Language of document : ECLI:EU:T:2009:304

Rechtssache T‑211/05

Italienische Republik

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Staatliche Beihilfen – Beihilferegelung der italienischen Behörden zugunsten von Unternehmen, die neu zur Notierung an der Börse zugelassen werden – Entscheidung, mit der die Unvereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Begründungspflicht – Selektiver Charakter – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Beeinträchtigung des Wettbewerbs“

Leitsätze des Urteils

1.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Prüfungsphase – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Prüfungsverfahren einzuleiten – Verpflichtung, die Beihilfemaßnahme zunächst mit dem betroffenen Mitgliedstaat zu erörtern und die Sachlage im Licht der von diesem mitgeteilten Gesichtspunkte zu prüfen

(Art. 87 Abs. 1 EG und 88 Abs. 2 und 3 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 4 Abs. 4)

2.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Geltung für Verwaltungsverfahren vor der Kommission – Prüfung von Beihilfevorhaben

(Art. 88 Abs. 3 EG)

3.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Entscheidung, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 88 Abs. 2 EG einzuleiten – Begründungspflicht

(Art. 88 Abs. 2 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Art. 6 Abs. 1)

4.      Staatliche Beihilfen – Entscheidung der Kommission, mit der die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird – Begründungspflicht

(Art. 88 Abs. 2 EG und 253 EG)

5.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Steuervergünstigung für neu zur Notierung an der Börse zugelassene Unternehmen – Einbeziehung – Rechtfertigung mit der Natur und der Struktur des nationalen Steuersystems – Dem betroffenen Mitgliedstaat obliegender Nachweis

(Art. 87 Abs. 1 EG)

6.      Staatliche Beihilfen – Beeinträchtigung des Handelsverkehrs zwischen Mitgliedstaaten – Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beihilfe geringen Umfangs in einem Sektor mit lebhaftem Wettbewerb

(Art. 87 Abs. 1 EG)

7.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die unter die Ausnahmeregelung des Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG fallen können

(Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG)

1.      Im Rahmen des in Art. 88 EG vorgesehenen Verfahrens zur Kontrolle staatlicher Beihilfen ist zu unterscheiden zwischen der Phase der Vorprüfung der Beihilfen nach Art. 88 Abs. 3 EG, die nur dazu dient, der Kommission eine erste Meinungsbildung über die teilweise oder völlige Vereinbarkeit der fraglichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt zu ermöglichen, und der in Art. 88 Abs. 2 EG geregelten förmlichen Prüfungsphase. Nur in dieser Phase, die es der Kommission ermöglichen soll, sich umfassende Kenntnis von allen Gegebenheiten des Falles zu verschaffen, sieht der EG-Vertrag die Verpflichtung der Kommission vor, den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Nach Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] ist die Kommission verpflichtet, das Verfahren des Art. 88 Abs. 2 EG einzuleiten, wenn sie bei einer ersten Prüfung nicht alle Schwierigkeiten hinsichtlich der Frage ausräumen konnte, ob eine ihrer Kontrolle unterliegende staatliche Maßnahme eine Beihilfe im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG darstellt; dies gilt zumindest dann, wenn sie bei dieser ersten Prüfung nicht die Überzeugung gewinnen konnte, dass die betreffende Maßnahme, wenn sie denn eine Beihilfe sein sollte, auf jeden Fall mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist.

In Anbetracht der rechtlichen Folgen einer Entscheidung, das Verfahren des Art. 88 Abs. 2 EG zu eröffnen, indem Maßnahmen vorläufig als neue Beihilfen eingestuft werden, obwohl der betroffene Mitgliedstaat mit dieser Einstufung womöglich nicht einverstanden ist, muss die Kommission die fraglichen Maßnahmen zunächst mit dem betroffenen Mitgliedstaat erörtern, damit dieser ihr gegebenenfalls mitteilen kann, dass diese Maßnahmen seiner Auffassung nach keine Beihilfen oder dass sie bestehende Beihilfen darstellen.

(vgl. Randnrn. 35-37)

2.      Im Rahmen eines Vorprüfungsverfahrens gebietet es die Wahrung der Verteidigungsrechte, dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit zu geben, zu den Aspekten Stellung zu nehmen, auf die die Kommission ihre Beurteilung gestützt hat. Eine Verletzung dieser Rechte in dieser Phase führt aber nur dann zu einer Nichtigerklärung der endgültigen Entscheidung, wenn das Verfahren ohne diese Verletzung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Die Beweislast hierfür trägt der betroffene Mitgliedstaat, da eine Verletzung der Verteidigungsrechte einen Formfehler darstellt, der es verlangt, dass der Betroffene die spezielle negative Auswirkung des Verstoßes auf seine subjektiven Rechte geltend macht.

(vgl. Randnr. 45)

3.      Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstellt und insbesondere Bestandteil der Verteidigungsrechte ist, erfordert es, dem Betroffenen im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände, auf die diese ihre Behauptung stützt, dass eine Zuwiderhandlung gegen den EG-Vertrag vorliege, sachgerecht Stellung zu nehmen. Gemäß Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] enthält die „Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens … eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der geplanten Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt“. Der Einleitungsbeschluss muss die Betroffenen in die Lage versetzen, sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend machen können. Hierfür genügt es, dass die Beteiligten erfahren, welche Überlegungen die Kommission zu der vorläufigen Ansicht veranlasst haben, dass die in Rede stehende Maßnahme eine neue, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Maßnahme darstellen könnte.

Die Kommission ist nicht verpflichtet, den betroffenen Mitgliedstaat vor Erlass ihrer Entscheidung über ihren Standpunkt zu informieren, wenn dem Mitgliedstaat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde.

