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Verbundene Rechtssachen T-246/08 und T-332/08

Melli Bank plc

gegen

Rat der Europäischen Union

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen die Islamische Republik Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation – Einfrieren von Geldern – Nichtigkeitsklage – Gerichtliche Nachprüfung – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Begründungspflicht – Einrede der Rechtswidrigkeit – Art. 7 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung (EG) Nr. 423/2007“

Leitsätze des Urteils

1.      Europäische Gemeinschaften – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Verordnung über restriktive Maßnahmen gegen Iran

2.      Europäische Union – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Iran

(Verordnung Nr. 423/2007 des Rates, Art. 7 Abs. 2 Buchst. d)

3.      Europäische Union – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Iran

(Verordnung Nr. 423/2007 des Rates, Art. 7 Abs. 2 Buchst. a, b und d)

4.      Europäische Union – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Iran

(Verordnung Nr. 423/2007 des Rates, Art. 7 Abs. 2 Buchst. d)

5.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang

(Art. 253 EG; Verordnung Nr. 423/2007 des Rates, Art. 7 Abs. 2 und 15 Abs. 3)

1.      Bezüglich der Intensität der gerichtlichen Nachprüfung sind innerhalb der Verordnung Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran zwei Arten von Regelungen zu unterscheiden. Zum einen sind in den Artikeln dieser Verordnung die allgemeinen Regeln enthalten, die die Einzelheiten der von ihr eingeführten restriktiven Maßnahmen festlegen. Zum anderen stellt Anhang V der Verordnung, der die Einrichtungen aufführt, gegen die sich die nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung erlassenen Maßnahmen des Einfrierens von Geldern richten, eine Gesamtheit von Rechtsakten dar, mit denen die vorstehend genannten allgemeinen Regeln auf spezifische Einrichtungen angewandt werden.

In Bezug auf die erste Art von Regelungen verfügt der Rat bei der Beurteilung der Umstände, die bei der Verhängung von wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen auf der Grundlage der Art. 60 EG und 301 EG in Übereinstimmung mit einem im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angenommenen Gemeinsamen Standpunkt zu berücksichtigen sind, über ein weites Ermessen. Da der Gemeinschaftsrichter insbesondere nicht seine Beurteilung der Beweise, Tatsachen und Umstände, die der Verhängung solcher Sanktionen zugrunde liegen, an die Stelle der Beurteilung des Rates setzen darf, muss sich die Kontrolle durch das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die Verfahrensvorschriften und die Begründungspflicht beachtet worden sind, der Sachverhalt richtig ermittelt wurde und kein offensichtlicher Fehler in der Beurteilung der Tatsachen oder Ermessensmissbrauch vorliegt. Diese eingeschränkte Kontrolle gilt insbesondere für die Beurteilung der Zweckmäßigkeitserwägungen, auf denen derartige Maßnahmen beruhen.

Was die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Beschlusses angeht, durch den aufgrund des Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 423/2007 eine Einrichtung in die Liste des Anhangs V dieser Verordnung aufgenommen wurde, so ist es Sache des Gerichts, unter Berücksichtigung der von der betroffenen Einrichtung geltend gemachten oder von Amts wegen festgestellten Nichtigkeitsgründe u. a. zu prüfen, ob der betreffende Fall zu einer der vier in Art. 7 Abs. 2 Buchst. a bis d der Verordnung genannten Fallgruppen gehört. Das bedeutet, dass sich die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit des fraglichen Beschlusses auf die Beurteilung der Tatsachen und Umstände erstreckt, die zu seiner Begründung herangezogen wurden, sowie auf die Prüfung der Beweismittel und Informationen, auf die sich diese Beurteilung stützt. Das Gericht muss sich auch von der Wahrung der Verteidigungsrechte und von der Erfüllung des insoweit bestehenden Begründungserfordernisses sowie gegebenenfalls von der Berechtigung der zwingenden Erwägungen überzeugen, auf die sich der Rat ausnahmsweise beruft, um hiervon abweichen zu können.

