Language of document : ECLI:EU:C:2017:992

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

20. Dezember 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Art. 110 Abs. 1 – Fehlender Schutz – Sogenannte ‚Reparaturklausel‘ – Begriff ‚Bauelement eines komplexen Erzeugnisses‘ – Reparatur des komplexen Erzeugnisses, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen – Maßnahmen, die der Benutzer ergreifen muss, um sich auf die ‚Reparaturklausel‘ berufen zu können – Nachgebaute Autofelge, die mit dem Originalfelgenmodell identisch ist“

In den verbundenen Rechtssachen C‑397/16 und C‑435/16

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand, Italien) und vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 15. und vom 2. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Juli und am 4. August 2016, in den Verfahren

Acacia Srl

gegen

Pneusgarda Srl, in Konkurs,

Audi AG (C‑397/16)


und

Acacia Srl,

Rolando D’Amato

gegen

Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG (C‑435/16)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Acacia Srl und von Herrn D’Amato, vertreten durch F. Munari, M. Esposito und A. Macchi, avvocati, sowie durch die Rechtsanwälte B. Schneiders, D. Treue und D. Thoma,

–        der Audi AG, vertreten durch Rechtsanwalt G. Hasselblatt sowie durch M. Cartella und M. Locatelli, avvocati,

–        der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG, vertreten durch Rechtsanwältin B. Ackermann und Rechtsanwalt C. Klawitter,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Santoro, S. Fiorentino und L. Cordi, avvocati dello Stato,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und J. Techert als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch D. Segoin als Bevollmächtigten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und H. Stergiou als Bevollmächtigte,


–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Samnadda, V. Di Bucci und T. Scharf als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. September 2017

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).

2        Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten erstens zwischen der Acacia Srl auf der einen und der Pneusgarda Srl, in Konkurs, sowie der Audi AG auf der anderen Seite, zweitens zwischen Acacia und ihrem Geschäftsführer, Herrn Rolando D’Amato, auf der einen und der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG (im Folgenden: Porsche) auf der anderen Seite wegen des Vorwurfs, Acacia habe Gemeinschaftsgeschmacksmuster verletzt, deren Inhaberinnen Audi und Porsche seien.

 Rechtlicher Rahmen

 Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums

3        Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums wurde mit dem Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. 1994, L 336, S. 1) genehmigt. Sein Art. 26 Abs. 2 bestimmt:

„Die Mitglieder können begrenzte Ausnahmen vom Schutz gewerblicher Muster und Modelle vorsehen, sofern solche Ausnahmen nicht unangemessen im Widerspruch zur normalen Verwertung geschützter gewerblicher Muster oder Modelle stehen und die berechtigten Interessen des Inhabers des geschützten Musters oder Modells nicht unangemessen beeinträchtigen, wobei auch die berechtigten Interessen Dritter zu berücksichtigen sind.“

 Unionsrecht

 Richtlinie 98/71/EG

4        Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. 1998, L 289, S. 28) heißt es:

„Für etliche Industriesektoren ist die rasche Annahme dieser Richtlinie dringend geworden. Derzeit lässt sich eine vollständige Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Benutzung geschützter Muster zur Reparatur eines komplexen Erzeugnisses im Hinblick auf die Wiederherstellung von dessen ursprünglicher Erscheinungsform dann nicht durchführen, wenn das Erzeugnis, in das das Muster aufgenommen ist oder bei dem es benutzt wird, Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, von dessen Erscheinungsform das geschützte Muster abhängt. Der Umstand, dass die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Benutzung geschützter Muster für eine derartige Reparatur komplexer Erzeugnisse nicht vollständig angeglichen sind, sollte der Angleichung anderer einzelstaatlicher Vorschriften des Rechts zum Schutz von Mustern, die das Funktionieren des Binnenmarkts ganz unmittelbar berühren, nicht entgegenstehen. Daher sollten die Mitgliedstaaten in der Zwischenzeit gemäß dem Vertrag Bestimmungen beibehalten, die die Benutzung des Musters eines Bauelements zur Reparatur eines komplexen Erzeugnisses im Hinblick auf die Wiederherstellung von dessen ursprünglicher Erscheinungsform ermöglichen sollen; führen sie neue Bestimmungen über eine derartige Benutzung ein, so sollten diese lediglich die Liberalisierung des Handels mit solchen Bauelementen ermöglichen. …“

5        Art. 14 („Übergangsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Solange nicht auf Vorschlag der Kommission gemäß Artikel 18 Änderungen dieser Richtlinie angenommen worden sind, behalten die Mitgliedstaaten ihre bestehenden Rechtsvorschriften über die Benutzung des Musters eines Bauelements zur Reparatur eines komplexen Erzeugnisses im Hinblick auf die Wiederherstellung von dessen ursprünglicher Erscheinungsform bei und führen nur dann Änderungen an diesen Bestimmungen ein, wenn dadurch die Liberalisierung des Handels mit solchen Bauelementen ermöglicht wird.“

 Verordnung Nr. 6/2002

6        Die Erwägungsgründe 1, 9 und 13 der Verordnung Nr. 6/2002 lauten:

„(1)      Ein einheitliches System für die Erlangung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters, dem einheitlicher Schutz mit einheitlicher Wirkung für die gesamte Gemeinschaft verliehen wird, würde die im Vertrag festgelegten Ziele der Gemeinschaft fördern.

