Language of document : ECLI:EU:C:2024:130

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 8. Februar 2024(1)

Rechtssache C35/23 [Greislzel](i)

Vater

gegen

Mutter,

Beteiligte:

Kind L,

Verfahrensbeiständin

(Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, Deutschland)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Elterliche Verantwortung – Internationale gerichtliche Zuständigkeit bei Kindesentführung – Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in einem Mitgliedstaat vor dem widerrechtlichen Verbringen – Widerrechtliches Verbringen in einen Mitgliedstaat – Rückführungsverfahren aus einem Mitgliedstaat in einen Drittstaat (Schweiz) – Haager Konvention von 1980“






1.        Mit der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003(2) hat der Unionsgesetzgeber u. a. geregelt, welche Gerichte zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Kindesentführungen innerhalb der Europäischen Union zuständig sind.

2.        In diesem Zusammenhang zielen die Vorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003 einerseits darauf ab, Entführungen (widerrechtliches Verbringen oder widerrechtliches Zurückhalten) von Kindern zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern, zum anderen sollen sie dafür sorgen, dass bei solchen Entführungen unverzüglich die Rückgabe des Kindes erfolgt(3).

3.        Der Gerichtshof hat Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bisher in mehreren Vorabentscheidungsersuchen ausgelegt(4). In keinem dieser Fälle ging es jedoch um die Anwendung dieses Artikels, wenn – wie hier – die Rückführung des Kindes in einen Drittstaat (die Schweiz) beantragt wird, in dem das Kind außerdem nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem widerrechtlichen Verbringen hatte.

4.        Der Gerichtshof hat sich auch zum Verhältnis zwischen der Verordnung Nr. 2201/2003 und dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 geäußert(5). Bisher musste er dagegen meines Wissens noch nicht klären, welche Auswirkungen ein auf dieses Übereinkommen gestützter Antrag auf Rückgabe des Kindes auf die Bestimmung der Zuständigkeit zur Entscheidung über einen nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 gestellten Sorgerechtsantrag haben könnte.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Haager Übereinkommen von 1980

5.        Nach der Präambel bezweckt dieses Übereinkommen, das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen.

6.        Art. 12 Abs. 1 und 2 sieht vor:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.“

B.      Unionsrecht. Verordnung Nr. 2201/2003

7.        In den Erwägungsgründen 12 und17 heißt es:

„(12)      Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(17)      Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das [Haager Übereinkommen von 1980], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. …“

8.        Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) bestimmt:

„(1)      Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)      Abs. 1 gilt vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12.“

9.        Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) bestimmt:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird,

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“.

10.      In Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) heißt es:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

…“.

II.    Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11.      Im März 2013 schlossen die Eltern (der Vater besitzt die deutsche, die Mutter die polnische Staatsangehörigkeit) von L in Deutschland, dem Land, in dem sie zunächst zusammenlebten, die Ehe.

12.      Im Juni 2013 zog der Vater berufsbedingt in die Schweiz. L wurde am 12. November 2014 in der Schweiz geboren und besitzt die deutsche und die polnische Staatsangehörigkeit.

13.      Von Januar 2015 bis Anfang April 2016 lebte L mit der Mutter in Deutschland. Der Vater besuchte Mutter und Kind regelmäßig in Deutschland, auch wurden gemeinsame Urlaube verbracht.

14.      Am 9. April 2016 verzog die Mutter mit L nach Polen. Zunächst fanden Besuche des Vaters bei L in Polen statt.

15.      Ab dem 17. April 2017 verweigerte die Mutter dem Vater den Umgang mit L und meldete L ohne Zustimmung des Vaters in einem Kindergarten in Polen an.

16.      Ende Mai 2017 teilte die Mutter dem Vater mit, dass sie und L in Polen blieben.

17.      Am 7. Juli 2017 beantragte der Vater bei den polnischen Gerichten über die Schweizer Zentrale Behörde (Bundesamt für Justiz in Bern, Schweiz) die Rückgabe von L in die Schweiz.

18.      Am 8. Dezember 2017 wies der Sąd Rejonowy Krakowa-Nowej Huty (Rayongericht Krakau – Nowa Huta, Polen) den Rückgabeantrag des Vaters mit der Begründung zurück, dieser habe ein zeitlich unbegrenztes Verbringen von L mit ihrer Mutter nach Polen erlaubt. Außerdem bestehe im Falle einer Rückführung eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Buchst. b des Haager Übereinkommens von 1980.

19.      Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung des Vaters wurde mit Beschluss des Sąd Okręgowy Krakowa (Regionalgericht Krakau, Polen) vom 17. April 2018 zurückgewiesen.

20.      Die Mutter leitete mit Antrag vom 27. September 2017 in Polen ein Scheidungsverfahren ein. Am 5. Juni 2018 sprach der Sąd Okręgowy Krakowa (Regionalgericht Krakau) der Mutter vorläufig die elterliche Sorge für das gemeinsame Kind zu und regelte die Unterhaltsverpflichtung des Vaters.

21.      Am 29. Juni 2018 stellte der Vater beim Bundesamt für Justiz in Bonn einen Antrag auf Rückgabe von L auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980. Diesen Antrag nahm er später zurück.

22.      Am 13. Juli 2018 leitete der Vater beim Amtsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) das Ausgangsverfahren dieses Vorabentscheidungsersuchens ein. Mit seinem dort am 13. Juli 2018 eingereichten Antrag begehrte er:

–      in erster Linie (Punkt I seiner Anträge), ihm das alleinige Sorgerecht für L, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen und

–      außerdem (Punkt II der Anträge), die Mutter zu verpflichten, das Kind ab der Wirksamkeit des Beschlusses in die Schweiz zurückzugeben.

23.      In diesem Rechtsstreit

–      trug der Vater vor, die Kindeseltern hätten 2015 vereinbart, künftig mit L in der Schweiz zu leben. Im April 2016 habe die Mutter beschlossen, für eine vorübergehende Zeit nach Polen zu gehen. Er habe dazu seine Zustimmung erteilt, habe die Dauer des Aufenthalts in Polen aber ausdrücklich beschränkt(6).

–      Die Mutter trat diesem Vorbringen entgegen. Der Vater habe in das Verbringen von L nach Polen eingewilligt, ohne dass die beiden vereinbart hätten, dass dieses Verbringen zeitlich befristet sei. Auch habe es keine Vereinbarung über ein künftiges Verbringen in die Schweiz gegeben.

24.      Am 3. Juni 2019 wies das Amtsgericht Frankfurt am Main den Antrag des Vaters wegen fehlender internationaler Zuständigkeit zurück. Nach Auffassung des Gerichts hat der Vater eine konkrete Vereinbarung über einen befristeten Aufenthalt von L in Polen nicht nachgewiesen. Seine Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 9. Mai 2019 stünden im Widerspruch zu seinem früheren Vortrag im Schriftsatz vom 3. August 2018: Aus diesem ergebe sich, dass die Eltern noch im Mai 2017 ergebnisoffen über die Dauer des Aufenthalts in Polen kommuniziert hätten.

