Language of document : ECLI:EU:T:2011:344

Rechtssache T‑132/07

Fuji Electric Co. Ltd

gegen

Europäische Kommission

„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Projekte im Bereich gasisolierter Schaltanlagen – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt wird – Aufteilung des Marktes – Nachweis der Zuwiderhandlung – Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung – Dauer der Zuwiderhandlung – Geldbußen – Mildernde Umstände – Zusammenarbeit“

Leitsätze des Urteils

1.      Wettbewerb – Kartelle – Unternehmen – Begriff – Wirtschaftliche Einheit – Zurechnung der Zuwiderhandlungen

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

2.      Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung

(Art. 81 Abs. 1 EG, EWR-Abkommen, Art. 53)

3.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer – Umfang der Beweislast

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

4.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Art des Nachweises – Heranziehung eines Indizienbündels

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

5.      Wettbewerb – Kartelle – Beweis – Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments – Kriterien

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

6.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Unschuldsvermutung – Verfahren in Wettbewerbssachen – Anwendbarkeit

(Einheitliche Europäische Akte, Präambel; Art. 6 Abs. 2 EU; Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

7.      Wettbewerb – Kartelle – Teilnahme an Zusammenkünften mit wettbewerbswidrigem Zweck

(Art. 81 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

8.      Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Verpflichtung, hierauf zu antworten – Fehlen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 18)

9.      Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Natürliche oder juristische Personen – Eingeständnis der tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte, die es rechtfertigen, dem Unternehmen, das Adressat einer Mitteilung der Beschwerdepunkte ist, eine Zuwiderhandlung zuzurechnen, durch dieses Unternehmen während des Verwaltungsverfahrens – Beschränkung der Ausübung des Klagerechts – Verstoß gegen die tragenden Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Wahrung der Verteidigungsrechte

(Art. 81 EG und 230 Abs. 4 EG; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 und 52 Abs. 1)

10.    Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln

(Art. 81 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

11.    Nichtigkeitsklage – Gründe – Verletzung wesentlicher Formvorschriften – Gerichtliche Prüfung von Amts wegen

(Art. 81 EG und 230 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

12.    Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Von einer Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung – Zurechnung an die Muttergesellschaft – Beweislast der Kommission

(Art. 81 Abs. 1 EG; EWR-Abkommen, Art. 53)

13.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Ermessen der Kommission – Befugnis des Gerichts zu unbeschränkter Nachprüfung – Möglichkeit, zusätzliche Informationen heranzuziehen, die in der die Geldbuße verhängenden Entscheidung nicht erwähnt sind

(Art. 263 AEUV und 264 AEUV, Verordnungen des Rates Nr. 17, Art. 15 Abs 4, und Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2 Buchst. a)

14.    Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Vorlage zusätzlicher Beweise nach Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte – Zulässigkeit – Voraussetzungen

(Art. 81 Abs. 1 EG)

15.    Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Nichtfestsetzung oder niedrigere Festsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für die Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Erforderlichkeit eines Verhaltens, das es der Kommission erleichtert hat, die Zuwiderhandlung festzustellen

(Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2, Mitteilung 2002/C 45/03 der Kommission, Nr. 26)

1.      Das den Unternehmen in Art. 81 Abs. 1 EG auferlegte Verbot von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Markts bezwecken oder bewirken, richtet sich an wirtschaftliche Einheiten, die jeweils in einer einheitlichen Organisation persönlicher, materieller und immaterieller Mittel bestehen, mit der dauerhaft ein bestimmter wirtschaftlicher Zweck verfolgt wird, und die an einer Zuwiderhandlung im Sinne dieser Vorschrift beteiligt sein können.

Zu ihrer Anwendung und Durchführung müssen sich jedoch die nach Art. 81 EG erlassenen Entscheidungen gegen Einheiten mit Rechtspersönlichkeit richten. Somit muss die Kommission, wenn sie eine Entscheidung nach Art. 81 Abs. 1 EG erlässt, die Person oder die Personen – natürliche oder juristische – namhaft machen, die für das Verhalten des fraglichen Unternehmens verantwortlich gemacht werden kann oder können und gegen die deswegen Sanktionen verhängt werden können; gegen diese Personen ist die Entscheidung gerichtet.