(9)      Die materiellrechtlichen Bestimmungen dieser Verordnung über das Geschmacksmusterrecht sollten den entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 98/71/EG angepasst werden.

(13)      Durch die Richtlinie 98/71/EG konnte keine vollständige Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der Anwendung des Musterschutzes auf Bauelemente erreicht werden, die mit dem Ziel verwendet werden, die Reparatur eines komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, wenn das Muster bei einem Erzeugnis benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, von dessen Erscheinungsbild das Muster abhängig ist. Im Rahmen des Vermittlungsverfahrens hinsichtlich der genannten Richtlinie hat sich die Kommission verpflichtet, die Auswirkungen dieser Richtlinie drei Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu überprüfen, insbesondere im Hinblick auf die Industriesektoren, die am stärksten betroffen sind. Unter diesen Umständen ist es angebracht, das Recht an dem durch diese Verordnung eingeführten Muster nicht zu gewähren, wenn dieses Muster bei einem Erzeugnis benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, von dessen Erscheinungsbild das Muster abhängig ist, und das mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, bis der Rat über seine Politik auf diesem Gebiet auf der Grundlage eines Vorschlags der Kommission einen Beschluss gefasst hat.“

7        Art. 3 dieser Verordnung bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet:

a)      ‚Geschmacksmuster‘ die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt;

b)      ‚Erzeugnis‘ jeden industriellen oder handwerklichen Gegenstand, einschließlich – unter anderem – der Einzelteile, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpackung, Ausstattung, graphischen Symbolen und typographischen Schriftbildern; ein Computerprogramm gilt jedoch nicht als ‚Erzeugnis‘;

c)      ‚komplexes Erzeugnis‘ ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann.“


8        Art. 4 („Schutzvoraussetzungen“) der Verordnung besagt:

„(1)      Ein Geschmacksmuster wird durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt, soweit es neu ist und Eigenart hat.

(2)      Ein Geschmacksmuster, das in einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, gilt nur dann als neu und hat nur dann Eigenart:

a)      wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt … und

b)      soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen.

(3)      ‚Bestimmungsgemäße Verwendung‘ im Sinne des Absatzes 2 Buchstabe a) bedeutet Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Instandhaltungs-, Wartungs- oder Reparaturarbeiten.“

9        Art. 19 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster gewährt seinem Inhaber das ausschließliche Recht, es zu benutzen und Dritten zu verbieten, es ohne seine Zustimmung zu benutzen. Die erwähnte Benutzung schließt insbesondere die Herstellung, das Anbieten, das Inverkehrbringen, die Einfuhr, die Ausfuhr oder die Benutzung eines Erzeugnisses, in das das Muster aufgenommen oder bei dem es verwendet wird, oder den Besitz des Erzeugnisses zu den genannten Zwecken ein.“

10      Art. 110 („Übergangsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 6/2002 sieht vor:

„(1)      Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem auf Vorschlag der Kommission Änderungen zu dieser Verordnung in Kraft treten, besteht für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses im Sinne des Artikels 19 Absatz 1 mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, kein Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster.

(2)      Der Vorschlag der Kommission gemäß Absatz 1 wird gleichzeitig mit den Änderungen, die die Kommission zu diesem Bereich gemäß Artikel 18 der Richtlinie 98/71/EG vorschlägt, vorgelegt und trägt diesen Änderungen Rechnung.“

 Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

 Rechtssache C397/16

11      Audi ist Inhaberin mehrerer Gemeinschaftsgeschmacksmuster, die an Leichtmetallfelgen für Personenkraftwagen bestehen.

12      Acacia stellt unter der Marke WSP Italy Leichtmetallfelgen für Personenkraftwagen her und vertreibt sie über ihre eigene Website, die in mehreren Sprachen abrufbar ist. Gemäß dem vorlegenden Gericht sind einige dieser Felgen mit den Leichtmetallfelgen von Audi identisch. Die von Acacia hergestellten Felgen tragen den Stempelaufdruck „NOT OEM“, was bedeutet, dass sie nicht aus Originalteilen hergestellt sind. In den Marketingunterlagen und den technischen Unterlagen zu diesen Produkten, in den Verkaufsrechnungen sowie auf der Website von Acacia wird darauf hingewiesen, dass diese Felgen ausschließlich als Ersatzteile für Reparaturzwecke verkauft werden.

13      Audi erhob beim Tribunale di Milano (Gericht Mailand, Italien) eine Klage, mit der sie im Wesentlichen die Feststellung begehrte, dass die Herstellung und der Vertrieb der fraglichen Felgen durch Acacia eine Verletzung ihrer Gemeinschaftsgeschmacksmuster darstellen. Das Gericht gab der Klage statt.

14      Gegen dieses Urteil legte Acacia bei der Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand, Italien) Berufung ein. Dieses Gericht stellte fest, dass es hinsichtlich der Anwendung der sogenannten „Reparaturklausel“ uneinheitliche Entscheidungen von italienischen Gerichten und Gerichten anderer Mitgliedstaaten gebe, woraus zu schließen sei, dass erhebliche Zweifel bezüglich der Auslegung von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 bestünden.