25.      Am 8. Juli 2019 legte der Vater gegen das erstinstanzliche Urteil Beschwerde beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) ein. Im Rahmen dieses Rechtsmittels wiederholte er die im ersten Rechtszug vorgetragenen Argumente und führte dazu aus:

–      Die Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszugs ergebe sich aus Art. 11 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 7 und Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003. In seinem Beschluss vom 8. Dezember 2017 habe der Sąd Rejonowy Krakowa-Nowej Huty (Rayongericht Krakau – Nowa Huta) darauf hingewiesen, dass der Aufenthaltsort von L vor dem Verbringen nach Polen nicht in der Schweiz, sondern in Deutschland gelegen habe.

–      In diesem Fall fänden die Grundsätze des Verfahrens nach dem Haager Übereinkommen von 1980 Anwendung. Danach müsse derjenige, der die Rückgabe des Kindes ablehne, beweisen, dass der (gemeinsam) Sorgeberechtigte dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt habe. Den Nachweis für eine zeitlich unbeschränkte Zustimmung des Vaters habe die Mutter nicht erbracht.

26.      Der Vater stellte außerdem einen Antrag auf Vorlage zur Vorabentscheidung, dem das Oberlandesgericht Frankfurt am Main stattgab; es hat dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

Inwieweit ist der Regelungsmechanismus in Art. 10 und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 beschränkt auf Verfahren im Verhältnis von EU-Mitgliedstaaten zueinander?

Konkret:

1.      Gelangt Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zur Anwendung mit der Folge einer fortdauernden Zuständigkeit der Gerichte im bisherigen Aufenthaltsstaat, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem EU-Mitgliedstaat (Deutschland) hatte und das Rückführungsverfahren nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen zwischen einem EU-Mitgliedstaat (Polen) und einem Drittstaat (Schweiz) geführt und in diesem Verfahren die Rückführung des Kindes abgelehnt wurde?

Soweit Frage 1 bejaht wird:

2.      Welche Anforderungen sind im Rahmen von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 an die Darlegung der fortdauernden Zuständigkeit zu stellen?

3.      Gelangen Art. 11 Abs. 6 bis 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 auch bei Durchführung eines Rückführungsverfahrens nach dem Haager Übereinkommen im Verhältnis zwischen einem Drittstaat und einem EU-Mitgliedstaat als Zufluchtsstaat zur Anwendung, soweit das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem anderen EU-Mitgliedstaat hatte?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

27.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 25. Januar 2023 beim Gerichtshof eingegangen.

28.      Die deutsche und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten sowie der Vater des Kindes haben an der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 2023 teilgenommen.

IV.    Würdigung

29.      Auf Ersuchen des Gerichtshofs werde ich mich auf die zweite Vorlagefrage konzentrieren, die die gemäß Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 erforderlichen Voraussetzungen zur Bestimmung des zuständigen Gerichts unter Umständen wie den hier vorliegenden betrifft(7).

30.      Ich gliedere meine Ausführungen folgendermaßen:

–      In einem ersten Abschnitt werde ich kurz auf die Regeln eingehen, nach denen sich die Zuweisung der gerichtlichen Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung (Art. 8 und 10 der Verordnung Nr. 2201/2003) richtet.

–      In einem zweiten Abschnitt werde ich mich mit den Merkmalen von Anträgen auf Rückgabe des entführten Kindes beschäftigen, soweit solche Anträge eine Voraussetzung für die Fortdauer der Zuständigkeit gemäß Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 darstellen.

–      Meine Überlegungen werde ich dadurch vervollständigen, dass ich darlegen werde, welche Auswirkungen die im zweiten Abschnitt angestellten Überlegungen auf den Ausgangsrechtsstreit haben könnten.

–      Abschließend möchte ich auf weitere spezifische Probleme eingehen, die das vorlegende Gericht aufgeworfen hat.

A.      Regeln, nach denen sich die Zuweisung der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung richtet

31.      Nach der in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthaltenen Regel über die „allgemeine Zuständigkeit“ sind „[f]ür Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, … die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat“.

32.      Diese Zuweisung der Zuständigkeit entspricht dem für das System zentralen Grundsatz der (geografischen) Nähe(8).

33.      Ausnahmen von dieser Regel sind die Fälle, in denen das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat verliert und ihn in einem anderen Mitgliedstaat erlangt, ohne dass dadurch die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Letzteren begründet würde. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Kinder widerrechtlich verbracht (oder zurückgehalten) worden sind.

34.      Nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 bleiben im Fall einer Kindesentführung grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen (oder Zurückhalten) seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. So wird erreicht,

–      dass der Elternteil, der das Kind entführt hat, keinen Vorteil aus einer rechtswidrigen Handlung ziehen kann. Denn könnte dieser Elternteil seinen Sorgerechtsantrag für das Kind vor den Gerichten des Mitgliedstaats des neuen Aufenthaltsorts stellen, würde ihm ein ungerechtfertigter Vorteil zuteil(9);

–      dass folglich der Praxis der internationalen Kindesentführung entgegengewirkt wird, was das grundlegende Ziel der Verordnung Nr. 2201/2003 ist(10).

35.      Die internationale gerichtliche Zuständigkeit des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, dauert allerdings nicht unbeschränkt fort.

36.      Tatsächlich kann diese Zuständigkeit ab einem bestimmten Zeitpunkt auf die Gerichte des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes übergehen, wenn bestimmte, in Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannte Voraussetzungen erfüllt sind.

37.      Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Inhaber des Sorgerechts:

–      entweder dem Verbringen des Kindes zustimmt (Art. 10 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003)

–      oder nicht innerhalb eines gewissen Zeitraums bestimmte Maßnahmen(11) ergreift und das Kind sich am Ende dieses Zeitraums in seiner neuen Umgebung eingelebt hat (Art. 10 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003)(12). Damit kann es den Übergang der Zuständigkeit von einem Mitgliedstaat auf einen anderen beeinflussen, wenn sich der Inhaber des Sorgerechts für das widerrechtlich verbrachte Kind passiv verhält(13).

B.      Antrag auf Rückgabe und Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003

38.      Wie soeben ausgeführt, ist der Antrag auf Rückgabe des Kindes eine der Voraussetzungen der Anwendbarkeit von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003.

39.      Nach dieser Vorschrift – vorausgesetzt, dass auch die anderen darin vorgesehenen Umstände vorliegen – ist das Versäumnis, (bei den Behörden des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht worden ist) die Rückgabe des Kindes zu beantragen, sobald der Aufenthaltsort des Kindes bekannt ist (oder bekannt sein müsste), ein Faktor, der den Wechsel der internationalen Zuständigkeit herbeiführen kann.