(vgl. Randnrn. 56-57)

2.      Wenn mehrere Personen persönlich für die Beteiligung ein und desselben Unternehmens im wettbewerbsrechtlichen Sinne an einer Zuwiderhandlung haften, sind diese Personen als gesamtschuldnerisch für die genannte Zuwiderhandlung haftend anzusehen.

Außerdem folgt aus diesen Urteilen, dass für die Beteiligung ein und desselben Unternehmens an einer Zuwiderhandlung die Person, unter deren Verantwortlichkeit oder Leitung das Unternehmen im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung unmittelbar stand, und die Person, die dasselbe Unternehmen im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung mittelbar leitete, weil sie tatsächlich eine Kontrollbefugnis über die erstgenannte Person ausübte und deren Marktverhalten bestimmte, persönlich und gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden können.

Der Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit, wonach eine Person nur für ihre eigenen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, ist daher so zu verstehen, dass er sowohl auf die persönliche Verantwortlichkeit der Person, die das Unternehmen in der Zeit der Zuwiderhandlung unmittelbar leitete, als auch auf die persönliche Verantwortlichkeit der Person abstellt, die dieses Unternehmen zur selben Zeit mittelbar leitete.

(vgl. Randnrn. 58-59, 153)

3.      Im Bereich der Beweislast obliegt es zum einen der Partei oder Behörde, die den Vorwurf einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln erhebt, die Beweismittel beizubringen, die das Vorliegen der eine Zuwiderhandlung darstellenden Tatsachen rechtlich hinreichend beweisen, und zum anderen dem Unternehmen, das sich gegenüber der Feststellung einer Zuwiderhandlung auf eine Rechtfertigung berufen möchte, den Nachweis zu erbringen, dass die Voraussetzungen für diese Rechtfertigung erfüllt sind, so dass die genannte Behörde dann auf andere Beweismittel zurückgreifen muss.

Die Zuwiderhandlungsdauer ist ein Tatbestandsmerkmal des Begriffs der Zuwiderhandlung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG, für das hauptsächlich die Kommission beweispflichtig ist.

Diese Beweislastverteilung kann jedoch Änderungen unterliegen, soweit die tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die sich eine Partei beruft, die andere Partei zu einer Erläuterung oder Rechtfertigung zwingen können, weil sonst der Schluss zulässig ist, dass der Beweis erbracht wurde.

(vgl. Randnrn. 84-85)

4.      In Bezug auf die Beweismittel, die die Kommission heranziehen kann, gilt im Wettbewerbsrecht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung.

In den meisten Fällen muss das Vorliegen einer Verhaltensweise oder wettbewerbswidrigen Vereinbarung aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können. Derartige Indizien und Koinzidenzen können nicht nur Aufschluss über das Bestehen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen oder Vereinbarungen geben, sondern auch über die Dauer eines fortgesetzten wettbewerbswidrigen Verhaltens und den Zeitraum der Anwendung einer unter Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht getroffenen Vereinbarung.

Jedenfalls muss die Kommission genaue und übereinstimmende Beweise beibringen, die die feste Überzeugung begründen, dass die Zuwiderhandlung begangen wurde. Jedoch muss nicht jeder von der Kommission erbrachte Beweis notwendigerweise für jeden Teil der Zuwiderhandlung diesen Kriterien entsprechen. Es genügt nämlich, wenn ein von der Kommission angeführtes Bündel von Indizien im Ganzen betrachtet dem genannten Erfordernis entspricht.

Was die Dauer der Zuwiderhandlung betrifft, so muss die Kommission, soweit es an Beweismaterial fehlt, mit dem die Dauer der Zuwiderhandlung direkt belegt werden kann, zumindest Beweismaterial beibringen, das sich auf Fakten bezieht, die zeitlich so nahe beieinander liegen, dass sie vernünftigerweise den Schluss zulassen, dass die Zuwiderhandlung zwischen zwei konkreten Zeitpunkten ohne Unterbrechung erfolgt ist.