15      Die Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen die Grundsätze des freien Warenverkehrs und des freien Dienstleistungsverkehrs im Binnenmarkt, der Grundsatz der Effektivität der europäischen Wettbewerbsregeln und der Liberalisierung des Binnenmarkts, die Grundsätze der praktischen Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des europäischen Rechts innerhalb der Europäischen Union sowie die Bestimmungen des abgeleiteten Rechts der Europäischen Union wie die Richtlinie 98/71 und insbesondere ihr Art. 14, Art. 1 der Verordnung (EU) Nr. 461/2010 der Kommission vom 27. Mai 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (ABl. 2010, L 129, S. 52) und die Regelung Nr. 124 der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) – Einheitliche Bedingungen für die Genehmigung von Rädern für Personenkraftwagen und ihre Anhänger (ABl. 2006, L 375, S. 604, berichtigt im ABl. 2007, L 70, S. 413) einer Auslegung des die Reparaturklausel enthaltenden Art. 110 der Verordnung Nr. 6/2002 entgegen, die nachgebaute, im Aussehen mit den Originalfelgen der Erstausstattung identische und auf der Grundlage der Regelung Nr. 124 genehmigte Felgen vom Begriff des Bauelements eines komplexen Erzeugnisses (Kraftfahrzeug) für die Zwecke seiner Reparatur und der Wiederherstellung seines ursprünglichen Erscheinungsbilds ausschließt?

2.      Im Fall der Verneinung der ersten Frage: Stehen die Normen über die gewerblichen Schutzrechte für eingetragene Muster, nach vorheriger Abwägung der in der ersten Frage angesprochenen Interessen, einer Anwendung der Reparaturklausel auf nachgebaute ergänzende Erzeugnisse, unter denen der Kunde frei wählen kann, ausgehend davon entgegen, dass die Reparaturklausel einschränkend ausgelegt werden muss und nur bei Ersatzteilen mit einer bestimmten Form angeführt werden kann, und zwar bei Bauelementen, deren Form anhand des äußeren Erscheinungsbilds des komplexen Erzeugnisses im Wesentlichen unabänderlich festgelegt wurde, unter Ausschluss anderer Bauelemente, die als austauschbar anzusehen sind und frei nach dem Geschmack des Kunden montiert werden können?

3.      Im Fall der Bejahung der zweiten Frage: Welche Maßnahmen muss der Hersteller nachgebauter Felgen ergreifen, um den rechtmäßigen Verkehr der Erzeugnisse sicherzustellen, die zur Reparatur des komplexen Erzeugnisses und zur Wiederherstellung seines ursprünglichen äußeren Erscheinungsbilds dienen?

 Rechtssache C435/16

16      Porsche ist Inhaberin mehrerer Gemeinschaftsgeschmacksmuster, die an Leichtmetallfelgen für Personenkraftwagen bestehen.

17      Die von Acacia hergestellten Felgen werden in Deutschland über deren Website vertrieben, die sich an Endverbraucher richtet und in deutscher Sprache abrufbar ist. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts sind einige dieser Felgen mit den Leichtmetallfelgen von Porsche identisch. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass laut Acacia die Felgen, die sie für Porsche-Fahrzeuge herstellt, nur für Fahrzeuge dieses Herstellers verwendbar sind. Porsche hat vor jenem Gericht geltend gemacht, dass die in Rede stehenden Felgen auch in Farben und Größen angeboten würden, die nicht den Originalprodukten entsprächen.

18      Porsche erhob beim Landgericht Stuttgart (Deutschland) eine Klage, mit der sie im Wesentlichen die Feststellung begehrte, dass die Herstellung und der Vertrieb der fraglichen Felgen durch Acacia eine Verletzung ihrer Gemeinschaftsgeschmacksmuster darstellen. Das Landgericht gab der Klage statt.


19      Nachdem die Berufung von Acacia und Herrn D’Amato ohne Erfolg geblieben war, legten sie beim vorlegenden Gericht Revision ein. Dieses Gericht stellt fest, dass der Erfolg der Revision davon abhänge, ob sich Acacia auf die „Reparaturklausel“ in Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 berufen könne. Die Auslegung dieser Vorschrift sei aber mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden.

20      Der Bundesgerichtshof (Deutschland) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist die Anwendung der Schutzschranke im Sinne von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 auf formgebundene, d. h. solche Teile beschränkt, deren Form durch das Erscheinungsbild des Gesamterzeugnisses prinzipiell unveränderlich festgelegt und damit vom Kunden nicht – wie etwa Felgen von Kraftfahrzeugen – frei wählbar ist?

2.      Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Ist die Anwendung der Schutzschranke im Sinne von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 allein auf das Angebot von identisch gestalteten, also auch farblich und in der Größe den Originalerzeugnissen entsprechenden Erzeugnissen beschränkt?

3.      Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Greift die Schutzschranke im Sinne von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 zugunsten des Anbieters eines grundsätzlich das Gemeinschaftsgeschmacksmuster verletzenden Erzeugnisses nur dann ein, wenn dieser Anbieter objektiv sicherstellt, dass sein Erzeugnis ausschließlich zu Reparaturzwecken und nicht auch zu anderen Zwecken, etwa der Aufrüstung oder der Individualisierung des Gesamterzeugnisses, erworben werden kann?