40.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 definiert jedoch nicht, was unter „Rückgabe“ bzw. „Antrag auf Rückgabe“ zu verstehen ist. Das Gleiche gilt für das Haager Übereinkommen von 1980, das von der Verordnung Nr. 2201/2003 ergänzt wird(14), und für das Haager Übereinkommen von 1996(15).

1.      Antrag auf Rückgabe des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat als den, in dem es vor der Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte

41.      Angesichts der Umstände des vorliegenden Falls ist zu klären, ob ein Antrag auf Rückgabe im engeren Sinne(16) vorliegt, wenn damit begehrt wird, dass das Kind in einen anderen Staat als den zurückkehren soll, in dem sich vor dem Verbringen sein gewöhnlicher Aufenthalt befand(17).

42.      Zunächst einmal scheint der Wortlaut(18) von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht zu verlangen, dass die Rückgabe des Kindes gerade in den Mitgliedstaat beantragt werden muss, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

43.      Wie ich bereits ausgeführt habe, hat Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zum Ziel, von einem widerrechtlichen Verbringen aus einem Mitgliedstaat in einen anderen abzuhalten. Zu diesem Zweck enthält er Regeln, die unter bestimmten Voraussetzungen verhindern, dass die Zuständigkeit den Gerichten des Mitgliedstaats zugewiesen wird, in dem das Kind nach seinem widerrechtlichen Verbringen einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.

44.      Gerade zu eben diesem Zweck hat sich der Gerichtshof für eine restriktive Auslegung der Voraussetzungen entschieden, die den Übergang der Zuständigkeit herbeiführen(19). Folgt man dieser Logik, dann wäre dem genannten Ziel umso besser gedient, je flexibler die Bedingungen der Aufrechterhaltung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ausgelegt würden.(20)

45.      Daraus ergäbe sich, dass ein Antrag auf Rückgabe des Kindes, mit dem seine „Rückführung“ in einen anderen Staat (einen Mitgliedstaat, vielleicht sogar einen Drittstaat) als den seines früheren gewöhnlichen Aufenthalts begehrt wird, unter Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 fallen könnte.

46.      Ich bin jedoch der Ansicht, dass diese weite Auslegung von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003, die die Kommission und Vater von L befürworten, erhebliche Schwierigkeiten birgt.

47.      Die in Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthaltene Zuständigkeitsregel ist gegenüber der allgemeinen Zuständigkeitsregel in Art. 8 Abs. 1 eine besondere. Als solche ist sie „eng auszulegen …. und [erlaubt] daher keine Auslegung, die über die ausdrücklich in der betreffenden Verordnung vorgesehenen Fälle hinausgeht“(21).

48.      In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht nur eine ausnahmsweise bestehende Zuständigkeit festlegt, sondern auch die Umstände nennt, unter denen diese Zuständigkeit aufrechterhalten bleibt bzw. unter denen sie auf die normalerweise zuständigen Gerichte, d. h. die Gerichte des Mitgliedstaats des aktuellen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, übergeht.

49.      Obwohl die Ursache für den neuen gewöhnlichen Aufenthalt ein widerrechtliches Verbringen(22) war, sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind in gewisser Weise verwurzelt ist, aufgrund ihrer räumlichen Nähe zu seinem Umfeld in einer besseren Ausgangslage, um beurteilen zu können, welche Maßnahmen im Interesse des Kindes liegen(23).

50.      Mit den Worten des Gerichtshofs ausgedrückt, wollte der Gesetzgeber mit Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 „nämlich gerade in Bezug auf die Zuweisung der Zuständigkeit … einen Interessenausgleich schaffen zwischen einerseits der Notwendigkeit, zu verhindern, dass der Entführer aus seiner rechtswidrigen Handlung einen Vorteil zieht …, und andererseits der Möglichkeit, demjenigen Gericht, das dem Kind am nächsten ist, die Entscheidung über Anträge betreffend die elterliche Verantwortung zu gestatten“(24).

51.      Der Schlüssel zum richtigen Verständnis von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 und damit der darin enthaltenen Anforderungen liegt in der Herstellung dieses Gleichgewichts.

52.      Meiner Ansicht nach wird dieses besser durch einen Antrag auf Rückgabe des Kindes in den Mitgliedstaat gewahrt, in dem sich das Kind ursprünglich aufgehalten hat (in der vorliegenden Rechtssache: Deutschland) als durch einen Rückgabeantrag, der es im Erfolgsfall(25) in einen Staat (die Schweiz) führen würde, der weder mit Ersterem noch mit dem Staat des aktuellen Aufenthaltsorts übereinstimmt.

53.      Art. 10 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 legt im Einzelnen fest, welche Maßnahmen derjenige zu ergreifen hat, der den Wechsel der internationalen Zuständigkeit vermeiden will:

–      Gegen die Entführung als solche muss er innerhalb einer bestimmten Frist bei den Behörden des Staates, in dem sich das Kind befindet, mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes vorgehen(26).

–      Gegen eine die Rückgabe ablehnende Entscheidung nach dem Haager Übereinkommen von 1980 muss er schnell bei den Behörden des Staates des vormaligen Aufenthaltsorts einen Antrag auf das Sorgerecht für das Kind stellen(27) (sofern ein solcher nicht bereits anhängig ist).

54.      Indem die Verordnung Nr. 2201/2003 die Beibehaltung der Zuständigkeit von diesen konkreten rechtlichen Reaktionen abhängig macht, verfolgt sie meines Erachtens das Ziel, dass die Abwehr des Sorgerechtsinhabers sich auf die Kindesentführung konzentriert; sie verfolgt aber auch noch ein anderes Ziel.

55.      Zum Wohl des Kindes fördert sie das Eingreifen von Mechanismen, die eine vorläufige Situation(28) schnellstmöglich beenden sollen, und zwar in einer Weise, die mit der Logik der europäischen Regelung zur internationalen Kindesentführung vereinbar ist(29). Die Wiederherstellung des Zustands vor dem unrechtmäßigen Verbringen ist der erste, wesentliche Schritt, um die Situation eines entführten Kindes zu regeln(30). Um dies zu erreichen, halte ich es für unabdingbar, dass die Rückführung an genau den Mitgliedstaat verlangt wird, aus dem es [widerrechtlich] verbracht wurde.

56.      Die Rückgabe des Kindes in einen anderen Staat als den zu verlangen, in dem es vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, erlaubt zwar, sich gegen dieses Verbringen an sich zu wehren, dient aber dem gerade beschriebenen Zweck nicht. Vielmehr verringert sie die Fälle, in denen die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind seinen aktuellen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zuständig sind, d. h. die Gerichte, die ihm am nächsten sind.