(vgl. Randnrn. 44-46)

2.      Art. 7 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran verpflichtet den Rat, die Gelder einer Einrichtung einzufrieren, die im Eigentum oder unter der Kontrolle einer Einrichtung steht, von der festgestellt wurde, dass sie im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Buchst. a oder b der Verordnung an der nuklearen Proliferation beteiligt ist, wobei der Rat im Einzelfall prüft, ob die betreffende Einrichtung eine „im Eigentum oder unter der Kontrolle stehende“ Einrichtung ist.

Zum einen wird zwingend vorgeschrieben, das Einfrieren von Geldern auf die „im Eigentum oder unter der Kontrolle stehenden“ Einrichtungen auszudehnen, ohne dass der Rat insoweit über ein Ermessen verfügt.

Zum anderen ist der Rat, da er zu prüfen hat, ob eine Einrichtung „im Eigentum oder unter der Kontrolle steht“, auch verpflichtet, alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu berücksichtigen, wie z. B. den Grad der organisatorischen Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtung oder die etwaigen Auswirkungen einer behördlichen Aufsicht, der sie unterliegt. Dagegen sind die Art der Tätigkeiten der betreffenden Einrichtung oder der etwaige mangelnde Bezug zwischen diesen Tätigkeiten und der nuklearen Proliferation in diesem Zusammenhang keine relevanten Kriterien.

(vgl. Randnrn. 63, 67, 69)

3.      Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, hängt die Rechtmäßigkeit des Verbots einer wirtschaftlichen Tätigkeit davon ab, dass die Verbotsmaßnahmen zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.

Ziel der Verordnung Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran ist es, die nukleare Proliferation und ihre Finanzierung zu verhindern und so durch Ausübung von Druck auf die Islamische Republik Iran zu erreichen, dass diese die betreffenden Tätigkeiten einstellt. Dieses Ziel fällt in den allgemeineren Rahmen der Bemühungen um die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und ist daher rechtmäßig. Das Einfrieren der Gelder der Einrichtungen, die im Eigentum oder unter der Kontrolle einer Einrichtung stehen, von der festgestellt wurde, dass sie an der nuklearen Proliferation im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Buchst. a oder b der Verordnung beteiligt ist, steht im Zusammenhang mit diesem Ziel. Werden nämlich die Gelder einer Einrichtung eingefroren, von der festgestellt wurde, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist, so besteht die nicht unerhebliche Gefahr, dass sie auf die ihr gehörenden oder von ihr kontrollierten Einrichtungen Druck ausübt, um die Auswirkungen der gegen sie gerichteten Maßnahmen zu unterlaufen, indem sie diese Einrichtungen dazu bringt, entweder ihre Gelder unmittelbar oder mittelbar auf sie zu übertragen oder Geschäfte zu tätigen, die sie selbst wegen des Einfrierens ihrer Gelder nicht ausführen kann. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das Einfrieren der Gelder der Einrichtungen, die im Eigentum oder unter der Kontrolle einer Einrichtung stehen, von der festgestellt wurde, dass sie an der nuklearen Proliferation beteiligt ist, erforderlich und angemessen ist, um die Wirksamkeit der gegen die letztgenannte Einrichtung erlassenen Maßnahmen zu gewährleisten und um zu garantieren, dass diese Maßnahmen nicht unterlaufen werden.

Die Bedeutung der mit einer Regelung wie der Verordnung Nr. 423/2007 verfolgten Ziele kann selbst erhebliche negative Konsequenzen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen. Auch wenn die Freiheit zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit und das Eigentumsrecht an einer im Gebiet der Gemeinschaft ansässigen Bank durch das Einfrieren der Gelder dieser Bank erheblich eingeschränkt werden, stehen die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen.

(vgl. Randnrn. 100, 102-103, 111-112)

4.      Der Inhalt des Begriffs der Einrichtung, die „im Eigentum einer Einrichtung steht“, von der festgestellt wurde, dass sie an der nuklearen Proliferation im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Buchst. a oder b der Verordnung Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran beteiligt ist, erscheint auf den ersten Blick eindeutig, da er auf eine Beteiligung des Mutterunternehmens am Kapital der Tochtergesellschaft Bezug nimmt. Die Auslegung dieses Begriffs darf jedoch nicht nur auf dessen Bedeutungsgehalt gestützt werden, sondern muss darüber hinaus vor allem das Verhältnis zwischen Art. 7 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung und dem von der Verordnung verfolgten Ziel berücksichtigen. Es ist daher zu prüfen, ob die Tochtergesellschaft aufgrund der Tatsache, dass sie im Eigentum des Mutterunternehmens steht, mit einem nicht unerheblichen Grad an Wahrscheinlichkeit dazu veranlasst werden kann, die Auswirkungen der gegenüber ihrem Mutterunternehmen erlassenen Maßnahmen zu unterlaufen.