4.      Falls die dritte Frage bejaht wird: Welche Maßnahmen muss der Anbieter eines grundsätzlich das Gemeinschaftsgeschmacksmuster verletzenden Erzeugnisses ergreifen, um objektiv sicherzustellen, dass sein Erzeugnis ausschließlich zu Reparaturzwecken und nicht auch zu anderen Zwecken, etwa der Aufrüstung oder der Individualisierung des Gesamterzeugnisses, erworben werden kann? Reicht es aus,

a)      dass der Anbieter in den Verkaufsprospekt einen Hinweis aufnimmt, dass ein Verkauf ausschließlich zu Reparaturzwecken erfolgt, um das ursprüngliche Erscheinungsbild des Gesamterzeugnisses wiederherzustellen, oder

b)      ist es erforderlich, dass der Anbieter eine Belieferung davon abhängig macht, dass der Abnehmer (Händler und Verbraucher) schriftlich erklärt, das angebotene Erzeugnis nur zu Reparaturzwecken zu verwenden?

21      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. April 2017 sind die Rechtssachen C‑397/16 und C‑435/16 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Anträgen auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

22      Mit Schriftsätzen, die am 24. November und am 1. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen sind, haben Porsche und Audi beantragt, gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen.

23      Zur Stützung ihrer Anträge machen Porsche und Audi im Wesentlichen geltend, dass die Schlussanträge des Generalanwalts insbesondere hinsichtlich der Entstehungsgeschichte der „Reparaturklausel“ in Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 auf haltlosen Behauptungen beruhten, über die nicht kontradiktorisch verhandelt worden sei.

24      Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

25      Keine dieser Voraussetzungen ist hier erfüllt. Das Vorliegen einer neuen Tatsache wird in keiner Weise geltend gemacht. Zudem wurde die Entstehungsgeschichte der „Reparaturklausel“ insbesondere von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen angesprochen und von allen Parteien in der mündlichen Verhandlung erörtert. Daher ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über alle entscheidungserheblichen Informationen verfügt.

26      Im Übrigen ist hinsichtlich der von Porsche und Audi geübten Kritik an den Schlussanträgen des Generalanwalts zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und seine Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Zum anderen hat der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist dabei weder an die Schlussanträge des Generalanwalts noch an ihre Begründung gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Aufgrund dieser Erwägungen sieht der Gerichtshof keine Veranlassung für die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur zweiten Frage in der Rechtssache C397/16 und zur ersten Frage in der Rechtssache C435/16

29      Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑397/16 und der ersten Frage in der Rechtssache C‑435/16, die zusammen und an erster Stelle zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene sogenannte „Reparaturklausel“ den Ausschluss des Schutzes als Gemeinschaftsgeschmacksmuster für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, unter die Voraussetzung stellt, dass das geschützte Geschmacksmuster vom Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses abhängig ist.

30      Audi, Porsche und die deutsche Regierung machen im Wesentlichen geltend, dass die „Reparaturklausel“ in Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nur auf Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses anwendbar sei, von dessen Erscheinungsbild das geschützte Geschmacksmuster abhängig sei, d. h. auf formgebundene Bauelemente, so dass Leichtmetallfelgen für Personenkraftwagen nicht unter diese Vorschrift fallen könnten. Acacia, die italienische und die niederländische Regierung sowie die Kommission vertreten hingegen die Auffassung, dass die Anwendung der „Reparaturklausel“ nicht auf formgebundene Bauelemente – d. h. Bauelemente, deren Form durch das Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses prinzipiell unveränderlich festgelegt und damit vom Kunden nicht frei wählbar ist – beschränkt sei, so dass Leichtmetallfelgen unter diese Vorschrift fallen könnten.

31      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte einer unionsrechtlichen Vorschrift kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 50, vom 1. Juli 2015, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, C‑461/13, EU:C:2015:433, Rn. 30, sowie vom 18. Mai 2017, Hummel Holding, C‑617/15, EU:C:2017:390, Rn. 22).

32      Nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 „besteht für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses im Sinne des Artikels 19 Absatz 1 mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, kein Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster“.

33      Im Gegensatz zum 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 – wonach das Recht an dem durch diese Verordnung eingeführten Muster nicht gewährt werden sollte, wenn dieses Muster bei einem Erzeugnis benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, „von dessen Erscheinungsbild das Muster abhängig ist“, und das mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen – sieht Art. 110 Abs. 1 dieser Verordnung lediglich vor, dass es sich um ein „Bauelement eines komplexen Erzeugnisses“ handeln muss, das „mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen“.

34      Damit folgt aus dem Wortlaut von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, dass die Abhängigkeit des geschützten Geschmacksmusters vom Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses nicht zu den in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen zählt.

35      Diese wörtliche Auslegung wird erstens durch die Entstehungsgeschichte der „Reparaturklausel“ gestützt.

36      Hinsichtlich der gesetzgeberischen Arbeiten, die dem Erlass dieser Klausel vorausgingen, ist nämlich festzustellen, dass sowohl der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 1994, C 29, S. 20) als auch der geänderte Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2001, C 62 E, S. 173) eine Bestimmung enthielten, die jeweils – auch wenn ihr Wortlaut nicht exakt übereinstimmte – ausdrücklich vorsah, dass ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht an einem Muster besteht, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, „von dessen Erscheinungsbild das Muster abhängig ist“, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird.