(vgl. Randnrn. 86-87)

5.      Was den Beweiswert angeht, der den einzelnen im Rahmen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln gesammelten Beweismitteln zuzumessen ist, ist das allein maßgebliche Kriterium für die Beurteilung der von einer Partei vorgelegten Beweise deren Glaubwürdigkeit. Nach den allgemeinen Beweisgrundsätzen hängt die Glaubhaftigkeit eines Schriftstücks und damit sein Beweiswert von seiner Herkunft, den Umständen seiner Entstehung, seinem Adressaten und seinem Inhalt ab. Große Bedeutung kommt insbesondere dem Umstand zu, dass ein Schriftstück in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vorgängen oder von einem unmittelbaren Zeugen dieser Vorgänge erstellt wurde. Die Dokumente, aus denen hervorgeht, dass zwischen mehreren Unternehmen Kontakte stattgefunden hatten und dass die Unternehmen das Ziel verfolgten, von vornherein die Ungewissheit über das zukünftige Verhalten ihrer Konkurrenten auszuräumen, belegen rechtlich hinreichend, dass es ein abgestimmtes Verhalten gegeben hat. Außerdem sind Erklärungen, die den Interessen des Erklärenden zuwiderlaufen, grundsätzlich als besonders verlässliche Beweise anzusehen.

(vgl. Randnr. 88)

6.      Im Rahmen eines Nichtigkeitsverfahrens gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt worden ist und den Adressaten der Entscheidung Geldbußen auferlegt worden sind, muss ein etwaiger Zweifel des Gerichts den Adressaten der Entscheidung zugutekommen, und daher kann das Gericht nicht davon ausgehen, dass die Kommission das Vorliegen der betreffenden Zuwiderhandlung rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, wenn bei ihm noch Zweifel in dieser Hinsicht bestehen. Denn in diesem Fall ist der insbesondere in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegte Grundsatz der Unschuldsvermutung zu berücksichtigen, der zu den Grundrechten gehört, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die im Übrigen durch die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte, durch Art. 6 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union und durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigt worden ist, in der Rechtsordnung der Europäischen Union geschützt sind. Angesichts der Art der betreffenden Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der ihretwegen verhängten Sanktionen gilt die Unschuldsvermutung insbesondere in Verfahren wegen Verletzung der Wettbewerbsregeln, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können.

(vgl. Randnr. 89)

7.      Ein Unternehmen, das sich nicht öffentlich von den Ergebnissen einer Sitzung, an der es teilgenommen hat, oder einer Vereinbarung, an der es beteiligt war, distanziert, ist grundsätzlich weiterhin in vollem Umfang für seine Beteiligung am Kartell verantwortlich. Unternehmen könnten das Risiko, eine beträchtliche Geldbuße zahlen zu müssen, nämlich zu leicht minimieren, wenn sie zunächst von einem rechtswidrigen Kartell profitieren und anschließend eine Herabsetzung der Geldbuße mit der Begründung beanspruchen könnten, dass sie bei der Durchführung der Zuwiderhandlung nur eine begrenzte Rolle gespielt hätten, obgleich ihre Haltung andere Unternehmen dazu veranlasste, sich in stärkerem Maß wettbewerbsschädigend zu verhalten. Selbst wenn man daher davon ausgeht, dass das erste betroffene Unternehmen die Gesamtheit der im Rahmen des Kartells getroffenen Vereinbarungen nicht einhielt, reicht dieser Umstand mangels eines Beweises für die öffentliche Distanzierung dieses Unternehmens im Hinblick auf die anderen Kartellmitglieder nicht aus, um das Unternehmen von der Verantwortung zu befreien, die ihm aufgrund seiner Beteiligung an diesen Vereinbarungen und − über diese Vereinbarungen − an der festgestellten Zuwiderhandlung obliegt.

(vgl. Randnr. 100)

8.      Das Wettbewerbsrecht kann nicht dahin ausgelegt werden, dass die betroffene Person im Rahmen des Verwaltungsverfahrens verpflichtet ist, zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, welche die Kommission an sie richtet, Stellung zu nehmen. Die Vorschriften, welche die Rechte und Pflichten von Unternehmen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nach dem Wettbewerbsrecht aufzählen, und die allgemeinen Rechtsgrundsätze verpflichten die Unternehmen nämlich nur dazu, der Kommission die Auskünfte zu erteilen, die sie von ihnen nach Art. 18 der Verordnung Nr. 1/2003 verlangt. Eine solche Verpflichtung wäre im Übrigen − bei Fehlen einer Rechtsgrundlage − kaum mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte zu vereinbaren, da sie es einer Person, die, aus welchem Grund auch immer, auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht geantwortet hat, in der Praxis erschweren würde, Klage vor dem Unionsgericht zu erheben.