57.      Alles in allem spreche ich mich dagegen aus, einen Antrag auf Rückführung des Kindes in einen anderen Staat als den, in dem es zum Zeitpunkt des widerrechtlichen Verbringens seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, als „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 einzustufen.

2.      Antrag auf Rückgabe und Sorgerechtsantrag

58.      Nach Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003

–      ist für denjenigen, der einen Sorgerechtsantrag stellt, ausdrückliche Bedingung für die Fortdauer der internationalen Zuständigkeit, beim Staat des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes einen Antrag auf Rückgabe zu stellen, sobald er den Aufenthaltsort des Kindes kennt (bzw. kennen musste).

–      Bei den Behörden des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht worden ist, ist für andere Anträge als für den Antrag auf Rückgabe des Kindes kein Raum.

59.      Wie ich ausgeführt habe, setzt die Fortdauer der Zuständigkeit des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nach Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 voraus, dass ein Verfahren mit dem Ziel der Rückgabe des Kindes in diesen Staat eingeleitet wird.

60.      Unter diesem Gesichtspunkt könnten ein Antrag auf Rückgabe des Kindes und ein Sorgerechtsantrag, der im Erfolgsfall die Rückführung des Kindes bedeuten würde, als gleichwertig erscheinen.

61.      Allerdings ist im Zusammenhang mit einer Kindesentführung der Zeitfaktor entscheidend(31). Deshalb sind für Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 ein Antrag, der ausschließlich die sofortige Rückgabe des Kindes bezweckt und aus diesem Grund als dringlich behandelt wird, und ein Antrag, nach eingehender materieller Prüfung im Rahmen des hierzu eingeleiteten Verfahrens über das Sorgerecht zu entscheiden, nicht gegeneinander austauschbar(32).

62.      Auch eine systematische Auslegung spricht nicht dafür, dass der Antrag auf Rückgabe im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 durch einen Sorgerechtsantrag ersetzbar wäre. Buchst. b Ziff. i sowie Ziff. ii und iii(33) dieser Vorschrift zeigen eine Abfolge auf, in der der Sorgerechtsantrag dem Rückgabeantrag zeitlich nachgestellt ist. Zusammen beschreiben diese Ziffern eine Serie von Schritten, die vorzunehmen sind, sobald der Aufenthaltsort des Kindes bekannt ist, und zwar in einer Standardsituation, in der noch kein Sorgerechtsantrag gestellt worden ist.

63.      Ab diesem Zeitpunkt ist zur Fortdauer der Zuständigkeit des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor seiner Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, erforderlich, bei den Behörden des (neuen) Mitgliedstaats, in den es verbracht wurde, seine Rückgabe zu beantragen (Ziff. i), diesen Versuch aufrechtzuerhalten (Ziff. ii) und bei Ablehnung des Rückgabeantrags(34) rasch den Sorgerechtsantrag in dem Mitgliedstaat zu stellen, von dem aus das Verbringen erfolgt ist (Ziff. iii).

64.      Letztendlich bin ich der Ansicht, dass derjenige, der das Sorgerecht für das Kind beansprucht (und weiß oder wissen müsste, wo das Kind sich befindet), dessen sofortige Rückgabe beantragen muss, damit die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, in dem das Kind sich aufgehalten hatte und von dem aus es widerrechtlich verbracht wurde, fortdauert. Ab dem Zeitpunkt, ab dem er den Aufenthaltsort des Kindes kennt(35), kann er nicht mehr zwischen dem Antrag in der Hauptsache und dem Antrag auf sofortige Rückgabe des Kindes wählen(36). Stellt er den Antrag auf Rückgabe nicht oder zu spät, geht die Zuständigkeit für die Sorgerechtsentscheidung auf die Behörden des Mitgliedstaats über, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat(37).

C.      Anwendung dieser Kriterien auf den Ausgangsrechtsstreit

65.      Seine zweite Vorlagefrage formuliert das vorlegende Gericht auf der Grundlage einer doppelten Prämisse:

–      Einerseits scheint es dem Umstand, dass bei den polnischen Gerichten ein Rückgabeantrag im Rahmen eines Verfahrens nach dem Haager Übereinkommen von 1980 gestellt worden war, für die Zwecke von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 keine Bedeutung beizumessen.

–      Andererseits behandelt es den für L bei den deutschen Gerichten gestellten Sorgerechtsantrag als Antrag auf Rückgabe im Sinn derselben Vorschrift.

66.      Um eine sachdienliche Antwort auf die Vorlagefrage geben zu können, ist zu überlegen, ob diese Prämissen richtigzustellen sind.

1.      Antrag auf Rückgabe von L in die Schweiz

67.      Dem Vorlagebeschluss ist zu entnehmen, dass für das vorlegende Gericht der Antrag auf Rückgabe(38) von L in die Schweiz, den ihr Vater am 7. Juli 2017 bei den polnischen Gerichten gestellt hat, zur Fortdauer der Zuständigkeit in Deutschland nach Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht beachtlich ist.

68.      Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen einen anderen Standpunkt vertreten: Der Antrag auf Rückgabe in die Schweiz sei durchaus von Relevanz; der Vater von L habe „die Situation nicht auf sich beruhen lassen“, sondern sich bemüht, die Rückführung des Kindes zu erreichen(39).

69.      Aus den in den Nrn. 41 ff. der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen bin ich der Ansicht, dass die Auffassung des vorlegenden Gerichts im Ergebnis im Wesentlichen zutrifft. Unter den Umständen von Art. 10 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 hätte die Fortdauer der Zuständigkeit der deutschen Gerichte als denen des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, vorausgesetzt, dass die Rückgabe in dieses Land verlangt wird.

2.      Sorgerechtsantrag vor den deutschen Gerichten

70.      Um zu prüfen, ob die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem L vor ihrem widerrechtlichen Verbringen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Deutschland), (noch) zuständig sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der vom Vater vor diesen Gerichten gestellte Sorgerechtsantrag innerhalb der in Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten Jahresfrist eingereicht worden ist.

71.      Dem entnehme ich, dass das vorlegende Gericht den Antrag auf das Sorgerecht für L so akzeptiert, als handle es sich um einen „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003. Auf diese Weise kann es über das Hindernis des fehlenden Rückgabeantrags im Sinn der genannten Vorschrift hinwegkommen, den diese für die Fortdauer der Zuständigkeit im Herkunftsmitgliedstaat verlangt, sobald der Aufenthaltsort des Kindes in dem Staat, in den es verbracht wurde, bekannt ist.

72.      Aus den Gründen, die ich in den Nrn. 58 ff. der vorliegenden Schlussanträge dargelegt habe, glaube ich nicht, dass diese Prämisse zutrifft. Sie scheint mir auch bei einer Bejahung der ersten Vorlagefrage nicht gerechtfertigt, wie das vorlegende Gericht implizit zu verstehen gibt.

