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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 16. Januar 2020(1)

Rechtssache C15/19

A.m.a. – Azienda Municipale Ambiente SpA

gegen

Consorzio Laziale Rifiuti – Co.La.Ri.

(Vorabentscheidungsersuchen des Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Umwelt – Abfälle – Richtlinie 1999/31 – Deponien – Kosten von Abfalldeponien – Vorhandene Deponien – Zeitliche Anwendung der Richtlinie – Änderung der vertraglich ursprünglich vorgesehenen Beseitigungsgebühren – Rückwirkungsverbot – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Verhältnismäßigkeit“






I.      Einleitung

1.        Im Abfallrecht sollen die ursprünglichen Abfallbesitzer im Prinzip die Kosten der Abfallbewirtschaftung tragen. Doch folgt daraus, dass der Betreiber einer Deponie von einem Unternehmen, das in der Vergangenheit Abfälle zur Ablagerung abgeliefert hat, nachträglich zusätzliche Gebühren fordern kann, wenn sich die Kosten des Betriebs der Deponie aufgrund des Erlasses der Deponierichtlinie(2) erhöhen?

2.        Diese Frage stellt sich im vorliegenden Verfahren, weil die im Jahr 1999 erlassene Deponierichtlinie eine Nachsorge von mindestens 30 Jahren nach der Stilllegung einer Deponie vorsieht, während innerstaatlich für die betreffende Deponie zuvor nur eine Nachsorge von zehn Jahren festgelegt worden war.

3.        Zur Beantwortung dieser Frage sind die einschlägigen Bestimmungen der Deponierichtlinie im Licht des Rückwirkungsverbots sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu erörtern.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Deponierichtlinie

4.        Die Erwägungsgründe 25 und 26 der Deponierichtlinie erläutern die zeitliche Anwendung der Deponierichtlinie:

„(25)      Die Bestimmungen dieser Richtlinie über das Stilllegungsverfahren sollten nicht für Deponien gelten, die vor dem Termin für die Umsetzung der Richtlinie stillgelegt wurden.

(26)      Die künftigen Bedingungen für den Betrieb bestehender Deponien sollten im Hinblick darauf festgelegt werden, dass innerhalb einer bestimmten Frist die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Anpassung an diese Richtlinie aufgrund eines Nachrüstungsprogramms für die Deponie getroffen werden.“

5.        Die Kosten der Nachsorge spricht der 29. Erwägungsgrund der Deponierichtlinie an:

„Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass das Entgelt für die Abfallbeseitigung in einer Deponie so festgelegt wird, dass alle Kosten für die Errichtung und den Betrieb der Deponie, so weit wie möglich einschließlich der – vom Betreiber zu stellenden – finanziellen Sicherheitsleistung oder etwas Gleichwertigem, und die geschätzten Kosten für die Stilllegung, einschließlich der Nachsorge, abgedeckt sind.“

6.        Die Genehmigung einer Deponie wird in Art. 8 Buchst. a der Deponierichtlinie geregelt:

„Die zuständige Behörde erteilt nur dann eine Genehmigung für eine Deponie, wenn gewährleistet ist, dass

iv)      der Antragsteller vor Beginn des Deponiebetriebs angemessene Vorkehrungen in Form einer finanziellen Sicherheitsleistung oder etwas anderem Gleichwertigen nach von den Mitgliedstaaten festzulegenden Modalitäten getroffen hat, um zu gewährleisten, dass die Auflagen (auch hinsichtlich der Nachsorge), die mit der gemäß dieser Richtlinie erteilten Genehmigung verbunden sind, erfüllt und die in Art. 13 vorgeschriebenen Stilllegungsverfahren eingehalten werden. Diese Sicherheitsleistung oder etwas Gleichwertiges besteht so lange fort, wie die Wartungs- und Nachsorgearbeiten auf der Deponie gemäß Art. 13 Buchst. d dies erfordern. …“

7.        Art. 10 der Deponierichtlinie betrifft die Kosten der Ablagerung von Abfällen:

„Die Mitgliedstaaten treffen Maßnahmen, die gewährleisten, dass alle Kosten für die Errichtung und den Betrieb einer Deponie, so weit wie möglich einschließlich der Kosten der finanziellen Sicherheitsleistung oder etwas Gleichwertigem, gemäß Art. 8 Buchst. a Ziffer iv, sowie die geschätzten Kosten für die Stilllegung und die Nachsorge für einen Zeitraum von mindestens dreißig Jahren durch das vom Betreiber in Rechnung zu stellende Entgelt für die Ablagerung aller Abfallarten in der Deponie abgedeckt werden. …“

8.        Das Verfahren der Stilllegung und Nachsorge ist Gegenstand von Art. 13 der Deponierichtlinie:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass, gegebenenfalls im Einklang mit der Genehmigung,

a)      …

b)      eine Deponie oder ein Teil derselben nur als endgültig stillgelegt anzusehen ist, wenn die zuständige Behörde eine Schlussabnahme durchgeführt, alle vom Betreiber vorgelegten Berichte einer Bewertung unterzogen und dem Betreiber ihre Zustimmung für die Stilllegung erteilt hat. Dadurch wird die Verantwortung des Betreibers, die in der Genehmigung festgelegt ist, nicht verringert;

c)      nach der endgültigen Stilllegung einer Deponie der Betreiber für die Wartungsarbeiten, die Mess- und Überwachungsmaßnahmen während der Nachsorgephase so lange verantwortlich ist, wie es die zuständige Behörde unter Berücksichtigung des Zeitraums verlangt, in dem von der Deponie Gefährdungen ausgehen können.