So kann zwar die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Kommission, die feststellt, dass eine Person gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen hat, und in der daher eine Geldbuße gegen diese Person verhängt wird, nur nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt ihres Erlasses gewürdigt werden, doch daraus folgt keine Verpflichtung der betroffenen Person, der Kommission bereits ab dem Stadium des Verwaltungsverfahrens alle Beweise vorzulegen, auf die sie sich zur Stützung ihrer Nichtigkeitsklage, die sie vor dem Gericht gegen die nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens erlassene Entscheidung erhebt, berufen möchte.

(vgl. Randnrn. 124, 158)

9.      Im Rahmen eines Verfahrens wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln wird die betroffene Person, wenn sie sich freiwillig für eine Zusammenarbeit entscheidet und im Rahmen des Verwaltungsverfahrens ausdrücklich oder stillschweigend tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte eingesteht, die es rechtfertigen, ihr die Zuwiderhandlung zuzurechnen, dadurch in der Ausübung ihres Rechts auf Klageerhebung gemäß Art. 230 Abs. 4 EG nicht eingeschränkt.

Mangels einer entsprechenden ausdrücklichen Rechtsgrundlage verstieße eine solche Einschränkung gegen die tragenden Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Wahrung der Verteidigungsrechte. Zudem wird das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert, und nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein.

(vgl. Randnr. 159)

10.    Die Begründung einer beschwerenden Entscheidung muss eine wirksame Überprüfung von deren Rechtmäßigkeit ermöglichen und dem Betroffenen die Hinweise geben, aufgrund deren er wissen kann, ob die Entscheidung begründet ist, und die Frage, ob eine Begründung hinreicht, ist anhand der Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Inhalts der Maßnahme, der Art der vorgetragenen Gründe und des Interesses zu beurteilen, das die Adressaten an der Begründung haben können.

Diese Funktionen kann eine Begründung nur erfüllen, wenn sie die Überlegungen der Unionsbehörde, die den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, klar und unzweideutig wiedergibt.

Betrifft eine Entscheidung über die Anwendung von Art. 81 EG und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum außerdem mehrere Adressaten und stellt sich die Frage, wem die Zuwiderhandlung zuzurechnen ist, so muss sie in Bezug auf jeden Adressaten ausreichend begründet sein, insbesondere aber in Bezug auf diejenigen, denen die Zuwiderhandlung in der Entscheidung zur Last gelegt wird.

(vgl. Randnr. 162)

11.    In einem Verfahren zur Nichtigerklärung einer Entscheidung über die Anwendung von Art. 81 EG und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum nimmt der Umstand, dass der Kläger einen materiell‑rechtlichen Klagegrund, der sich auf einen offensichtlichen Beurteilungsfehler stützt, und keine fehlende oder unzureichende Begründung – d. h. eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne von Art. 230 EG − geltend macht, dem Gericht nicht die Möglichkeit, einen solchen Gesichtspunkt von Amts wegen zu prüfen, da es sich um einen Gesichtspunkt zwingenden Rechts handelt, der von Amts wegen geprüft werden kann oder sogar muss, sofern der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens eingehalten wird.

(vgl. Randnr. 163)

12.    Bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln genügt der Umstand, dass eine Tochtergesellschaft eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt, nicht, um auszuschließen, dass ihr Verhalten der Muttergesellschaft zugerechnet werden kann, namentlich, wenn die Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten nicht selbständig bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt.

In diesem Zusammenhang ist es grundsätzlich Sache der Kommission, nachzuweisen, dass die Muttergesellschaft(en) tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft auf dem Markt gehabt hat bzw. haben, und zwar auf der Grundlage von Sachverhaltsangaben wie insbesondere einer Leitungsbefugnis der Muttergesellschaft(en) gegenüber der Tochtergesellschaft. Im Allgemeinen ist ein Mehrheitsanteil am Gesellschaftskapital der Tochtergesellschaft geeignet, der Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaft und insbesondere auf deren Marktverhalten zu ermöglichen.