73.      Eine Sache ist, dass die Anwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 (um die internationale gerichtliche Zuständigkeit bestimmten Gerichten zuzuweisen, wenn ein widerrechtliches Verbringen eines Kindes vorliegt) nicht von der Anwendung von Art. 11 abhängt(40), und eine andere, dass es möglich sein soll, unabhängig von einem Versuch, die Rückgabe des Kindes zu erreichen, auf diese ausnahmsweise bestehende Zuständigkeit zurückzugreifen.

D.      Weitere Voraussetzungen in Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003

74.      Das vorlegende Gericht wirft zwei Fragen auf, die zu beantworten wären, ginge man entgegen meiner Auffassung davon aus, der in Deutschland gestellte Sorgerechtsantrag stehe einem Antrag auf Rückgabe im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 gleich.

75.      Die erste Frage betrifft die Frist, die der Inhaber des Sorgerechts beachten muss, um die sofortige Rückgabe des Kindes zu beantragen, sobald er dessen Aufenthaltsort kennt (oder kennen müsste).

76.      Die Zweifel ergeben sich dem Anschein nach aus der Divergenz zwischen der Sachverhaltsdarstellung, die der Vater von L gab, als er über die Schweizer Behörden die Rückgabe von L beantragte, und dem Sachverhalt, den er in Deutschland vorgetragen hat, um die Fortdauer der Zuständigkeit der deutschen Gerichte für den Sorgerechtsantrag zu begründen:

–      Im Rückgabeverfahren stellte der Vater für das widerrechtliche Verbringen von L auf den 24. Mai 2017 ab, den Tag, ab dem sie in Polen eine Kita besuchte;

–      im Sorgerechtsverfahren berief sich der Vater auf eine Vereinbarung mit der Mutter von L, wonach das Kind ab November 2017 einen Kindergarten in der Schweiz besuchen sollte.

77.      Je nachdem, auf welchen Zeitpunkt abgestellt wird, wäre die Jahresfrist in Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 bereits verstrichen gewesen, als der Vater von L seinen Sorgerechtsantrag in Deutschland stellte (13. Juli 2018). Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob das Vorbringen des Vaters (das von seinem Vorbringen im Rahmen des Rückgabeverfahrens nach dem Haager Übereinkommen von 1980 abweicht) im Sorgerechtsverfahren zulässig ist.

78.      Die zweite Frage, die sich stellt, betrifft den Nachweis des für die internationale Zuständigkeit maßgeblichen Sachverhalts (insbesondere, was die Möglichkeit einer zwischen den Eltern bestehenden Vereinbarung über ein Verbleiben des Kindes in Polen über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus betrifft). Nach Auffassung des Vaters trägt die Mutter von L nach Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980(41) die Beweislast für diese Tatsache, was auch im Rahmen von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 gelte.

79.      Meines Erachtens können diese Zweifel des vorlegenden Gerichts damit ausgeräumt werden, dass das Rückgabe- und das Sorgerechtsverfahren, die ein zu Unrecht verbrachtes Kind betreffen, nach Art und Gegenstand zwar in Verbindung stehen, aber jeweils eigenständige Verfahren sind.

80.      In der Verordnung Nr. 2201/2003 wird das Verhältnis zwischen beiden Verfahren insbesondere in zwei Vorschriften deutlich: Art. 11, der sich auf die „Rückgabe des Kindes“ bezieht, und Art. 42 als Teil des Abschnitts „Vollstreckbarkeit bestimmter Entscheidungen über das Umgangsrecht und bestimmter Entscheidungen, mit denen die Rückgabe des Kindes angeordnet wird“. Keine dieser beiden Vorschriften normiert eine Verbindung der Verfahren in der Weise, wie das vorlegende Gericht dies vorschlägt.

81.      Was Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, bezieht sich sein Inhalt auf den hypothetischen Fall, dass (von einer sorgeberechtigten Person) ein Antrag an die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats gestellt wird, mit dem diese ersucht werden, eine Entscheidung nach dem Haager Übereinkommen von 1980 zu erlassen, „um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“.

82.      Einerseits beschränkt sich Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2201/2003 darauf, einen Kommunikationsmechanismus zwischen Gerichten und Behörden in dem Sinn vorzusehen, dass die Stelle, die eine Entscheidung erlassen hat, dass gemäß Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 keine Rückgabe stattfinden soll, dem zuständigen Gericht (oder der zentralen Behörde) des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine Abschrift dieser Entscheidung übermitteln muss.

83.      Andererseits müssen nach Art. 42 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 2201/2003, wenn die Rückgabe eines Kindes durch eine gerichtliche Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 angeordnet wurde, bestimmte Schritte und Voraussetzungen erfüllt sein, damit dieser Entscheidung die Vollstreckungsregelung in Kapitel III Abschnitt 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 zugutekommt.

84.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 enthält keinerlei Hinweis darauf, dass der Inhaber des Sorgerechts oder das von ihm angerufene Gericht zur Einleitung eines Verfahrens über die elterliche Verantwortung zwingend an die Sachverhaltsdarstellung gebunden wären, die er im Rahmen eines früheren Antrags auf Rückführung des Kindes vorgetragen hat(42).

85.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 verlangt auch nicht, dass die Beweisregeln hinsichtlich der Faktoren, die die Zuständigkeit nach Art. 10 der Verordnung bestimmen, dieselben sein müssen wie diejenigen, die im Haager Übereinkommen von 1980 für die Entscheidung über die Rückgabe eines Kindes zur Anwendung kommen(43).

86.      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass eine Entscheidung, die im Rahmen eines Verfahrens nach dem Haager Übereinkommen von 1980 ergangen ist, materiell das Sorgerecht und damit die Entscheidung, die möglicherweise von der zuständigen Stelle darüber getroffen wird, nicht berührt(44).

87.      Der Gerichtshof hat ferner darauf hingewiesen, dass ein Antrag auf Rückgabe wegen der Eilbedürftigkeit des Rückgabeverfahrens auf „schnell und einfach überprüfbaren … Gesichtspunkten beruhen“ muss, und hat insbesondere den Zeitpunkt, ab dem ein Verbringen widerrechtlich ist, als eines der Elemente genannt, die möglicherweise schwer oder gar nicht beweisbar sind(45).

88.      In Anbetracht dieser Prämissen gelange ich im Ergebnis zu folgender Auffassung:

–      Die Verordnung Nr. 2201/2003 gibt dem nationalen Gericht (das darüber zu entscheiden hat, ob es für einen Sorgerechtsantrag zuständig ist) keine Regeln an die Hand, nach denen es feststellen kann, inwieweit es durch ein Vorbringen gebunden ist, das zuvor im Rahmen anderer Verfahren, in denen die Rückgabe des Kindes beantragt wurde, vorgetragen wurde(46).