Der Betreiber meldet der zuständigen Behörde alle erheblichen nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt, die durch die Überwachungsverfahren festgestellt werden, und kommt der Anordnung der Behörde über Art und Zeitpunkt der zu treffenden Abhilfemaßnahmen nach;

d)      solange die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass eine Deponie [die] Umwelt gefährden könnte, und unbeschadet gemeinschaftlicher oder einzelstaatlicher Rechtsvorschriften über die Haftung des Abfallbesitzers der Deponiebetreiber verantwortlich ist für die Messung und Analyse von Deponiegas und Sickerwasser aus der Deponie und das Grundwasserregime im Umfeld der Deponie gemäß Anhang III.“

9.        Die Anwendung der Deponierichtlinie auf vorhandene Deponien ist Gegenstand von Art. 14 der Deponierichtlinie:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen Maßnahmen, die sicherstellen, dass Deponien, die zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie über eine Zulassung verfügen oder in Betrieb sind, nur dann weiterbetrieben werden können, wenn so bald wie möglich und spätestens binnen acht Jahren nach dem in Art. 18 Abs. 1 genannten Zeitpunkt nachstehende Schritte durchgeführt werden:

a)      Innerhalb von einem Jahr nach dem … [16. Juli 2001] erarbeitet der Betreiber ein Nachrüstprogramm mit den in Art. 8 genannten Angaben sowie allen von ihm als erforderlich erachteten Abhilfemaßnahmen für die Erfüllung der Anforderungen dieser Richtlinie (mit Ausnahme der Anforderungen in Anhang I Nr. 1) und legt dieses der zuständigen Behörde zur Zulassung vor.

b)      Nach Vorlage des Nachrüstprogramms trifft die zuständige Behörde eine endgültige Entscheidung auf der Grundlage des Nachrüstprogramms und der Bestimmungen dieser Richtlinie darüber, ob der Betrieb fortgesetzt werden kann. Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, damit Deponien, die keine Zulassung nach Art. 8 für den Weiterbetrieb erhalten haben, gemäß Art. 7 Buchst. g) und Art. 13 so bald wie möglich stillgelegt werden.

c)      Auf der Grundlage des autorisierten Nachrüstprogramms genehmigt die zuständige Behörde die notwendigen Arbeiten und legt eine Übergangsfrist für die Durchführung dieses Programms fest. Alle vorhandenen Deponien müssen binnen acht Jahren nach dem … [16. Juli 2001] die Anforderungen dieser Richtlinie mit Ausnahme der Anforderungen in Anhang I Nr. 1 erfüllen.“

2.      Abfallrichtlinie

10.      Als der streitgegenständliche Schiedsspruch erging, waren die grundlegenden Bestimmungen des Abfallrechts der Union in der Abfallrichtlinie aus dem Jahr 2008(3) niedergelegt, doch entsprechende Bestimmungen waren auch schon in den älteren Fassungen dieser Richtlinie(4) enthalten.

11.      Art. 13 der heutigen Abfallrichtlinie enthält die früher in Art. 4 niedergelegte grundlegende Schutzpflicht der Abfallbewirtschaftung:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Abfallbewirtschaftung ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit oder Schädigung der Umwelt erfolgt …“

12.      Art. 14 Abs. 1 der Abfallrichtlinie enthält das Verursacherprinzip, das früher in Art. 11, dann in Art. 15 vorgesehen war:

„Gemäß dem Verursacherprinzip sind die Kosten der Abfallbewirtschaftung von dem Abfallersterzeuger oder von dem derzeitigen Abfallbesitzer oder den früheren Abfallbesitzern zu tragen.“

B.      Italienisches gesetzesvertretendes Dekret 36/2003

13.      Art. 15 Abs. 1 des Decreto legislativo del 13 gennaio 2003, n. 36, Attuazione della direttiva 1999/31/CE relativa alle discariche di rifiuti(5) (Gesetzesvertretendes Dekret vom 13. Januar 2003, Nr. 36, Umsetzung der Richtlinie 1999/31/EG über Abfalldeponien) regelt die Gebühren der Deponie:

„Der entsprechende Preis für die Ablagerung in der Deponie muss die Kosten für die Errichtung und den Betrieb der Anlage, die Kosten der finanziellen Sicherheitsleistung und die geschätzten Kosten für die Stilllegung sowie die Kosten der Nachsorge für einen Zeitraum abdecken, der dem in Art. 10 Abs. 1 Buchst. i genannten entspricht“.

14.      Art. 17 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets enthält eine Frist für die Anpassung vorhandener Deponien an die neuen Anforderungen:

„Binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Dekrets legt der Inhaber der Zulassung im Sinne von Abs. 1 oder der von diesem beauftragte Betreiber der Deponie bei der zuständigen Behörde ein Nachrüstprogramm für die Örtlichkeit nach Maßgabe der in diesem Dekret aufgeführten Kriterien einschließlich der finanziellen Sicherheiten im Sinne von Art. 14 vor.“

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

15.      Zwischen der Azienda Municipale Ambiente spa (AMA), einem Unternehmen der Stadt Rom, und dem Consorzio Laziale Rifiuti (Consorzio), dem Betreiber der Abfalldeponie Malagrotta, besteht eine vertragliche Vereinbarung über einen „öffentlichen Dienstleistungsauftrag“ vom 26. Januar 1996 über die Entsorgung von Abfällen. Dieser Vertrag ging von einer Nachsorge während eines Zeitraums von zehn Jahren nach der Stilllegung der Deponie aus.

16.      Nachdem die Deponierichtlinie und das gesetzesvertretende Dekret 36/2003 die Nachsorgezeiten für die Deponie von Malagrotta auf mindestens 30 Jahre verlängerten, wurden die künftig zu zahlenden Abfallgebühren an die längere Nachsorge angepasst.

17.      Außerdem wurde AMA mit Schiedsspruch vom 8. Februar 2012 verurteilt, dem Consorzio für die Zeit vor der Anpassung der Gebühren wegen der längeren Nachsorge zusätzliche Kosten in Höhe von über 76 Mio. Euro zu erstatten.