Es geht um die Beurteilung der Frage, ob die Tochtergesellschaft aufgrund eines entscheidenden Einflusses des Mutterunternehmens dazu veranlasst werden kann, die Weisungen des Mutterunternehmens zu befolgen, statt ihr Verhalten autonom zu bestimmen. Um das Verhalten einer Einrichtung, deren Anteile vom Mutterunternehmen gehalten werden, spürbar zu beeinflussen, muss sich der Druck des Mutterunternehmens hauptsächlich gegen die Geschäftsführer und/oder die Angestellten der Tochtergesellschaft richten. Der Umstand, dass eine Einrichtung vollständig im Eigentum einer anderen steht, bedeutet im Allgemeinen, dass die Letztere das Recht auf Benennung der Geschäftsführer der Ersteren hat und somit eine effektive Kontrolle über die Zusammensetzung des leitenden Personals dieser Einrichtung und letzten Endes über ihr gesamtes Personal ausüben kann. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass unter außergewöhnlichen Umständen die Anwendung des Art. 7 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 423/2007 auf ein Tochterunternehmen angesichts von Faktoren, die den Einfluss des Mutterunternehmens auf die Tochter ausgleichen, selbst dann nicht gerechtfertigt ist, wenn das gesamte Kapital des Tochterunternehmens vom Mutterunternehmen gehalten wird.

(vgl. Randnrn. 120-123)

5.      Die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, wie sie in Art. 253 EG und insbesondere in Art. 15 Abs. 3 der Verordnung Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran vorgesehen ist, dient dem Zweck, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Gemeinschaftsrichter zulässt, und außerdem dem Gemeinschaftsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Rechtsakts zu ermöglichen. Die so verstandene Begründungspflicht ist ein wesentlicher Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, von dem Ausnahmen nur aufgrund zwingender Erwägungen möglich sind. Die Begründung ist dem Betroffenen daher grundsätzlich gleichzeitig mit dem ihn beschwerenden Rechtsakt mitzuteilen, da das Fehlen der Begründung nicht dadurch geheilt werden kann, dass der Betroffene die Gründe für den Rechtsakt während des Verfahrens vor dem Gemeinschaftsrichter erfährt. Der Beachtung der Begründungspflicht kommt im Übrigen im Fall eines ursprünglichen Beschlusses, durch den die Gelder einer Einrichtung eingefroren werden, umso größere Bedeutung zu, als sie die einzige Gewähr dafür bietet, dass der Betroffene die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe, mit denen er die Rechtmäßigkeit des Beschlusses in Frage stellen kann, sachgerecht in Anspruch nehmen kann, da ihm vor dessen Erlass kein Anhörungsrecht zusteht.

Soweit dem keine zwingenden Erwägungen der Sicherheit der Gemeinschaft oder ihrer Mitgliedstaaten oder der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen entgegenstehen, hat daher der Rat nach Art. 15 Abs. 3 der Verordnung der betroffenen Einrichtung beim Erlass eines Beschlusses über das Einfrieren von Geldern, wie dem angefochtenen Beschluss, spezifische und konkrete Gründe bekannt zu geben. Er hat somit die sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit seines Beschlusses abhängt, sowie die Erwägungen aufzuführen, die ihn zu dessen Erlass veranlasst haben. Diese Begründung ist möglichst gleichzeitig mit dem Erlass der betreffenden Maßnahme oder so früh wie möglich im Anschluss daran mitzuteilen.

Die Begründung muss jedoch der Natur des betreffenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen worden ist, angepasst sein. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob eine Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere ist ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihn in die Lage versetzt, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen.

(vgl. Randnrn. 143-145)