37      Allerdings ergibt sich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 60 bis 62 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, aus dem Bericht des Vorsitzes an den Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) Nr. 12420/00 vom 19. Oktober 2000 (interinstitutionelles Dossier 1993/0463 [CNS]), dass dem AStV „[m]it Blick auf eine politische Einigung über den Verordnungsvorschlag“ zwei zentrale Fragen unterbreitet wurden, von denen eine gerade die Ersatzteile betraf. Dem Bericht zufolge war die Mehrheit der Delegationen im AStV der Auffassung, dass zum einen der Wortlaut der in Frage stehenden Vorschrift an den von Art. 14 der Richtlinie 98/71 angeglichen werden sollte und zum anderen die Ersatzteile nur insoweit vom Schutz der zukünftigen Verordnung ausgeschlossen werden durften, „als sie mit dem Ziel verwendet werden, die Reparatur eines komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen“.

38      Dies war der Hintergrund, vor dem das im Wortlaut der in Rede stehenden Vorschrift vorgesehene Erfordernis, das sowohl im ursprünglichen als auch im geänderten Vorschlag der Kommission – jeweils angeführt in Rn. 36 des vorliegenden Urteils – enthalten war und darauf abstellte, dass das Erzeugnis, in welches das Geschmacksmuster eingefügt wird oder bei dem es benutzt wird, Teil eines komplexen Erzeugnisses ist, „von dessen Erscheinungsbild das geschützte Muster abhängig ist“, aus der letztlich vom Rat erlassenen Vorschrift gestrichen wurde.

39      Damit ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, dass die fehlende Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift auf Bauelemente, deren Form durch die Form des komplexen Erzeugnisses vorgegeben ist, aus einer Entscheidung resultiert, die im Gesetzgebungsverfahren getroffen wurde.

40      Zwar wurde, wie von Audi, Porsche und der deutschen Regierung hervorgehoben, ein Verweis auf das Erfordernis, dass das geschützte Geschmacksmuster vom Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses abhängig ist, im Wortlaut des 13. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 6/2002 beibehalten. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen erscheint dieser Umstand aber nicht ausschlaggebend. Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts zwar dessen Inhalt präzisieren können, es aber nicht erlauben, von den Regelungen des Rechtsakts abzuweichen (Urteil vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 76 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Intention des Unionsgesetzgebers, die in den Rn. 36 bis 38 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, besteht keine Veranlassung für eine enge Auslegung von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 wie die in Rn. 30 des vorliegenden Urteils genannte, von Audi, Porsche und der deutschen Regierung vertretene, die auf den Ausnahme- oder Übergangscharakter dieser Vorschrift gestützt wäre.

42      Zum einen führt die „Reparaturklausel“ zwar zu einer Einschränkung der Rechte des Inhabers eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters, da ihm, wenn die Voraussetzungen von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vorliegen, das in Art. 19 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene ausschließliche Recht verwehrt wird, Dritten die Benutzung eines solchen Geschmacksmusters ohne seine Zustimmung zu verbieten, was in der Tat dafür sprechen könnte, Art. 110 Abs. 1 eng auszulegen. Gleichwohl kann es dieser Umstand nicht rechtfertigen, die Anwendung dieser Vorschrift an eine Voraussetzung zu knüpfen, die nicht in ihr vorgesehen ist.

43      Zum anderen ist Art. 110 der Verordnung Nr. 6/2002 zwar mit „Übergangsbestimmungen“ überschrieben und sieht darüber hinaus in Abs. 1 vor, dass die „Reparaturklausel“ nur „[b]is zu dem Zeitpunkt, zu dem auf Vorschlag der Kommission Änderungen zu dieser Verordnung in Kraft treten“, anwendbar ist. Dennoch ist festzustellen, dass diese Vorschrift wesensgemäß dazu bestimmt ist, angewandt zu werden, bis sie auf Vorschlag der Kommission geändert oder aufgehoben wird.

44      Zweitens wird die in Rn. 34 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 durch eine Untersuchung des Kontexts, in dem die „Reparaturklausel“ steht, gestärkt, da dieser Kontext dafür spricht, die Bestimmungen der Verordnung Nr. 6/2002 in Kohärenz mit denen der Richtlinie 98/71 auszulegen.

45      Wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, enthielten sowohl der Vorschlag für eine Richtlinie des Parlaments und des Rates über den Rechtsschutz von Mustern (ABl. 1993, C 345, S. 14) als auch der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannte, von der Kommission zeitgleich vorgelegte Verordnungsvorschlag eine „Reparaturklausel“, deren Anwendungsbereich auf Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses, „von dessen Erscheinungsform das geschützte Muster abhängig ist“, beschränkt war. Im Gegensatz zum genannten Richtlinienvorschlag enthält die „Reparaturklausel“, wie sie nun in der Richtlinie 98/71 steht, keine derartige Einschränkung. Die im Rahmen der gesetzgeberischen Arbeiten, die zum Erlass der Verordnung Nr. 6/2002 führten, vorgenommene Änderung des Wortlauts der „Reparaturklausel“ in Art. 110 Abs. 1 dieser Verordnung zielte wiederum, wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils festgestellt, darauf ab, diesen Wortlaut an den von Art. 14 der Richtlinie 98/71 anzugleichen.