18.      Die Corte d’Appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien) bestätigte den Schiedsspruch. Gegen dieses Urteil erhob AMA bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) Kassationsbeschwerde.

19.      AMA rügt, die Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Deponierichtlinie seien vom Berufungsgericht dahin ausgelegt worden, dass die Verlängerung der Frist für die Nachsorge und die damit verbundenen Kosten auch auf bereits in der Deponie angelieferte Abfälle ausgedehnt würden. Die Anwendung der Art. 15 und 17 des gesetzesvertretenden Dekrets 36/2003 auch auf vorhandene Deponien widerspreche den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit, dem Rückwirkungsverbot sowie dem Grundsatz der Angemessenheit. AMA habe im Laufe der Jahre bereits Beträge an das Consorzio gezahlt, die über die von diesem geforderten höheren Kosten weit hinausgingen. Bei einer Bestätigung der Verurteilung drohe zudem die Gefährdung ihrer finanziellen Stabilität.

20.      Der Kassationsgerichtshof richtet daher die folgenden Fragen an den Gerichtshof:

1.      Steht die Auslegung des Berufungsgerichts, das die Art. 15 und 17 des gesetzesvertretenden Dekrets 36/2003, die die Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie im innerstaatlichen Bereich umsetzen, rückwirkend anwenden wollte, mit der Folge, dass vorhandene Deponien, die bereits über eine Betriebszulassung verfügen, vorbehaltlos den danach auferlegten Pflichten unterliegen, insbesondere soweit die Verlängerung der Nachsorge von zehn auf 30 Jahre vorgesehen ist, mit den genannten Bestimmungen (des Unionsrechts) in Einklang?

2.      Steht insbesondere die Auslegung des Berufungsgerichts, das die Art. 15 und 17 des gesetzesvertretenden Dekrets 36/2003 auf vorhandene Deponien, die bereits über eine Betriebszulassung verfügen, anwenden wollte, obwohl Art. 17 bei der Umsetzung der danach auferlegten Pflichten auch in Bezug auf diese Deponien die Umsetzungsmaßnahmen auf das Vorsehen eines Übergangszeitraums beschränkt und keine Maßnahme vorsieht, die die finanziellen Auswirkungen der Verlängerung für den „Besitzer“ begrenzen soll, mit den Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie im Hinblick auf den Regelungsgehalt dieser Bestimmungen im Einklang, mit denen die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, „Maßnahmen, die gewährleisten, dass alle Kosten für die Errichtung und den Betrieb einer Deponie, so weit wie möglich einschließlich der Kosten der finanziellen Sicherheitsleistung oder etwas Gleichwertigem, gemäß Art. 8 Buchst. a Ziffer iv, sowie die geschätzten Kosten für die Stilllegung und die Nachsorge für einen Zeitraum von mindestens dreißig Jahren durch das vom Betreiber in Rechnung zu stellende Entgelt für die Ablagerung aller Abfallarten in der Deponie abgedeckt werden“, und „Maßnahmen, die sicherstellen, dass Deponien, die zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie über eine Zulassung verfügen oder in Betrieb sind, … weiterbetrieben werden können“, zu ergreifen?

3.      Steht darüber hinaus die Auslegung des Berufungsgerichts, das die Art. 15 und 17 des gesetzesvertretenden Dekrets 36/2003 auf vorhandene Deponien, die bereits über eine Betriebszulassung verfügen, auch in Bezug auf die finanziellen Belastungen anwenden wollte, die sich aus den danach auferlegten Pflichten, insbesondere der Verlängerung der Nachsorge von zehn auf 30 Jahre, ergeben, und diese Belastungen dem „Besitzer“ auferlegt und auf diese Weise die Änderung der in den Vereinbarungen, die die Entsorgungstätigkeit regeln, festgelegten Entgelte zu dessen Nachteil rechtfertigt, mit den Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie in Einklang?

4.      Steht schließlich die Auslegung des Berufungsgerichts, das die Art. 15 und 17 des gesetzesvertretenden Dekrets 36/2003 auf vorhandene Deponien, die bereits über eine Betriebszulassung verfügen, auch in Bezug auf die finanziellen Belastungen anwenden wollte, die sich aus den danach auferlegten Pflichten, insbesondere der Verlängerung der Nachsorge von zehn auf 30 Jahre, ergeben, und der Ansicht war, dass – bei deren Bestimmung – nicht nur die Abfälle zu berücksichtigen seien, die ab Inkrafttreten der Umsetzungsvorschriften angeliefert werden, sondern auch die bereits vorher angelieferten, mit den Art. 10 und 14 der Richtlinie in Einklang?

21.      Die Azienda Municipale Ambiente, das Consorzio Laziale Rifiuti und die Europäische Kommission haben sich schriftlich geäußert. Aber nur die AMA und die Kommission beteiligten sich an der mündlichen Verhandlung vom 27. November 2019.

IV.    Rechtliche Würdigung

22.      Bevor ich die Fragen des Kassationsgerichtshofs erörtere, werde ich kurz auf ihre Zulässigkeit eingehen.

A.      Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

23.      Das Consorzio hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, da die Fragen für die Entscheidung des Ausgangsstreits unerheblich seien. Insbesondere seien diese Fragen nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens gewesen und sie könnten daher nicht zum Gegenstand des Verfahrens vor dem Kassationsgerichtshof gemacht werden.

24.      Es trifft zu, dass ein Vorabentscheidungsersuchen nur zulässig ist, soweit die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsfalls erheblich sind.

25.      Nach ständiger Rechtsprechung spricht jedoch eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.(6)

26.      Daher ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, zu prüfen, ob die Vorlagefragen nach italienischem Verfahrensrecht für die Entscheidung des Ausgangsfalls erheblich sind.