–      In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften über die Beweislast im Hinblick auf Umstände, die nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 die internationale Zuständigkeit der Gerichte eines bestimmten Mitgliedstaats begründen, ist es Sache der Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats, diese Vorschriften unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie der praktischen Wirksamkeit der Verordnung Nr. 2201/2003 festzulegen.

V.      Ergebnis

89.      Ich schlage daher dem Gerichtshof vor, die zweite Vorlagefrage des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000

ist dahin auszulegen, dass

ein nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung von 1980 gestellter Antrag auf Rückführung des Kindes in einen anderen Staat als den, in dem das Kind vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht als „Antrag auf Rückgabe“ im Sinne von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 eingestuft werden kann.

Sobald der Aufenthaltsort des Kindes bekannt ist (oder bekannt sein muss), endet die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat, wenn der Sorgeberechtigte bei Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 zwar einen Sorgerechtsantrag bei diesen Gerichten, aber nicht bei den Behörden des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht worden ist, einen Rückgabeantrag stellt.

Der Tatsachenvortrag, der in einem nach dem Haager Übereinkommen von 1980 eingeleiteten Verfahren zur Rückgabe eines Kindes vorgebracht wurde, bindet das Gericht, das darüber zu entscheiden hat, ob das Gericht eines Mitgliedstaats in einem späteren Sorgerechtsverfahren für dieses Verfahren zuständig ist, nicht notwendigerweise.

Die Beweislastregel in Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ist im Hinblick auf Tatsachen, die zur Begründung der internationalen Zuständigkeit für einen Sorgerechtsantrag vorgetragen werden, nicht anwendbar.


1      Originalsprache: Spanisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.


2      Verordnung des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1), ihrerseits aufgehoben durch die Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und internationale Kindesentführung (ABl. 2019, L 178, S. 1), die im vorliegenden Fall zeitlich nicht anwendbar ist.


3      Urteil vom 1. Juli 2010, Povse (C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400; im Folgenden: Urteil Povse, Rn. 43).


4      Urteile vom 13. Juli 2023, TT (Widerrechtliches Verbringen des Kindes) (C‑87/22, EU:C:2023:571, im Folgenden: Urteil TT), vom 24. März 2021, MCP (C‑603/20 PPU, EU:C:2021:231, im Folgenden: Urteil MCP), vom 17. Oktober 2018, UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:835), sowie Beschluss vom 10. April 2018, CV (C‑85/18 PPU, EU:C:2018:220).


5      Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980). Vgl. zuletzt Urteil vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka und Prokurator Generalny (Aussetzung der Rückgabeentscheidung) (C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103). Mehr von Interesse für die vorliegende Rechtssache sind die Urteile vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829), vom 8. Juni 2017, OL (C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, im Folgenden: Urteil OL), und vom 19. September 2018, C. E. und N. E. (C‑325/18 PPU und C‑375/18 PPU, EU:C:2018:739).


6      In einer mündlichen Verhandlung vom 9. Mai 2019, zu der die Mutter trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschien, gab der Vater an, dass die Eltern in einem Telefongespräch am 29. Januar 2016 vereinbart hätten, dass L für höchstens zwei bis drei Jahre in Polen bleiben und auf jeden Fall in der Schweiz in den Kindergarten gehen werde.


7      Ich gehe von der Prämisse aus, dass der Vater von L das Sorgerecht für sie innehatte und dass das Verbringen, mit dem er zunächst einverstanden war, erst später widerrechtlich wurde. Liegt kein widerrechtliches Verbringen vor, ist Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 schlicht nicht anwendbar. Ob diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt ist, ist unklar; die Prüfung dieses Umstands ist Sache des vorlegenden Gerichts.


8      12. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003. Vgl. unter anderem Urteil TT, Rn. 33, und Urteil vom 27. April 2023, CM (Umgangsrecht mit einem Kind nach seinem Umzug) (C‑372/22, EU:C:2023:364, Rn. 21 und 22). Zur Relevanz der körperlichen Anwesenheit des Kindes für die Begründung seines gewöhnlichen Aufenthalts und zu dessen engem Zusammenhang mit dem Kriterium der geografischen Nähe vgl. Urteil vom 17. Oktober 2018, UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:835).


9      Er erhielte zumindest einen prozessualen, möglicherweise zudem einen materiell-rechtlichen Vorteil: Der Kindesentführer hätte nämlich mit seinem widerrechtlichen Handeln erreicht, die Anknüpfung herzustellen, die die internationale gerichtliche Zuständigkeit eines Gerichts rechtfertigt, das für seine (materiell-rechtlichen) Interessen möglicherweise günstiger ist.


10      Beispielhaft für sämtliche Entscheidungen vgl. Urteil TT, Rn. 36.


11      Anträge auf Rückgabe bzw. betreffend die elterliche Sorge: Ziff. i bis iii. Ziff. iv sieht vor, dass die Zuständigkeit infolge einer Sorgerechtsentscheidung übergeht, wenn zusätzlich die unter Buchst. b genannten allgemeinen Umstände vorliegen.


12      Das Kind muss sich seit mindestens einem Jahr im Bestimmungsmitgliedstaat aufgehalten haben, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen. In Art. 10 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 erscheint der Umstand, dass das Kind sich in dem neuen Staat eingelebt hat, als von der Verfestigung des gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Staat getrennte Bedingung.


13      Urteil MCP, Rn. 54.


14      17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 sowie Gutachten 1/13 (Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen) vom 14. Oktober 2014 (EU:C:2014:2303 Rn. 85). Das Verhältnis zwischen beiden Instrumenten ist, was Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, geklärt: Im Urteil vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka und Prokurator Generalny (Aussetzung der Rückgabeentscheidung), (C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Rn. 62), hat der Gerichtshof diese Vorschrift und die Art. 8 bis 11 des Haager Übereinkommens von 1980 als „untrennbare Gesamtheit von Rechtsnormen“ bezeichnet, wie dies bereits in Rn. 78 des Gutachtens 1/13 geschehen war. Art. 10 weist keine so enge Verbindung auf: Von diesem Standpunkt aus gesehen könnte man vertreten, dass, solange die Kohärenz zwischen beiden Instrumenten gewahrt bleibt, dieser Artikel Anträge auf Rückgabe erfasst, die nicht unter das Haager Übereinkommen von 1980 fallen, andere Rückführungsanträge jedoch nicht, obwohl sie unter das Übereinkommen fallen.