46      Ferner besagt der neunte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002, dass die materiell-rechtlichen Bestimmungen dieser Verordnung den entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 98/71 angepasst werden sollten.

47      Schließlich ergibt sich aus Art. 110 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002, dass jeglicher Vorschlag der Kommission, die „Reparaturklausel“ in Abs. 1 dieses Artikels zu ändern, gleichzeitig mit den Änderungen an der „Reparaturklausel“ in Art. 14 der Richtlinie 98/71, die gemäß Art. 18 dieser Richtlinie vorgeschlagen werden, vorzulegen ist und dass die Kommission nach Art. 110 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 auch diesen Änderungen Rechnung tragen muss.

48      Art. 14 der Richtlinie 98/71 enthält aber keine Anforderung, dass das geschützte Geschmacksmuster vom Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses abhängig sein muss, was dafür spricht, die „Reparaturklausel“ dahin auszulegen, dass sie die Abhängigkeit des geschützten Geschmacksmusters vom Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses nicht voraussetzt.

49      Drittens wird die in Rn. 34 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht durch den Zweck der „Reparaturklausel“ in Frage gestellt, der in den Erläuterungen des in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Verordnungsvorschlags angegeben wurde.

50      Nach diesen Erläuterungen kann der durch Gemeinschaftsgeschmacksmuster verliehene Schutz unerwünschte Nebenwirkungen haben, wie einen Ausschluss vom Markt oder eine Wettbewerbsbeschränkung am Markt, und zwar insbesondere für kostspielige, komplexe Erzeugnisse mit langer Lebensdauer wie Kraftfahrzeuge, bei denen der Musterschutz für Muster der Einzelteile, aus denen sich das komplexe Erzeugnis zusammensetzt, zu einem monopolistischen Markt für Ersatzteile führen könnte. In diesem Zusammenhang hat die „Reparaturklausel“ den Zweck, das Entstehen monopolistischer Märkte für bestimmte Ersatzteile zu verhindern und insbesondere auszuschließen, dass ein Verbraucher, der ein langlebiges, möglicherweise kostspieliges Erzeugnis erworben hat, für den Kauf von Außenteilen auf unbestimmte Zeit an den Hersteller des komplexen Erzeugnisses gebunden ist.

51      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 44 und 45 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist gerade das Ziel, die Entstehung monopolistischer Ersatzteilmärkte zu verhindern, der Grund dafür, dass die „Reparaturklausel“ in Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vorsieht, dass für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, kein Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster besteht.

52      Dass die „Reparaturklausel“ den Zweck hat, den Ersatzteilmarkt in gewissem Ausmaß zu liberalisieren, wird im Übrigen durch den 19. Erwägungsgrund und durch Art. 14 der Richtlinie 98/71 bestätigt, wonach nationale Rechtsvorschriften über die Benutzung des Musters eines Bauelements zur Reparatur eines komplexen Erzeugnisses im Hinblick auf die Wiederherstellung dessen ursprünglicher Erscheinungsform nur dann geändert werden dürfen, wenn dadurch die Liberalisierung des Handels mit solchen Bauelementen ermöglicht wird.

53      Aus all diesen Erwägungen folgt, dass der Anwendungsbereich von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht auf Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses, von dessen Erscheinungsbild das geschützte Geschmacksmuster abhängig ist, beschränkt ist.

54      Nach alledem ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑397/16 und die erste Frage in der Rechtssache C‑435/16 zu antworten, dass Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene sogenannte „Reparaturklausel“ den Ausschluss des Schutzes als Gemeinschaftsgeschmacksmuster für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, nicht unter die Voraussetzung stellt, dass das geschützte Geschmacksmuster vom Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses abhängig ist.

 Zur ersten Frage in der Rechtssache C397/16 und zur zweiten Frage in der Rechtssache C435/16

55      Mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑397/16 und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑435/16, die zusammen und an zweiter Stelle zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, unter welche Voraussetzungen die in Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 enthaltene „Reparaturklausel“ den Ausschluss des Schutzes als Gemeinschaftsgeschmacksmuster für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, stellt.

56      Bezüglich der ersten Frage in der Rechtssache C‑397/16 machen Audi und die deutsche Regierung im Wesentlichen geltend, dass eine nachgebaute, im Aussehen mit einer Originalfelge der Erstausstattung identische Felge kein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses sei, das dazu bestimmt sei, dessen Reparatur zu ermöglichen und ihm wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, so dass eine solche Felge von der „Reparaturklausel“ nicht erfasst werde. Acacia, die italienische und die niederländische Regierung sowie die Kommission sind hingegen der Auffassung, dass die nachgebaute, im Aussehen mit der Originalfelge der Erstausstattung identische Felge ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses sei, dass dazu bestimmt sei, dessen Reparatur zu ermöglichen und ihm wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen.

57      Bezüglich der zweiten Frage in der Rechtssache C‑435/16 machen Porsche, die italienische und die niederländische Regierung sowie die Kommission im Wesentlichen geltend, dass eine nachgebaute Autofelge nur dann unter die „Reparaturklausel“ falle, wenn ihr Erscheinungsbild mit dem der Originalfelge identisch sei. Acacia vertritt hingegen die Auffassung, dass die „Reparaturklausel“ auf alle „gängigen Varianten“ der Originalfelgen anwendbar sei.