27.      Aus der Perspektive des Unionsrechts liegt ihre Erheblichkeit dagegen auf der Hand: Der dem Consorzio zugesprochene Anspruch beruht darauf, dass zumindest das Schiedsgericht davon ausging, nach der Deponierichtlinie sei die Verantwortung der AMA für die Nachsorge der Deponie Malagrotta von zehn Jahren auf 30 Jahre ausgedehnt worden.

28.      Somit ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

B.      Zu den Fragen des Kassationsgerichtshofs

29.      Der Kassationsgerichtshof möchte erfahren, ob die Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie einer Auslegung der entsprechenden italienischen Umsetzungsbestimmungen entgegenstehen, wonach Deponiebetreiber für die Ausdehnung der Deponienachsorge von zehn auf 30 Jahre nachträglich zusätzliche Gebühren von den Abfallbesitzern fordern können, die in der Vergangenheit Abfälle abgeliefert haben.

30.      Er bezweifelt insbesondere, dass die Anwendung der längeren Nachsorgepflicht mit dem Rückwirkungsverbot sowie den Grundsätzen der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist und richtet daher vier Fragen an den Gerichtshof.

31.      Die erste Frage soll klären, ob vorhandene Deponien, die bereits über eine Betriebszulassung verfügen, vorbehaltlos den durch die Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie auferlegten Pflichten unterliegen, insbesondere soweit die Verlängerung der Nachsorge von zehn auf 30 Jahre vorgesehen ist. In die gleiche Richtung geht die vierte Frage, ob die verlängerte Nachsorge auch auf Abfälle anzuwenden ist, die vor Inkrafttreten der Umsetzungsvorschriften angeliefert wurden. Ich werde zunächst diese beiden Fragen untersuchen, soweit sie sich auf den Deponiebetreiber beziehen.

32.      Soweit sich die vierte Frage dagegen auf den Abfallbesitzer bezieht, werde ich sie gemeinsam mit der zweiten und der dritten Frage im Hinblick darauf erörtern, ob die Deponierichtlinie die nachträgliche Erhebung zusätzlicher Gebühren für die Ablagerung von Abfällen verlangt. Die zweite Frage richtet sich nämlich darauf, ob Italien verpflichtet war, Regelungen zur Begrenzung nachträglicher zusätzlicher Gebührenforderungen an frühere Abfallbesitzer vorzusehen. Gegenstand der dritten Frage ist die Wirkung der Umsetzung der Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie auf bestehende Vereinbarungen zwischen dem Deponiebetreiber und früheren Abfallbesitzern.

1.      Zur Anwendung der Nachsorgepflicht auf vorhandene Deponien und bereits angelieferte Abfälle

33.      Die erste und die vierte Frage betreffen die Anwendung der Pflicht zur Nachsorge auf Deponien, die beim Beginn der Anwendung der Deponierichtlinie bereits genutzt wurden.

a)      Zur Nachsorgepflicht für vorhandene Deponien

34.      Die Anwendung der Deponierichtlinie auf vorhandene Deponien ist Gegenstand von Art. 14. Danach ergreifen die Mitgliedstaaten Maßnahmen, die sicherstellen, dass Deponien, die zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie (16. Juli 2001) über eine Zulassung verfügen oder in Betrieb sind, nur dann weiterbetrieben werden können, wenn spätestens binnen acht Jahren (bis zum 16. Juli 2009) bestimmte Schritte durchgeführt werden.

35.      Art. 14 Buchst. b der Deponierichtlinie eröffnet den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese vorhandenen Deponien zwei Wege, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Entweder genehmigen sie den Weiterbetrieb unter Beachtung der Deponierichtlinie oder sie ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, damit Deponien, die keine Zulassung für den Weiterbetrieb erhalten haben, gemäß Art. 7 Buchst. g und Art. 13 so bald wie möglich stillgelegt werden.(7)

36.      Wenn – wie anscheinend im vorliegenden Fall(8) – der Betrieb über den 16. Juli 2009 hinaus genehmigt wurde, so muss nach Art. 14 Buchst. c der Deponierichtlinie eine vorhandene Deponie spätestens mit Ablauf der Übergangsfrist die Anforderungen der Richtlinie mit Ausnahme der Anforderungen in Anhang I Nr. 1 erfüllen. Letztere betreffen den Standort der Deponie und sind daher für den vorliegenden Fall nicht von Interesse.

37.      Dagegen sind die Nachsorgepflichten gemäß Art. 13 Buchst. c der Deponierichtlinie spätestens nach Ablauf der Übergangsfrist voll anwendbar. Der Betreiber muss die Nachsorge danach so lange durchführen, wie es die zuständige Behörde unter Berücksichtigung des Zeitraums verlangt, in dem von der Deponie Gefährdungen ausgehen können. Für die Kosten muss er gemäß Art. 8 Buchst. a Ziffer iv bis zum Ende der Nachsorge Sicherheit leisten.

38.      Die Nachsorgepflichten des Betreibers würden jedoch auch gelten, wenn die Deponie nicht weiter betrieben, sondern vor Ablauf der Übergangsfrist stillgelegt worden wäre. Denn auch für diesen Fall verweist Art. 14 Buchst. b der Deponierichtlinie auf Art. 13.

39.      Somit folgt bereits aus dem ausdrücklichen Wortlaut der Deponierichtlinie, dass die Betreiber der Deponien, die beim Ablauf der Umsetzungsfrist zum 16. Juli 2001 in Betrieb waren, zur Nachsorge verpflichtet sind, bis von der Deponie keine Gefahren mehr ausgehen. Nur die zu diesem Zeitpunkt bereits stillgelegten Deponien sind davon nicht betroffen, wie der 25. Erwägungsgrund klarstellt.

b)      Zur Erstreckung der Nachsorgepflicht auf Altabfälle

40.      Die Pflicht zur Nachsorge unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen Abfällen, die vor oder nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist abgeliefert und eingelagert wurden. Wie es in der vierten Frage anklingt, könnte man sich daher fragen, ob diese Pflicht im Licht des Rückwirkungsverbots und der Rechtssicherheit ausschließlich Abfälle erfasst, die später abgeliefert und eingelagert wurden.

