Der Vorrang des Unionsrechts verlangt, dass die nationalen Gerichte befugt sind, eine Entscheidung eines Verfassungsgerichts, die gegen das Unionsrecht verstößt, unangewendet zu lassen, ohne insbesondere Gefahr zu laufen, disziplinarrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden

Die vorliegenden Rechtssachen haben sich aus der Justizreform im Bereich der Korruptionsbekämpfung in Rumänien ergeben, die bereits Gegenstand eines früheren Urteils des Gerichtshofs war(1). Diese Reform wird seit 2007 auf der Ebene der Europäischen Union gemäß dem Verfahren für Zusammenarbeit und Überprüfung (im Folgenden: VZÜ), das durch die Entscheidung 2006/928(2) anlässlich des Beitritts Rumäniens zur Union eingeführt worden ist, überwacht.

Im Rahmen dieser Rechtssachen stellt sich die Frage, ob die Anwendung der Rechtsprechung aus verschiedenen Entscheidungen der Curtea Constituțională a României (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) betreffend die im Bereich Betrug und Korruption geltenden Strafverfahrensvorschriften möglicherweise gegen das Unionsrecht verstößt, insbesondere gegen die Bestimmungen des Unionsrechts zum Schutz der finanziellen Interessen der Union, die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit und den Wert der Rechtsstaatlichkeit sowie den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts.

Was die Rechtssachen C‑357/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19 anbelangt, so hatte die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien, im Folgenden OKGH) mehrere Personen, darunter ehemalige Parlamentarier und Minister, wegen Straftaten des Mehrwertsteuerbetrugs sowie der Korruption und der Einflussnahme, insbesondere im Zusammenhang mit der Verwaltung von Unionsmitteln, verurteilt. Der Verfassungsgerichtshof erklärte diese Entscheidungen wegen rechtswidriger Besetzung der Spruchkörper für nichtig, was er zum einen damit begründete, dass die Fälle, in denen der OKGH in erster Instanz entschieden habe, von einem in Korruptionssachen spezialisierten Spruchkörper hätten verhandelt werden müssen(3), und zum anderen damit, dass in den Fällen, in denen der OKGH in der Berufung entschieden habe, sämtliche Richter des Spruchkörpers durch Losentscheid hätten bestimmt werden müssen(4).

Was die Rechtssache C‑379/19 anbelangt, so wurde vor dem Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor, Rumänien) die Strafverfolgung gegen mehrere Personen eingeleitet, denen Straftaten der Korruption und der Einflussnahme vorgeworfen werden. Im Rahmen eines Antrags auf Ausschluss von Beweismitteln steht dieses Gericht vor der Frage der Anwendung einer Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, mit der die unter Beteiligung des rumänischen Nachrichtendienstes erfolgte Erhebung von Beweisen in Strafsachen für verfassungswidrig erklärt wurde, was den rückwirkenden Ausschluss der betreffenden Beweise aus dem Strafverfahren zur Folge hat(5).

Vor diesem Hintergrund möchten der OKGH und das Landgericht Bihor vom Gerichtshof wissen, ob diese Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs mit dem Unionsrecht vereinbar sind(6). Das Landgericht Bihor hat zunächst die Frage aufgeworfen, ob das VZÜ und die von der Kommission im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichte verbindlich sind(7). Des Weiteren hat der OKGH die Frage nach einer möglichen systemischen Gefahr der Straflosigkeit im Bereich der Bekämpfung von Betrug und Korruption aufgeworfen. Schließlich haben diese Gerichte auch die Frage aufgeworfen, ob die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und der richterlichen Unabhängigkeit es ihnen erlauben, eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs unangewendet zu lassen, obwohl nach rumänischem Recht die Nichtbeachtung einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs durch Richter ein Disziplinarvergehen darstellt.

Würdigung durch den Gerichtshof

Verbindlichkeit des VZÜ

Der Gerichtshof (Große Kammer) hat seine Rechtsprechung aus einem früheren Urteil, wonach das VZÜ in allen seinen Teilen für Rumänien verbindlich ist(8), bestätigt. Folglich sind für Rumänien die vor seinem Beitritt zur Union erlassenen Rechtsakte seit seinem Beitritt bindend. Dies ist bei der Entscheidung 2006/928 der Fall, die für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich ist, solange sie nicht aufgehoben worden ist. Die Vorgaben, die die Beachtung der Rechtsstaatlichkeit sicherstellen sollen, sind ebenfalls verbindlich. Rumänien ist daher verpflichtet, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, und hat dabei die in den von der Kommission erstellten Berichten formulierten Empfehlungen zu berücksichtigen(9).