15      Am 19. Oktober 1996 in Den Haag geschlossenes Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1996). Sein Art. 7, der funktional Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 entspricht, hat Vorrang vor Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980: Vgl. den von Herrn Paul Lagarde erstatteten Erläuternden Bericht der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, veröffentlicht in Actes et documents de la dix-huitième session de la Conférence de La Haye de droit international privé, 1996, Bd. II, S. 532 ff. (im Folgenden: Lagarde-Bericht, Nr. 46). Die spanische Sprachfassung der Verordnung Nr. 2201/2003 verwendet den Begriff „restitución“, die beiden Haager Übereinkommen dagegen „retorno“. Die englische und die französische Sprachfassung (die Sprachfassungen, die in Bezug auf die Übereinkommen verbindlich sind) aller drei Instrumente verwenden die Begriffe „retour“ bzw. „return“. Im Grundsatz ist die Bedeutung für alle drei dieselbe (siehe jedoch die vorstehende Fußnote).


16      Darunter verstehe ich einen Antrag, dessen einziges Ziel die schnellstmögliche Rückkehr des Kindes in den Herkunftsstaat ist, ohne auf materielle Fragen der elterlichen Verantwortung einzugehen.


17      In den verbindlichen Fassungen der Präambel des Haager Übereinkommens von 1980 ist von der Rückführung des Kindes oder der Kinder „dans l'État de sa résidence habituelle“ und „to the State of their habitual residence“ die Rede. Art. 1 enthält keine derartige Präzisierung.


18      Unter Berufung auf den Wortlaut von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat der Gerichtshof im Urteil MCP (Rn. 39 und 40) festgestellt, dass „die Kriterien, auf die in dieser Vorschrift hinsichtlich der Zuweisung der Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung abgestellt wird, einen Sachverhalt erfassen, der auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beschränkt bleibt“. Zudem regle „dieser Artikel nur die Zuständigkeit bei Kindesentführungen innerhalb der Mitgliedstaaten“. In jenem Fall ging es um die Auslegung der Vorschrift, nachdem das Kind nach einem widerrechtlichen Verbringen in einen Drittstaat dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hatte. Aufgrund des Unterschieds zwischen jenem Sachverhalt und dem des vorliegenden Falles, in dem eine Rückgabe in die Schweiz beantragt wird, das widerrechtliche Verbringen aber von Deutschland nach Polen stattgefunden hat, ist nicht davon auszugehen, dass schon allein mit diesen Feststellungen (d. h. mit der Argumentation aus dem Wortlaut) die hier zu klärenden Zweifel auszuräumen wären.


19      Urteil Povse, Rn. 45. Dort ging es um Art. 10 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 2201/2003 und den Begriff „Sorgerechtsentscheidung, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird“. Der Gerichtshof stellte fest, dass nur eine endgültige Entscheidung diesen Begriff erfülle.


20      Ich gehe davon aus, dass die Befürworter dieser These sie, wie dies der Vertreter der Kommission in der mündlichen Verhandlung getan hat, auf den Beschluss vom 10. April 2018, CV (C‑85/18 PPU, EU:C:2018:220, Rn. 51), stützen. Dort hat der Gerichtshof die Feststellungen im Urteil Povse zu Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 auf Buchst. a und auf die übrigen Ziffern von Buchst. b ausgedehnt.


21      Urteil MCP, Rn. 47.


22      Und, so ist zu ergänzen, trotz der Vorläufigkeit der Situation des widerrechtlich verbrachten Kindes, auf die ich in Fn. 28 eingehen werde.


23      Die bessere Eignung der Gerichte des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes scheint nicht einmal in solchen Fällen bestreitbar: Vgl. Urteil MCP, Rn. 60. Diese Gerichte sind im Sinne von Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 gewöhnlich besser in der Lage, über den Rechtsstreit zu entscheiden: Urteil TT, Rn. 44


24      Urteil MCP, Rn. 59. (Unter anderem) deshalb hat der Gerichtshof es abgelehnt, die Zuständigkeit nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zeitlich unbegrenzt auszudehnen, wenn der Zielort des widerrechtlichen Verbringens ein Drittstaat war, in dem das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hatte.


25      Ich füge hinzu, dass es für von Art. 10 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 2201/2003 auf die Stellung des Antrags, nicht auf dessen Ergebnis ankommt. Die internationale Zuständigkeit geht nicht automatisch verloren, wenn mit der Entscheidung über den Antrag nicht die Rückgabe des Kindes angeordnet wird: In diesem Fall wird die Situation zu der, die in Buchst. b Ziff. iii vorgesehen ist.


26      Art. 10 Buchst. b Ziff. i und ii.


27      Art. 10 Buchst. b Ziff. iii der Verordnung Nr. 2201/2003. Die Ziffer ist auf den Fall beschränkt, dass die Rückgabe nach dem Haager Übereinkommen von 1980 beantragt und verweigert wird. Zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist dies die gemeinsame Regelung für Anträge auf Rückgabe von Kindern, die aber andere nicht ausschließt, sofern sie für die Rückführung günstiger sind. Es wäre vernünftig, die Regelung in Art. 10 Buchst. b Ziff. iii auch auf diese letztgenannten auszudehnen.


28      Vorläufig nach dem Willen des Gesetzgebers und vorläufig auch in tatsächlicher Hinsicht, obwohl das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Mitgliedstaat hat, in den es zu Unrecht verbracht worden ist. Nach Art. 10 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 entfällt im Umkehrschluss die Zuständigkeit der Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats nicht, wenn sich das Kind ein Jahr, nachdem sein Aufenthaltsort dem Sorgeberechtigten bekannt wurde oder hätte bekannt werden müssen, noch nicht in die neue Umgebung eingelebt hat, selbst wenn es dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat. Ich erinnere daran, dass gemäß Art. 12 Abs. 1 des Haager Übereinkommens von 1980 die Behörden des Bestimmungsstaates die Rückführung des Kindes anordnen müssen, wenn zum Zeitpunkt der Einleitung des Rückführungsverfahrens weniger als ein Jahr seit der Kindesentführung verstrichen ist. Nach dem dem Übereinkommen beigefügten Erläuternden Bericht von Frau Elisa Pérez Vera (Actes et Documents de la quatorzième session de la Conférence de La Haye de droit international privé, 1980, Bd. III, S. 426 ff. im Folgenden: Pérez Vera-Bericht), Nr. 107, stellt die Normierung dieser Frist den Versuch dar, das Kriterium des „Einlebens des Kindes“ in eine objektive Norm umzusetzen. Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens sieht demgegenüber vor, dass eine Rückführung auch dann zwingend anzuordnen ist, wenn das Einleben des Kindes in die neue Umgebung nicht nachgewiesen wird.