41.      Wie das Consorzio am Beispiel der Deponie Malagrotta anschaulich darlegt, ist eine solche Unterscheidung allerdings praktisch kaum durchführbar, da alte und neue Abfälle in der Deponie vermischt werden und gemeinsam die Risiken begründen, denen mit der Nachsorge begegnet werden soll. Die Nachsorge muss sich folglich in der Regel auf die Deponie insgesamt erstrecken.

42.      Es wäre lediglich vorstellbar, klar abgegrenzte Deponieabschnitte, die beim Ablauf der Umsetzungsfrist nicht mehr betrieben wurden und nicht in Wechselwirkung mit den weiter betriebenen Abschnitten treten können, von der Nachsorgepflicht der Deponierichtlinie auszunehmen.

43.      Für solche Abschnitte würden in der Regel aber zumindest die Anforderungen verschiedener Fassungen der Abfallrichtlinie gelten, die seit 1977 angewendet wurden. Daher müssten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass weder die menschliche Gesundheit gefährdet noch die Umwelt geschädigt wird,(9) und auch das Verursacherprinzip wäre zu beachten.(10) Allerdings verfügen die Mitgliedstaaten über einen erheblichen Gestaltungsspielraum, wie sie die notwendige Nachsorge und die Verteilung der Kosten organisieren.(11)

44.      Das Vorabentscheidungsersuchen enthält keine Hinweise darauf, dass im Ausgangsverfahren solche Altabschnitte betroffen sind. Das Consorzio trägt vielmehr vor, dass die verschiedenen Abschnitte in enger Wechselbeziehung stünden. Daher muss der Gerichtshof nicht entscheiden, unter welchen Bedingungen bestimmte ältere Abschnitte einer vorhandenen Deponie der Deponierichtlinie nicht mehr unterliegen, und kann für die weitere Diskussion davon ausgehen, dass es um die Nachsorge einer Deponie geht, die sich beim Ablauf der Umsetzungsfrist der Deponierichtlinie im Betrieb befand.

c)      Zum Rückwirkungsverbot sowie zu den Grundsätzen der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit

45.      AMA und der Kassationsgerichtshof bezweifeln jedoch, dass die Anwendung der Nachsorgepflicht mit dem Rückwirkungsverbot sowie den Grundsätzen der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

46.      Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sind Teil der Unionsrechtsordnung. Sie müssen deshalb von den Unionsorganen, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien übertragen, beachtet werden.(12)

47.      Um die Beachtung dieser Grundsätze zu gewährleisten, sind die materiell-rechtlichen Unionsvorschriften so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte („situations acquises“) nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist.(13) Denn der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es im Allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Gemeinschaftsrechtsakts auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen. Dies kann nur ausnahmsweise dann anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.(14)

48.      Allerdings gilt eine neue Vorschrift unmittelbar für die künftigen Auswirkungen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist.(15) Der Anwendungsbereich des Grundsatzes des Vertrauensschutzes darf nämlich nicht so weit erstreckt werden, dass die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Auswirkungen von zuvor entstandenen Sachverhalten schlechthin ausgeschlossen ist.(16)

49.      Die Pflicht zur Nachsorge für Deponien, die bei Ablauf der Umsetzungsfrist der Deponierichtlinie noch in Betrieb waren, ist ein solcher Fall der Geltung einer neuen Vorschrift für die künftigen Auswirkungen eines Sachverhalts, der unter Geltung der alten Vorschrift entstanden ist.

50.      Diese Verpflichtung verstößt auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Überwachung der Risiken einer stillgelegten Deponie entspricht dem Ziel eines hohen Schutzniveaus, das in Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 37 der Charta und Art. 191 Abs. 2 AEUV niedergelegt ist. Die Nachsorgepflicht ist geeignet, dieses Ziel zu fördern, und ein milderes Mittel drängt sich nicht auf.

51.      Schließlich ist es auch angemessen, diese Verpflichtung dem Betreiber der Deponie aufzuerlegen. Er erzielt mit dem Betrieb der Deponie Einnahmen und kennt die Deponie in der Regel am besten. Im Übrigen ist die Pflicht zur Nachsorge nicht überraschend durch die Deponierichtlinie eingeführt worden, sondern sie ergab sich letztlich bereits aus den verschiedenen Fassungen der Abfallrichtlinie, die seit 1977 angewandt wurden.

d)      Zwischenergebnis

52.      Auf die erste und die vierte Frage, soweit sie den Betreiber der Deponie betrifft, ist somit zu antworten, dass gemäß den Art. 10, 13 und 14 der Deponierichtlinie der Betreiber einer Abfalldeponie, die bei Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie genutzt wurde, zu verpflichten ist, für mindestens 30 Jahre nach der Stilllegung der Deponie die Nachsorge zu gewährleisten. In der Regel kann dabei nicht zwischen Abfällen, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie eingelagert wurden, und den zuvor eingelagerten Abfällen unterschieden werden.