Dennoch kann eine Minderheitsbeteiligung einer Muttergesellschaft ermöglichen, tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten ihrer Tochtergesellschaft auszuüben, wenn die Muttergesellschaft über Rechte verfügt, die über die Rechte hinausgehen, die üblicherweise Minderheitsaktionären zum Schutz ihrer finanziellen Interessen gewährt werden, und die bei einer Prüfung nach der Methode des Bündels übereinstimmender Indizien rechtlicher oder wirtschaftlicher Natur geeignet sind, den Nachweis dafür zu erbringen, dass ein bestimmender Einfluss auf das Marktverhalten der Tochtergesellschaft ausgeübt wird. Die Kommission kann daher mit Hilfe eines Indizienbündels den Nachweis für die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses erbringen, selbst wenn jeder einzelne dieser Indizien für sich genommen nicht hinreichend beweiskräftig ist.

Die tatsächliche Ausübung einer Leitungsbefugnis der Muttergesellschaft(en) gegenüber ihrer Tochtergesellschaft kann sich unmittelbar aus der Durchführung der einschlägigen Rechtsvorschriften oder aus einer von den Muttergesellschaften nach diesen Rechtsvorschriften getroffenen Vereinbarung über die Leitung ihrer gemeinsamen Tochtergesellschaft ergeben. Die Bedeutung der Rolle der Muttergesellschaft bei der Leitung ihrer Tochtergesellschaft kann auch dadurch belegt werden, dass sich an der Spitze der Tochtergesellschaft zahlreiche Personen finden, die beim Mutterunternehmen Leitungsfunktionen einnehmen. Derartige Doppelfunktionen versetzen das Mutterunternehmen zwangsläufig in die Lage, auf das Marktverhalten seiner Tochtergesellschaft bestimmenden Einfluss zu nehmen, da sie den Mitgliedern der Führungsebene der Muttergesellschaft ermöglichen, im Rahmen ihrer Leitungsfunktionen bei der Tochtergesellschaft dafür zu sorgen, dass deren Vorgehen auf dem Markt mit den Leitlinien übereinstimmt, welche die Leitungsebene der Muttergesellschaft festlegt. Dieses Ziel kann sogar erreicht werden, ohne dass das Mitglied bzw. die Mitglieder der Muttergesellschaft, das bzw. die bei der Tochtergesellschaft Leitungsfunktionen einnimmt bzw. einnehmen, dem Vorstand der Muttergesellschaft angehört bzw. angehören. Schließlich kann sich die Rolle, die von der bzw. den Muttergesellschaft(en) bei der Leitung ihrer Tochtergesellschaft eingenommen wird, auch aus den Geschäftsbeziehungen ergeben, welche die Muttergesellschaft(en) mit der Tochtergesellschaft unterhält bzw. unterhalten. So hat ein Mutterunternehmen, das auch Lieferant oder Kunde seiner Tochtergesellschaft ist, ein besonderes Interesse an der Leitung der Produktions- oder Distributionsaktivitäten seiner Tochtergesellschaft, um durch die auf diese Weise vollzogene vertikale Integration in vollem Umfang vom entstehenden Mehrwert zu profitieren.

Für die Verantwortlichkeit einer Muttergesellschaft für die Handlungen ihrer Tochtergesellschaft braucht im Übrigen keineswegs nachgewiesen zu werden, dass die Muttergesellschaft an dem vorgeworfenen Verhalten unmittelbar beteiligt war oder von ihm Kenntnis hatte. Es ist nämlich nicht ein zwischen der Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft bestehendes Verhältnis der Anstiftung zu der Zuwiderhandlung und erst recht nicht eine Beteiligung der Muttergesellschaft an dieser Zuwiderhandlung, sondern es ist die Tatsache, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung ein einheitliches Marktverhalten an den Tag legten, die die Kommission dazu ermächtigt, eine Bußgeldentscheidung an die Muttergesellschaft einer Unternehmensgruppe zu richten.

(vgl. Randnrn. 179-184, 196)

13.    Abgesehen von der bloßen Kontrolle der Rechtmäßigkeit im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, die lediglich eine Abweisung der Nichtigkeitsklage oder die Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts ermöglicht, wie dies in Art. 264 AEUV vorgesehen ist, ermächtigt die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung den Unionsrichter zur Änderung der angefochtenen Entscheidung selbst ohne deren Nichtigerklärung unter Berücksichtigung sämtlicher Sachverhaltsumstände, beispielsweise um den Betrag der wegen Verletzung der Wettbewerbsregeln verhängten Geldbuße zu ändern.