29      Die getroffene Regelung hat eine typische Sachverhaltskonstellation im Blick, in der die zentralen Elemente, die dazu geführt haben, dass der Staat des bisherigen Aufenthalts des Kindes als dessen „Umfeld“ angesehen wurde, dort nach wie vor vorhanden sind. Der Pérez Vera-Bericht beschreibt dagegen in Nr. 110 eine atypische Situation, in der das Umfeld des Kindes „in erster Linie ein familiäres“ ist und derjenige, der die Rückgabe beantragt, nicht mehr in dem Staat lebt, in dem das Kind vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. In Anbetracht der praktischen Schwierigkeiten, die sich aus der Rückgabe des Kindes in diesen Staat ergeben würden, wird dort nahegelegt, das Haager Übereinkommen von 1980 lasse die Übergabe des Kindes in einen anderen Staat zu. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter des Vaters von L auf diesen Abschnitt des Berichts Bezug genommen, um eine andere Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 zu vertreten als die, der ich folge. Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens der im Bericht geschilderten Situation entspricht, scheint der Unionsgesetzgeber diese atypische Situation und deren Auswirkungen im Hinblick auf die internationale gerichtliche Zuständigkeit nicht berücksichtigt zu haben.


30      Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 darauf abzielt, Kindesentführungen zwischen Mitgliedstaaten zu verhindern. Treten sie dennoch ein, so ist das Ziel, dass „die Rückgabe des Kindes unverzüglich erwirkt wird“: Urteil Povse, Rn. 43. Die Rückgabe ist von solcher Wichtigkeit, dass nach der Logik des Haager Übereinkommens von 1980 der Sorgerechtsantrag solange warten muss, bis über den Rückgabeantrag entschieden worden ist. Das Haager Übereinkommen von 1996 folgt dieser Linie, ist aber etwas flexibler. Siehe dazu unten, Fn. 31.


31      Dies geht soweit, dass im Haager Übereinkommen von 1980 versucht wird, den Sorgerechtsantrag von einem Rückgabeantrag abhängig zu machen: Vgl. Art. 34 und den Pérez Vera-Bericht, Nr. 40. Das Problem besteht auch beim Haager Übereinkommen von 1996, das lediglich ausnahmsweise eine flexiblere Lösung zulässt: Lagarde-Bericht, Nr. 168.


32      Zwischen Mitgliedstaaten ermöglicht die Verordnung Nr. 2201/2003 jedenfalls die Anerkennung der Sorgerechtsentscheidung, wodurch sich die Bedenken aufgrund des zeitlichen Faktors, dem in anderen Zusammenhängen entscheidendes Gewicht zukam, verringern: siehe oben, Fn. 31. Allerdings liegen Ausgestaltung und Dauer des Sorgerechtsverfahrens in der Hand der Mitgliedstaaten, und im Gegensatz zu Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 gibt es keine Entscheidungsfrist. Im Vorschlag der Kommission war sie jedoch vorgesehen: Vgl. COM(2002) 222 final, Art. 21 Buchst. b Ziff. ii.


33      Ziff. iv besitzt in diesem Rahmen eine gewisse Eigenständigkeit. Sie betrifft Sorgerechtsentscheidungen, die die Rückgabe des Kindes nicht implizieren und bereits vor dem Verbringen des Kindes im Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ergangen sind. Es sieht so aus, dass für diese Ziffer jede Sorgerechtsentscheidung ausreicht: Nichts deutet darauf hin, dass es sich um eine Entscheidung nach Ziff. iii handeln muss.


34      Die Verordnung Nr. 2201/2003 befasst sich nicht mit dem Fall einer stattgebenden Entscheidung über den Antrag.


35      Vor diesem Zeitpunkt kann zwar ebenfalls die Rückgabe begehrt werden, deren Durchführung de facto aber nicht möglich ist, so dass es nicht sinnvoll erscheint, dies als Voraussetzung für die Fortdauer der Zuständigkeit im Mitgliedstaat des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zu verlangen. Außerdem treten offenkundige praktische Probleme auf, beispielsweise, dass die Behörden zwar für die Anordnung der Rückführung zuständig sind, den Antrag aber [an die zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaats] übermitteln müssen: Vgl. Art. 9 des Haager Übereinkommens von 1980.


36      Der Gerichtshof hat in Fällen, in denen die Verfahren parallel eingeleitet wurden, dieses Vorgehen nicht kritisiert: Vgl. u. a. Urteil TT, Rn. 19 und 20.


37      Vorausgesetzt, dass auch die übrigen Voraussetzungen von Art. 10 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 erfüllt sind.


38      Ich verwende diesen Begriff, obwohl es mir angesichts der Schilderung des Sachverhalts fraglich erscheint, ob es sich bei diesem Antrag um einen solchen auf Rückgabe im eigentlichen Sinne handelt und nicht um eine Umsiedlung des Kindes, die im Rahmen des Haager Übereinkommens von 1980 versucht wird.


39      Schriftliche Erklärungen der Kommission, Nr. 43.


40      Weil das im Haager Übereinkommen von 1980 vorgesehene Verfahren zwischen zwei Mitgliedstaaten eingeleitet wurde.


41      Konkret Abs. 1 Buchst. a, wonach „das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet (ist), die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, a) dass die Person … dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat“.


42      In der mündlichen Verhandlung haben die Vertreter der deutschen Regierung sowie des Vaters von L erläutert, dass nach dem nationalen Recht in familienrechtlichen Streitigkeiten der Richter von Amts wegen die erforderlichen Ermittlungen durchführt, um den entscheidungserheblichen Sachverhalt festzustellen. Konsequenterweise könnte in einem (Sorgerechts‑)Verfahren auch keine „Präklusion einer neuen Sachverhaltsdarstellung des Vaters“ in Bezug auf ein anderes Verfahren (das Rückgabeverfahren) eingewandt werden, was das vorlegende Gericht vorzuschlagen scheint.


43      Tatsächlich auch nicht dieselben wie in irgendwelchen anderen Verfahren. Die Verordnung Nr. 2201/2003 beschränkt sich darauf, zu fordern, dass das Gericht die Zuständigkeit überprüft und sich gegebenenfalls von Amts wegen für unzuständig erklärt: Vgl. Art. 17.


44      Urteile vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 62 ff.), und OL, Rn. 65.


45      Urteil OL, Rn. 58.


46      In einer Angelegenheit, in der es vornehmlich um das Kindeswohl geht, sollten die Behauptungen eines Elternteils über den Zeitpunkt, zu dem das Verbringen widerrechtlich war bzw. wurde (ebenso wie gegebenenfalls zur Frage, wann ein Elternteil Kenntnis über den Aufenthaltsort des Kindes hatte), für das mit der Anwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 befasste Gericht nicht bindend sein. In diesem Sinn muss die Frist an dem  Tag zu laufen beginnen, an dem angesichts der Indizienlage objektiv kein vernünftiger Zweifel mehr daran bestehen kann, dass das Kind nicht mehr in den Herkunftsmitgliedstaat zurückgegeben wird.