2.      Die Kosten der Nachsorge

53.      Von der Pflicht des Deponiebetreibers zur Nachsorge ist die Verantwortung für die Kosten der Nachsorge zu trennen, die der Kassationsgerichtshof in der zweiten und der dritten Frage anspricht sowie in der vierten Frage, soweit sie die Situation der Abfallbesitzer betrifft. Diese Kosten sollen im Prinzip im Einklang mit dem Verursacherprinzip auf die Abfallbesitzer umgelegt werden, die Abfälle zur Ablagerung auf der Deponie abgeben. Ihre Grundlage findet diese Kostenverteilung in Art. 10 der Deponierichtlinie (dazu unter a), doch es ist zweifelhaft, ob sie auch für Abfälle gilt, die vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist der Deponierichtlinie abgegeben wurden (dazu unter b).

a)      Regelungsgehalt von Art. 10 der Deponierichtlinie

54.      Wie auch aus dem 29. Erwägungsgrund der Deponierichtlinie hervorgeht, müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 10 Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass das Entgelt für die Abfallbeseitigung in einer Deponie alle Kosten für die Errichtung und den Betrieb der Deponie abdeckt.(17)

55.      Dieses Erfordernis ist Ausdruck des Verursacherprinzips. Es bedeutet, wie der Gerichtshof bereits im Rahmen verschiedener Fassungen der Abfallrichtlinie entschieden hat,(18) dass die Kosten für die Beseitigung der Abfälle von den Abfallbesitzern zu tragen sind.(19) Die Anwendung des Verursacherprinzips entspricht dem Ziel der Deponierichtlinie, die nach ihrem Art. 1 Abs. 1 der Erfüllung der Anforderungen der Abfallrichtlinie, insbesondere ihres Art. 4, dient, der u. a. die Mitgliedstaaten verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Förderung der Vermeidung oder Einschränkung der Abfallbildung zu ergreifen.(20)

56.      Die in Art. 10 der Deponierichtlinie genannten Kosten schließen ausdrücklich die geschätzten Kosten für die Stilllegung und die Nachsorge für einen Zeitraum von mindestens 30 Jahren ein.

57.      Diese Regelung war nach Art. 14 Buchst. c der Deponierichtlinie auf weiter betriebene vorhandene Deponien spätestens mit Ablauf der Übergangsfrist anzuwenden, denn ab diesem Zeitpunkt galten die Anforderungen der Richtlinie für diese Deponien. Seit damals musste das Entgelt für die Abfallbeseitigung durch vorhandene Deponien folglich die Nachsorge einschließen.

b)      Zur nachträglichen Erhöhung von Beseitigungsgebühren

58.      Mit den Feststellungen zur Nachsorgepflicht und zum Umfang der Gebühren ab dem Zeitpunkt der Anwendung von Art. 10 der Deponierichtlinie auf vorhandene Deponien ist allerdings noch nicht entschieden, ob die Gebühren für frühere Zeiträume nachträglich um die Kosten einer längeren Nachsorge erhöht werden können.

59.      Die Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie enthalten dazu keine ausdrückliche Regelung. Im Gegenteil: Art. 14 Buchst. c verlangt nur, dass die weiter betriebenen Deponien die Anforderungen der Richtlinie bis zum Ablauf der Übergangsfrist erfüllen müssen.

60.      Falls eine vorhandene Deponie nicht weiter betrieben, sondern stillgelegt wird, so verweist Art. 14 Buchst. b der Deponierichtlinie nur auf Art. 7 Buchst. g und Art. 13, nicht aber auf Art. 10. Es kann aber nicht unterstellt werden, dass die nach Art. 13 Buchst. c notwendige Nachsorge bei diesen Deponien prinzipiell früher beendet werden kann als bei den weiter betriebenen Deponien. Möglicherweise kommen die zuständigen Stellen sogar zu dem Ergebnis, dass von der Deponie länger als 30 Jahre Gefahren ausgehen, so dass die Nachsorge nach Art. 13 Buchst. c länger dauert.

61.      Somit sehen die Regelungen der Deponierichtlinie – entgegen der Kommission – nicht ausdrücklich vor, dass Abfallbesitzer, die in der Vergangenheit Abfälle bei einer Deponie abgeliefert haben, aber dafür ein Entgelt zahlten, das nicht ausreicht, um die geschätzten Nachsorgekosten für mindestens 30 Jahre zu decken, nachträglich ein zusätzliches Entgelt entrichten, um die Deckungslücke zu schließen.

62.      Gleichwohl spricht das Verursacherprinzip dafür, solchen Abfallbesitzern auch diese zusätzlichen Kosten aufzuerlegen. Zwar nennt die Deponierichtlinie dieses Prinzip im Zusammenhang mit Art. 10 nicht ausdrücklich, doch es ist gemäß Art. 191 Abs. 2 AEUV ein Grundprinzip des Umweltrechts der Union und daher bei seiner Auslegung zwingend zu berücksichtigen.

63.      Darüber hinaus sahen schon vor dem Erlass der Deponierichtlinie die verschiedenen Fassungen der Abfallrichtlinie vor, dass die Abfallbesitzer, die ihre Abfälle einem Abfallbeseitigungsunternehmen übergeben, gemäß dem Verursacherprinzip die Kosten für die Beseitigung der Abfälle tragen.(21)

64.      Wenn Italien diese Bestimmungen richtig umgesetzt und gleichzeitig die erforderlichen Maßnahmen getroffen hätte, um sicherzustellen, dass die Abfälle beseitigt werden, ohne die menschliche Gesundheit zu gefährden oder die Umwelt zu schädigen (Art. 4 der zuvor geltenden Fassungen der Abfallrichtlinie), so hätten die Gebühren für die Abfallbeseitigung auch schon in der Vergangenheit die Kosten der Nachsorge ausreichend abgedeckt.

65.      Nachträglich erhöhte Gebühren hingegen würden das Verursacherprinzip nur noch in deutlich geringerem Ausmaß verwirklichen. Zwar würden sie der Verursachungsverantwortung der Abfallbesitzer entsprechen. Ohne ihr Verhalten wären die Abfälle schließlich gar nicht entstanden. Die Steuerungsfunktion des Verursacherprinzips käme jedoch nicht mehr zur Geltung, denn die Abfallbesitzer können ihr Verhalten nachträglich nicht mehr an den wahren Kosten der Abfallbeseitigung ausrichten.