58      Nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 „besteht für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses im Sinne des Artikels 19 Absatz 1 mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, kein Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster.“


59      Somit ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift, dass die Anwendung der „Reparaturklausel“ unter mehreren Voraussetzungen steht, nämlich zunächst die Existenz eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters, ferner das Vorhandensein eines „Bauelement[s] eines komplexen Erzeugnisses“ und schließlich eine Verwendung „im Sinne des Artikels 19 Absatz 1 mit dem Ziel …, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen“.

60      Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 jeglichen Schutz „als Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ ausschließt, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind. Daraus folgt, wie der Generalanwalt in den Nrn. 90 und 91 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, dass diese Vorschrift nur auf solche Bauelemente anwendbar ist, die dem Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster unterliegen und im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung deren Schutzvoraussetzungen, insbesondere den in Art. 4 genannten, entsprechen.

61      Insoweit folgt aus Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002, dass der Schutz eines Geschmacksmusters, das in einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann gewährleistet ist, wenn zum einen das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und zum anderen diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die in Abs. 1 dieses Artikels vorgesehenen Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen.

62      Vorliegend steht fest, dass dies bei den Gemeinschaftsgeschmacksmustern für Autofelgen, deren Inhaberinnen Audi und Porsche sind, der Fall ist.

63      Als Zweites ist Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 allein auf „Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses“ anwendbar.

64      Die Verordnung Nr. 6/2002 definiert den Begriff „Bauelement eines komplexen Erzeugnisses“ nicht. Jedoch bezeichnet nach Art. 3 Buchst. b und c dieser Verordnung zum einen der Begriff „Erzeugnis“ jeden industriellen oder handwerklichen Gegenstand, einschließlich – u. a. – der Einzelteile, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, und zum anderen der Begriff „komplexes Erzeugnis“ ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann. Im Übrigen ist der Begriff „Bauelement“ mangels Definition in dieser Verordnung entsprechend dem Sinn, den er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch hat, zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2006, Massachusetts Institute of Technology, C‑431/04, EU:C:2006:291, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).


65      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 mit dem Ausdruck „Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses“ die verschiedenen Einzelteile bezeichnet, die zu einem komplexen industriellen oder handwerklichen Gegenstand zusammengebaut werden sollen und sich ersetzen lassen, so dass ein solcher Gegenstand auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann, und deren Fehlen dazu führen würde, dass das komplexe Erzeugnis nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann.

66      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine Autofelge als „Bauelement eines komplexen Erzeugnisses“ im Sinne dieser Vorschrift einzustufen ist, da sie ein Bestandteil des komplexen Erzeugnisses ist, das ein Auto darstellt, und ihr Fehlen dazu führen würde, dass dieses Erzeugnis nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann.

67      Als Drittes verlangt Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 für die Anwendung der „Reparaturklausel“, dass das Bauelement des komplexen Erzeugnisses „im Sinne des Artikels 19 Absatz 1 mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen“.

68      Insoweit geht zum einen aus Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 hervor, dass die „Benutzung“ des Bauelements im Sinne dieser Vorschrift die Herstellung, das Anbieten, das Inverkehrbringen, die Einfuhr, die Ausfuhr oder die Benutzung eines Erzeugnisses, in das das Muster aufgenommen oder bei dem es verwendet wird, oder den Besitz des Erzeugnisses zu den genannten Zwecken einschließt. Wie der Wortlaut dieser Vorschrift erkennen lässt, ist der genannte Begriff weit gefasst und schließt jede Verwendung eines Bauelements zu Reparaturzwecken ein.

69      Zum anderen muss das Bauelement mit dem Ziel verwendet werden, „die Reparatur [des] komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen“. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 89 und 100 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, bedeutet das Erfordernis, dass die Verwendung des Bauelements die „Reparatur“ des komplexen Erzeugnisses ermöglichen muss, dass das Bauelement für eine bestimmungsgemäße Verwendung des komplexen Erzeugnisses erforderlich sein muss oder, anders gesagt, dass der schadhafte Zustand oder das Fehlen des Bauelements geeignet sein muss, diese bestimmungsgemäße Verwendung auszuschließen. Die Möglichkeit, sich auf die „Reparaturklausel“ zu berufen, setzt also voraus, dass die Verwendung des Bauelements notwendig ist, um das komplexe Erzeugnis zu reparieren, das etwa aufgrund des Abhandenkommens des Originalteils oder einer Beschädigung desselben schadhaft geworden ist.

70      Nicht von der „Reparaturklausel“ erfasst ist somit jede Verwendung eines Bauelements allein aus Gründen des Geschmacks oder der Neigung, wie z. B. der Austausch eines Bauelements aus ästhetischen Gründen oder zum Zweck der Individualisierung des komplexen Erzeugnisses.

71      Als Viertes verlangt Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 für die Anwendung der „Reparaturklausel“, dass die Reparatur des komplexen Erzeugnisses vorgenommen wird, „um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen“.

72      Mit Blick auf Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 6/2002 ist davon auszugehen, dass sich die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt.