(vgl. Randnrn. 53-54, 58)

4.      Der Umfang der Begründungspflicht hängt nach ständiger Rechtsprechung von der Art des in Rede stehenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen wurde, ab. Die Begründung muss die Überlegungen des Organs, das den Akt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass zum einen der Gemeinschaftsrichter die ihm obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle wahrnehmen kann und es zum anderen den Betroffenen möglich ist, die Gründe für die getroffene Maßnahme zu erkennen, damit sie ihre Rechte verteidigen und prüfen können, ob die Entscheidung in der Sache begründet ist. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Aspekte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 253 EG genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere braucht die Kommission nicht auf alle Argumente einzugehen, die die Betroffenen vor ihr geltend gemacht haben. Es reicht aus, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführt, denen in der Systematik der Entscheidung eine wesentliche Bedeutung zukommt.

Im Fall einer Beihilferegelung kann sich die Kommission darauf beschränken, deren allgemeine Merkmale zu untersuchen, ohne dass sie verpflichtet wäre, jeden einzelnen Anwendungsfall zu prüfen, um festzustellen, ob die Regelung Beihilfeelemente enthält.

Die Kommission muss zwar in der Begründung ihrer Entscheidung zumindest die Umstände aufführen, unter denen eine Beihilfe gewährt worden ist, wenn sie den Nachweis ermöglichen, dass die Beihilfe geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb aktuell oder potenziell zu verfälschen, braucht aber nicht die tatsächliche Situation auf den betroffenen Märkten, den Marktanteil der durch die Beihilfe begünstigten Unternehmen, die Stellung der konkurrierenden Unternehmen und die Handelsströme zwischen Mitgliedstaaten wirtschaftlich zu analysieren. Ferner ist sie bei rechtswidrig gewährten Beihilfen nicht verpflichtet, die tatsächlichen Auswirkungen darzutun, die diese Beihilfen auf den Wettbewerb und den Handel zwischen Mitgliedstaaten gehabt haben. Ein solches Erfordernis würde darauf hinauslaufen, dass die Mitgliedstaaten, die rechtswidrige Beihilfen zahlen, zulasten derjenigen Staaten begünstigt würden, die die Beihilfen in der Planungsphase anmelden.

(vgl. Randnrn. 68-69, 87, 158)

5.      Art. 87 Abs. 1 EG verlangt die Feststellung, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung geeignet ist, bestimmte Unternehmen gegenüber anderen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.

Das ist der Fall bei einer Steuervergünstigung, die nur Unternehmen zugestanden wird, die in dem kurzen Zeitraum von fünfzehn Monaten für die Anwendung einer Beihilferegelung an der Börse zugelassen worden sind, während jedes andere Unternehmen, ohne dass es darauf ankommt, ob es sich um bereits an der Börse notierte Unternehmen handelt oder um solche, die die Voraussetzungen für die Notierung an der Börse in dem von der Beihilferegelung erfassten Zeitraum nicht erfüllen und dies auch nicht können, von den Vorteilen dieser Regelung ausgeschlossen ist.

Was eine eventuelle Rechtfertigung der streitigen Maßnahmen mit der Natur und der Struktur des nationalen Steuersystems angeht, ist, wenn eine Differenzierung, wie sie hier in Rede steht, anderen Zielen dient als denen, die mit dem allgemeinen System verfolgt werden, grundsätzlich anzunehmen, dass die fragliche Maßnahme die in Art. 87 Abs. 1 EG vorgesehene Bedingung der Selektivität erfüllt. Es obliegt dem Mitgliedstaat, der eine derartige Differenzierung zwischen Unternehmen im Bereich von Belastungen vorgenommen hat, darzutun, dass sie tatsächlich durch die Natur und die Struktur des fraglichen Systems gerechtfertigt ist.

(vgl. Randnrn. 119-120, 125)

6.      Art. 87 Abs. 1 EG verbietet Beihilfen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen. Im Rahmen ihrer Beurteilung dieser beiden Voraussetzungen ist die Kommission nicht verpflichtet, eine tatsächliche Auswirkung der Beihilfen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten und eine tatsächliche Wettbewerbsverzerrung nachzuweisen, sondern hat nur zu prüfen, ob die Beihilfen geeignet sind, diesen Handel zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen.

Auch eine relativ geringfügige Beihilfe kann den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, wenn in den Sektoren, in denen die begünstigten Unternehmen tätig sind, ein lebhafter Wettbewerb herrscht.

Begünstigt eine staatliche Stelle ein Unternehmen, das in einer durch intensiven Wettbewerb gekennzeichneten Branche tätig ist, durch die Einräumung eines Vorteils, so liegt außerdem eine Verzerrung des Wettbewerbs oder die Gefahr einer solchen Verzerrung vor. Ist der Vorteil geringer, wird der Wettbewerb zwar weniger stark, aber dennoch verfälscht. Das Verbot in Art. 87 Abs. 1 EG gilt für jede Beihilfe, die den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht, unabhängig von ihrer Höhe, sofern sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt.

(vgl. Randnrn. 151-152, 154-155)

7.      Die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der die Kommission feststellt, dass eine neue Beihilfe die Tatbestandsmerkmale dieser Ausnahme nicht verwirklicht, ist allein im Rahmen des Art. 87 Abs. 3 Buchst. c EG zu prüfen, und nicht im Hinblick auf eine frühere Entscheidungspraxis der Kommission.

Betriebsbeihilfen fallen grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Art. 87 Abs. 3 EG, da sie die Wettbewerbsbedingungen in den Sektoren, in denen sie gewährt werden, verfälschen, ohne insoweit ihrer Natur nach geeignet zu sein, einen der in dieser Bestimmung festgelegten Zwecke zu erreichen.

(vgl. Randnrn. 170, 173)