66.      Entscheidend sind aber die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. Wie bereits dargelegt, verlangen sie, die materiell-rechtlichen Unionsvorschriften so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte („situations acquises“) nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist.(22)

67.      Eine Verpflichtung von Abfallbesitzern, nachträglich zusätzliche Abfallbeseitigungskosten zu zahlen, wäre mit diesen Anforderungen unvereinbar.

68.      Erstens sind nämlich Wortlaut, Zielsetzung und Aufbau der Deponierichtlinie, insbesondere der Art. 10 und 14, nicht hinreichend eindeutig, dass der Kostenregelung Rückwirkung zukommen könnte.

69.      Zugleich ist zweitens für einen Abfallbesitzer, der Abfälle bei einer Deponie abliefert und dafür die geforderten Gebühren zahlt, der Sachverhalt abgeschlossen. Seine Situation entspricht in Bezug auf diese Gebühren der eines Zollschuldners, dessen Zollschuld vor Inkrafttreten einer neuen materiell-rechtlichen Regelung entstanden ist,(23) und der eines Beihilfenempfängers, der die Beihilfe vor dem Inkrafttreten eines neuen Beihilfekodex erhalten hat.(24)

70.      Das schließt es natürlich nicht aus, dass die Vereinbarung zwischen dem Consorzio und AMA die Verteilung der Kosten anders regelt. So ist es vorstellbar, dass nachträgliche Ansprüche des Betreibers für den Fall zusätzlicher Kosten vorgesehen sind. Auch wäre es nicht überraschend, wenn das Consorzio die Deponie nur für AMA betriebe und somit AMA mittelbar weiter im Besitz der Abfälle bliebe. In diesen Fällen ginge es allerdings nicht um eine Anwendung von Art. 10 der Deponierichtlinie, sondern nur um die Auslegung des zwischen diesen beiden Parteien geschlossenen Vertrags, die nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt. Das Vorabentscheidungsersuchen enthält im Übrigen keine Hinweise für eine solche Situation.

71.      Bei dem hier anzunehmenden Sachverhalt ist hingegen einzuräumen, dass der Betreiber einer weiter betriebenen vorhandenen Deponie bei dieser Auslegung der Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie möglicherweise die Kosten der Nachsorge nicht mit den eingenommenen Abfallbeseitigungsgebühren decken kann. Dies ist insbesondere dann zu befürchten, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Abfallrichtlinie unzureichend umgesetzt hat, so dass die Nachsorge bei der Bemessung der Abfallbeseitigungskosten ursprünglich nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

72.      Zwar trägt AMA vor, dass bereits die nach der Umsetzung der Deponierichtlinie vorgenommene Erhöhung der Gebühren für künftige Abfalllieferungen ausreichen würde, um die längere Nachsorge zu finanzieren. Doch zumindest die innerstaatlichen Gerichte scheinen davon auszugehen, dass diese zusätzlichen Einnahmen nicht ausreichen. Auch ist nicht auszuschließen, dass der Markt für Deponien oder die Restdauer des Betriebs es nicht zulässt, über die Erhöhung der Gebühren ausreichende Einnahmen zu erzielen.

73.      Für eine solche Deckungslücke wäre neben dem Mitgliedstaat jedoch der Betreiber der Deponie zumindest mitverantwortlich, denn aufgrund seiner Kenntnis der Deponie sollte er den Umfang der notwendigen Nachsorge am besten beurteilen können. Wenn er zu Recht davon ausgehen durfte, dass aufgrund des Zustands der Deponie eine lediglich zehnjährige Nachsorge prinzipiell ausreicht, sollte die weitere Nachsorge nur noch geringe Kosten verursachen. Wenn der Zustand der Deponie dagegen nach zehn Jahren immer noch einen hohen Nachsorgeaufwand erforderlich macht, dann ist der Deponiebetreiber bei der Festlegung der Nachsorgedauer seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen.

c)      Zwischenergebnis

74.      Auf die zweite und die dritte Frage sowie auf die vierte Frage, soweit sie die Situation der Abfallbesitzer betrifft, ist daher zu antworten, dass die Art. 10 und 14 der Deponierichtlinie im Licht des Rückwirkungsverbots sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes es nicht rechtfertigen, von früheren Abfallbesitzern, die Abfälle bei Deponien abgegeben und dafür die geforderten Gebühren entrichtet haben, zusätzliche Gebühren zu erheben, wenn später die Dauer der Nachsorge für die Deponie verlängert wird und dieser zusätzliche Kostenfaktor in der ursprünglichen Gebühr noch nicht berücksichtigt worden ist.

V.      Ergebnis

75.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen wie folgt zu beantworten:

1)      Gemäß den Art. 10, 13 und 14 der Richtlinie 1999/31/EG über Abfalldeponien ist der Betreiber einer Abfalldeponie, die bei Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie genutzt wurde, zu verpflichten, für mindestens 30 Jahre nach der Stilllegung der Deponie die Nachsorge zu gewährleisten. In der Regel kann dabei nicht zwischen Abfällen, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie eingelagert wurden, und den zuvor eingelagerten Abfällen unterschieden werden.

2)      Die Art. 10 und 14 der Richtlinie 1999/31 rechtfertigen es im Licht des Rückwirkungsverbots sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht, von früheren Abfallbesitzern, die Abfälle bei Deponien abgegeben und dafür die geforderten Gebühren entrichtet haben, zusätzliche Gebühren zu erheben, wenn später die Dauer der Nachsorge für die Deponie verlängert wird und dieser zusätzliche Kostenfaktor in der ursprünglichen Gebühr noch nicht berücksichtigt worden ist.