Verpflichtung, wirksame und abschreckende Sanktionen für Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder Korruptionsdelikte vorzusehen

Das Unionsrecht steht der Anwendung einer Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, die die Nichtigerklärung von Urteilen zur Folge hat, die von nicht ordnungsgemäß besetzten Spruchkörpern erlassen wurden, entgegen, wenn diese Rechtsprechung in Verbindung mit den nationalen Verjährungsvorschriften eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten begründet.

Der Gerichtshof hat zunächst festgestellt, dass die Vorschriften über die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, insbesondere die Vorschriften über die Besetzung der Spruchkörper in Betrugs- und Korruptionssachen, zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, aber darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben.

Zu diesen Verpflichtungen gehört die Bekämpfung aller die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigenden rechtswidrigen Handlungen, was Korruptionsdelikte mitumfasst, durch abschreckende und wirksame Maßnahmen(10). Was Rumänien anbelangt, so wird diese Verpflichtung durch die aus der Entscheidung 2006/928 resultierende Verpflichtung dieses Mitgliedstaats zur wirksamen Bekämpfung der Korruption, insbesondere der Korruption auf höchster Ebene, ergänzt.

Das sich daraus ergebende Erfordernis der Effektivität erstreckt sich zwangsläufig sowohl auf die Verfolgung und Ahndung dieser Straftaten als auch auf die Vollstreckung der verhängten Strafen, da die Sanktionen für die Straftaten des Betrugs zum Nachteil dieser Interessen sowie der Korruption im Allgemeinen nicht wirksam und abschreckend sein können, wenn sie nicht wirksam vollstreckt werden. Sodann hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber obliegt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die für diese Straftaten geltenden Verfahrensvorschriften keine systemische Gefahr der Straflosigkeit darstellen. Die nationalen Gerichte müssen innerstaatliche Rechtsvorschriften, die der Verhängung wirksamer und abschreckender Strafen entgegenstehen, unangewendet lassen.

Im vorliegenden Fall hat die Anwendung der in Rede stehenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zur Folge, dass die betreffenden Betrugs- und Korruptionsfälle erneut, gegebenenfalls mehrmals, in erster Instanz und/oder in der Berufungsinstanz geprüft werden müssen. Angesichts ihrer Komplexität und Dauer hat eine solche erneute Prüfung zwangsläufig zur Folge, dass die Dauer der entsprechenden Strafverfahren verlängert wird. Indes hatte sich Rumänien verpflichtet, die Verfahrensdauer für Korruptionsfälle zu verkürzen. Überdies dürfen in Anbetracht der spezifischen Verpflichtungen, die Rumänien nach der Entscheidung 2006/928 obliegen, die nationalen Vorschriften und die nationale Praxis in diesem Bereich nicht dazu führen, dass sich die Dauer der Ermittlungen bei Korruptionsdelikten verlängert oder in irgendeiner anderen Weise die Bekämpfung der Korruption geschwächt wird(11). Zudem könnte eine erneute Prüfung der betreffenden Fälle in Anbetracht der nationalen Verjährungsvorschriften zur Verjährung der Straftaten führen und eine wirksame und abschreckende Sanktionierung von Personen verhindern, die die höchsten Ämter des rumänischen Staates bekleiden und wegen der Begehung schwerer Betrugs- und/oder Korruptionstaten in Ausübung ihres Amtes verurteilt wurden. Dadurch würde die Gefahr der Straflosigkeit für diese Gruppe von Personen systemisch werden und das Ziel der Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene in Frage stellen.

Schließlich hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung, sicherzustellen, dass solche Straftaten Gegenstand wirksamer und abschreckender Strafen sind, das vorlegende Gericht nicht von der Prüfung der notwendigen Beachtung der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechte entbindet, ohne dass dieses Gericht einen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte anwenden dürfte, der eine solche systemische Gefahr der Straflosigkeit mit sich bringen würde. Die sich aus dieser Vorschrift ergebenden Erfordernisse stehen einer etwaigen Nichtanwendung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zur Spezialisierung und Besetzung der Spruchkörper in Korruptionssachen aber nicht entgegen.

Garantie der richterlichen Unabhängigkeit

Das Unionsrecht steht dem nicht entgegen, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs für die ordentlichen Gerichte bindend sind, sofern die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive gewährleistet ist. Hingegen steht das Unionsrecht dem entgegen, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der nationalen Richter durch jegliche Nichtbeachtung solcher Entscheidungen ausgelöst wird.

Erstens muss, da schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, einem Rechtsstaat inhärent ist, jedes Gericht, das Unionsrecht anzuwenden oder auszulegen hat, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden. Dazu ist die Unabhängigkeit der Gerichte von grundlegender Bedeutung. Insoweit müssen die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, geschützt sein. Außerdem ist nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten.