In den Bereichen, in denen sich die Kommission einen Ermessensspielraum bewahrt hat, z. B. in Bezug auf den Erhöhungssatz der Geldbuße nach Maßgabe der Zuwiderhandlungsdauer oder der Notwendigkeit, der Sanktion eine abschreckende Wirkung zu verleihen, oder in Bezug auf die Bewertung der Qualität und des Nutzens der Mitarbeit eines Unternehmens im Verwaltungsverfahren, insbesondere im Hinblick auf die Beiträge anderer Unternehmen, greift daher der Umstand, dass sich die Rechtmäßigkeitskontrolle im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV auf die Prüfung beschränkt, dass kein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorliegt, grundsätzlich nicht der Ausübung der dem Unionsrichter zustehenden Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung vor.

Im Rahmen der ihm zustehenden Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hat das Unionsgericht die Angemessenheit der Geldbußen im Hinblick auf die in Art. 15 Abs. 4 der Verordnung Nr. 17 bzw. Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten Kriterien zu prüfen. Diese zuletzt genannte Prüfung kann die Vorlage und die Heranziehung zusätzlicher Informationen erfordern, die nicht in der die Geldbuße verhängenden Entscheidung der Kommission erwähnt sind.

(vgl. Randnrn. 208-209)

14.    Die Betroffenen müssen der Mitteilung der Beschwerdepunkte tatsächlich entnehmen können, welches Verhalten ihnen die Kommission zur Last legt; dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn ihnen in der Endentscheidung keine anderen als die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte genannten Zuwiderhandlungen zur Last gelegt und nur Tatsachen berücksichtigt werden, zu denen sie sich äußern konnten.

Auch wenn die einem Unternehmen in einer Entscheidung vorgeworfenen Zuwiderhandlungen keine anderen sein können als die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte genannten, gilt Gleiches nicht für festgestellte Tatsachen, da es für diese genügt, dass die betroffenen Unternehmen die Möglichkeit erhalten haben, sich zu allen ihnen zur Last gelegten Tatsachen zu äußern. Denn es gibt keine Bestimmung, die es der Kommission verbietet, den Parteien nach der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte neue Schriftstücke zu übermitteln, in denen sie eine Stütze für ihr Vorbringen sieht, sofern sie den Unternehmen die erforderliche Zeit einräumt, sich hierzu zu äußern.

(vgl. Randnr. 238)

15.    Zwar trifft es zu, dass der Zeitpunkt, zu dem Beweismittel der Kommission übermittelt werden, auf die Qualifizierung der Beweismittel als erheblicher Mehrwert Einfluss nimmt, da diese Qualifizierung von den Beweismitteln abhängt, die sich zum Zeitpunkt der Übermittlung bereits in der Akte der Kommission befinden, doch der bloße Umstand, dass Beweismittel nach der Zustellung der Mitteilung der Beschwerdepunkte übermittelt wurden, schließt nicht aus, dass sie trotz des fortgeschrittenen Stadiums des Verwaltungsverfahrens noch einen erheblichen Mehrwert haben können. Insbesondere kann sich ein Unternehmen in einem Antrag nach der Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, der nach dem Versand der Mitteilung der Beschwerdepunkte gestellt wird, auf Tatsachen konzentrieren, die seiner Meinung nach nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen wurden, um einen erheblichen Mehrwert gegenüber den Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der Kommission befinden, zu erbringen.

Darüber hinaus enthält Nr. 26 der Kronzeugenregelung nur eine Verfahrenspflicht der Kommission. Er sieht nicht vor, dass jede Mitwirkung oder Zusammenarbeit eines Unternehmens bei der Erbringung des Nachweises für eine Zuwiderhandlung zwangsläufig keinen Wert hat, wenn sie erst nach der Zustellung der Mitteilung der Beschwerdepunkte erfolgt. Im Übrigen kann eine solche Mitwirkung sehr hilfreich sein, wenn die Kommission von den gelieferten Beweisen zuvor keine Kenntnis hatte und die Beweise die Schwere oder Dauer des mutmaßlichen Kartells unmittelbar beeinflussen.

(vgl. Randnrn. 239-240)