1      Originalsprache: Deutsch.


2      Richtlinie 1999/31/EG des Rates vom 26. April 1999 über Abfalldeponien (ABl. 1999, L 182, S. 1) in der Fassung der Richtlinie 2011/97/EU des Rates vom 5. Dezember 2011 zur Änderung der Richtlinie 1999/31/EG im Hinblick auf spezifische Kriterien für die Lagerung von als Abfall betrachtetem metallischem Quecksilber (ABl. 2011, L 328, S. 49).


3      Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien (ABl. 2008, L 312, S. 3).


4      Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. 1975, L 194, S. 39) in den verschiedenen Fassungen sowie Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Abfälle (ABl. 2006, L 114, S. 9).


5      GURI Nr. 59 vom 12. März 2003, SO Nr. 40.


6      Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio (C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 67).


7      Urteile vom 16. Juli 2015, Kommission/Bulgarien (C‑145/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:502, Rn. 30), vom 25. Februar 2016, Kommission/Spanien (C‑454/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:117, Rn. 59), vom 28. November 2018, Kommission/Slowenien (C‑506/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:959, Rn. 45), und vom 21. März 2019, Kommission/Italien (C‑498/17, EU:C:2019:243, Rn. 27).


8      So die Feststellung im Urteil vom 15. Oktober 2014, Kommission/Italien (C‑323/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2290, Rn. 13).


9      Siehe oben, Nr. 11.


10      Siehe oben, Nr. 12.


11      In diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Futura Immobiliare u. a. (C‑254/08, EU:C:2009:479, Rn. 47 ff.).


12      Urteile vom 3. Dezember 1998, Belgocodex (C‑381/97, EU:C:1998:589, Rn. 26), vom 26. April 2005, „Goed Wonen“ (C‑376/02, EU:C:2005:251, Rn. 32), vom 10. September 2009, Plantanol (C‑201/08, EU:C:2009:539, Rn. 43), und vom 10. Dezember 2015, Veloserviss (C‑427/14, EU:C:2015:803, Rn. 30).


13      Urteile Urteil vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u.a. (212/80 bis 217/80, EU:C:1981:270, Rn. 9), vom 10. Februar 1982, Bout (21/81, EU:C:1982:47, Rn. 13), vom 29. Januar 2002, Pokrzeptowicz-Meyer (C‑162/00, EU:C:2002:57, Rn. 49), vom 6. Oktober 2015, Kommission/Andersen (C‑303/13 P, EU:C:2015:647, Rn. 50), und vom 14. März 2019, Textilis (C‑21/18, EU:C:2019:199, Rn. 30).


14      Urteile vom 25. Januar 1979, Racke (98/78, EU:C:1979:14, Rn. 20), vom 13. November 1990, Fédesa u. a. (C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 45), vom 28. November 2006, Parlament/Rat (C‑413/04, EU:C:2006:741, Rn. 75), und vom 30. April 2019, Italien/Rat (Fangquoten für Schwertfisch im Mittelmeer) (C‑611/17, EU:C:2019:332, Rn. 106).


15      Urteile vom 5. Dezember 1973, SOPAD (143/73, EU:C:1973:145, Rn. 8), vom 29. Januar 2002, Pokrzeptowicz-Meyer (C‑162/00, EU:C:2002:57, Rn. 49), und vom 6. Oktober 2015, Kommission/Andersen (C‑303/13 P, EU:C:2015:647, Rn. 49).


16      Urteile vom 16. Mai 1979, Tomadini (84/78, EU:C:1979:129, Rn. 21), vom 29. Januar 2002, Pokrzeptowicz-Meyer (C‑162/00, EU:C:2002:57, Rn. 55), und vom 6. Oktober 2015, Kommission/Andersen (C‑303/13 P, EU:C:2015:647, Rn. 49).


17      Urteil vom 25. Februar 2010, Pontina Ambiente (C‑172/08, EU:C:2010:87, Rn. 35).


18      Urteile vom 7. September 2004, Van de Walle u. a. (C‑1/03, EU:C:2004:490, Rn. 57), zur Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. 1975, L 194, S. 39) in der durch die Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 (ABl. 1991, L 78, S. 32) geänderten Fassung, vom 24. Juni 2008, Commune de Mesquer (C‑188/07, EU:C:2008:359, Rn. 71), zur Richtlinie 75/442 in der durch die Entscheidung 96/350/EG der Kommission vom 24. Mai 1996 (ABl. 1996, L 135, S. 32) geänderten Fassung, vom 16. Juli 2009, Futura Immobiliare u. a. (C‑254/08, EU:C:2009:479, Rn. 44 und 45), zur Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Abfälle (ABl. 2006, L 114, S. 9), und vom 30. März 2017, VG Čistoća (C‑335/16, EU:C:2017:242, Rn. 24), zur Abfallrichtlinie.


19      Urteil vom 25. Februar 2010, Pontina Ambiente (C‑172/08, EU:C:2010:87, Rn. 36).


20      Urteil vom 25. Februar 2010, Pontina Ambiente (C‑172/08, EU:C:2010:87, Rn. 36), noch zur Richtlinie 75/442 in der in der durch die Entscheidung 96/350 geänderten Fassung.


21      Siehe oben, Nr. 12.


22      Siehe oben, Nrn. 46 und 47.


23      Vgl. Urteile vom 7. September 1999, De Haan (C‑61/98, EU:C:1999:393, Rn. 12 bis 14), vom 14. November 2002, Ilumitrónica (C‑251/00, EU:C:2002:655, Rn. 28 bis 30), und vom 23. Februar 2006, Molenbergnatie (C‑201/04, EU:C:2006:136, Rn. 42).


24      Vgl. Urteil vom 24. September 2002, Falck und Acciaierie di Bolzano/Kommission (C‑74/00 P und C‑75/00 P, EU:C:2002:524, Rn. 117).