Zweitens weist der Gerichtshof darauf hin, dass, auch wenn das Unionsrecht den Mitgliedstaaten kein konkretes verfassungsrechtliches Modell vorgibt, das die Beziehungen zwischen den verschiedenen Staatsgewalten regeln würde, die Mitgliedstaaten gleichwohl insbesondere die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit der Gerichte beachten müssen. Unter diesen Umständen können die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs für die ordentlichen Gerichte bindend sein, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive gewährleistet. Wenn dagegen das nationale Recht diese Unabhängigkeit nicht gewährleistet, steht das Unionsrecht einer solchen nationalen Regelung oder Praxis entgegen, da ein solches Verfassungsgericht nicht in der Lage ist, den nach dem Unionsrecht erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten.

Drittens muss die Disziplinarregelung zum Zweck der Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte die erforderlichen Garantien aufweisen, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit kann ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen. Die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung muss auf ganz außergewöhnliche Fälle beschränkt bleiben und durch Garantien beschränkt sein, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden. Eine nationale Regelung, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann, erfüllt diese Voraussetzungen nicht.

Vorrang des Unionsrechts

Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts steht dem entgegen, dass es nationalen Gerichten unter Androhung von Disziplinarsanktionen untersagt ist, Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, die gegen das Unionsrecht verstoßen, unangewendet zu lassen.

Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass er in seiner Rechtsprechung zum EWG-Vertrag den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts entwickelt hat, der den Vorrang dieses Rechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten begründet. Hierzu hat er festgestellt, dass die Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den EWG-Vertrag, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommen wurde, zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten weder gegen diese Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen geltend machen können noch dem aus dem EWG-Vertrag hervorgegangenen Recht Vorschriften des nationalen Rechts gleich welcher Art entgegensetzen können. Andernfalls würde diesem Recht sein Gemeinschaftscharakter aberkannt und die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt. Außerdem würde es eine Gefahr für die Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags bedeuten und hätte es eine nach diesem Vertrag verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zur Folge, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. Daher hat der Gerichtshof festgestellt, dass der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft darstellt und dass die wesentlichen Merkmale der so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft insbesondere ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen sind.

Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass diese wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Union und die Bedeutung der ihr geschuldeten Achtung durch die vorbehaltlose Ratifizierung der Verträge zur Änderung des EWG-Vertrags und insbesondere des Vertrags von Lissabon bestätigt wurden. Bei der Annahme dieses Vertrags hat die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten nämlich in ihrer Erklärung Nr. 17 zum Vorrang, die der Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon angenommen hat, beigefügt ist, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.

Außerdem hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die Gleichheit der Mitgliedstaaten achtet, was ihr aber nur möglich ist, wenn es den Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unmöglich ist, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof weiter festgestellt, dass es bei der Ausübung seiner ausschließlichen Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts ihm obliegt, die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu präzisieren, da diese Tragweite weder von einer Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung durch den Gerichtshof entspricht, abhängen darf.

Die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts sind nämlich für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten. Die nationalen Gerichte sind verpflichtet, jede nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet zu lassen, ohne dass sie die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müssten.

Ferner stellt für die nationalen Richter der Umstand, dass sie keinen Disziplinarverfahren oder ‑sanktionen für die Ausübung der – in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden – Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV ausgesetzt sind, eine wesentliche Garantie für ihre Unabhängigkeit dar. Somit kann in dem Fall, dass ein Richter eines nationalen ordentlichen Gerichts im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sein sollte, dass die Rechtsprechung des nationalen Verfassungsgerichts nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, der Umstand, dass dieser nationale Richter diese Rechtsprechung unangewendet lässt, nicht seine disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen.


1      Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393).


2      Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56).


3      Urteil Nr. 417/2019 vom 3. Juli 2019.


4      Urteil Nr. 685/2018 vom 7. November 2018.


5      Urteile Nr. 51/2016 vom 16. Februar 2016, Nr. 302/2017 vom 4. Mai 2017 und Nr. 26/2019 vom 16. Januar 2019.


6      Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 2 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Anhang zum Rechtsakt des Rates vom 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 48) und Entscheidung 2006/928.


7      Gemäß dem Urteil Nr. 104/2018 des Verfassungsgerichtshofs vom 6. März 2018 kann die Entscheidung 2006/928 keine Bezugsnorm im Rahmen einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nach Art. 148 der Verfassung Rumäniens darstellen.


8      Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393).


9      Gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.


10      Nach Art. 325 Abs. 1 AEUV.


11      Ziff. I Nr. 5 des Anhangs IX der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203).