73      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 103 und 104 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, haben Bauelemente im Sinne von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 am Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses teil. Von dieser Vorschrift werden nämlich, wie in Rn. 60 des vorliegenden Urteils dargelegt, nur solche Bauelemente erfasst, die als Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt sind und somit gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung nach Einfügung in das komplexe Erzeugnis bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleiben. Ein sichtbares Bauelement hat aber zwangsläufig am Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses teil.

74      Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Reparatur erfolgt, um dem komplexen Erzeugnis wieder sein „ursprüngliches“ Erscheinungsbild zu verleihen. Demnach findet die „Reparaturklausel“ nur dann Anwendung, wenn das Bauelement mit dem Ziel verwendet wird, dem komplexen Erzeugnis wieder das Erscheinungsbild zu verleihen, das es hatte, als es in Verkehr gebracht wurde.

75      Daraus ist zu folgern, dass die „Reparaturklausel“ nur auf solche Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses anwendbar ist, die mit den Originalelementen optisch identisch sind.

76      Eine solche Auslegung steht im Übrigen im Einklang mit Art. 26 Abs. 2 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, wonach jede Ausnahme vom Schutz gewerblicher Muster und Modelle begrenzt sein muss und weder unangemessen im Widerspruch zur normalen Verwertung solcher Muster oder Modelle stehen noch die berechtigten Interessen des Inhabers unangemessen beeinträchtigen darf, wobei auch die berechtigten Interessen Dritter zu berücksichtigen sind. Dies ist hier der Fall, da die Anwendung der „Reparaturklausel“ auf die Verwendung eines Geschmacksmusters beschränkt ist, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem alleinigen Ziel verwendet wird, die effektive Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen.

77      Ausgeschlossen ist folglich jede Verwendung eines Bauelements, die nicht das Ziel hat, dem komplexen Erzeugnis wieder das Erscheinungsbild zu verleihen, das es bei seinem Inverkehrbringen hatte. Dies ist namentlich der Fall, wenn das Ersatzteil farblich und in der Größe nicht dem Originalteil entspricht oder wenn das Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses seit dessen Inverkehrbringen geändert wurde.

78      Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑397/16 und die zweite Frage in der Rechtssache C‑435/16 zu antworten, dass Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene „Reparaturklausel“ den Ausschluss des Schutzes als Gemeinschaftsgeschmacksmuster für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, unter die Voraussetzung stellt, dass das Erscheinungsbild des Ersatzteils mit demjenigen optisch identisch ist, das das ursprünglich in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement bei seinem Inverkehrbringen hatte.

 Zur dritten Frage in der Rechtssache C397/16 sowie zur dritten und zur vierten Frage in der Rechtssache C435/16

79      Mit der dritten Frage in der Rechtssache C‑397/16 sowie der dritten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑435/16, die zusammen und an dritter Stelle zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass der Hersteller oder Anbieter eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses, um sich auf die in dieser Vorschrift enthaltene „Reparaturklausel“ berufen zu können, sicherstellen muss, dass dieses Bauelement ausschließlich zu Reparaturzwecken erworben werden kann, und wenn ja, in welcher Weise er dies zu tun hat.

80      Audi vertritt insoweit die Auffassung, dass die Anwendung der „Reparaturklausel“ mit dem Direktverkauf nachgebauter Teile an Endverbraucher unvereinbar sei, so dass sich die Hersteller nachgebauter Teile darauf beschränken müssten, ihre Erzeugnisse an Reparaturwerkstätten zu liefern. Porsche macht geltend, der Hersteller nachgebauter Teile müsse objektiv sicherstellen, dass sein Erzeugnis ausschließlich zu Reparaturzwecken und nicht auch zu anderen Zwecken, etwa der Individualisierung des komplexen Erzeugnisses, erworben werden kann. Die italienische Regierung und die Kommission sind im Wesentlichen der Ansicht, dass der Hersteller nachgebauter Teile verpflichtet sei, allgemeine Kontrollmaßnahmen zu ergreifen, um die rechtmäßige Verwendung dieser Teile zu gewährleisten. Acacia wiederum ist der Meinung, dass eine schriftliche Vorabinformation an die Kundschaft mit dem Hinweis, dass das Teil dazu bestimmt sei, die Reparatur eines komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, eine Maßnahme darstelle, die mit dem Erfordernis des gerechten Ausgleichs der widerstreitenden Interessen im Einklang stehe.

81      Nach dem Wortlaut von Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 besteht für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, kein Schutz als Gemeinschaftsgeschmacksmuster. Die fragliche „Benutzung“ umfasst, wie in Rn. 68 des vorliegenden Urteils dargelegt, insbesondere die Herstellung, das Anbieten, das Inverkehrbringen, die Einfuhr, die Ausfuhr oder die Benutzung eines Erzeugnisses, in das das Muster aufgenommen oder bei dem es verwendet wird, oder den Besitz des Erzeugnisses zu den genannten Zwecken.

82      Zu klären ist also, ob in dem in den Ausgangsverfahren vorliegenden Fall, dass eine solche Benutzung in der Herstellung und dem Verkauf eines solchen Erzeugnisses besteht, Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dem Hersteller und dem Anbieter dieses Erzeugnisses, die es herzustellen und zu verkaufen beabsichtigen, damit es im Einklang mit den in dieser Vorschrift geregelten Voraussetzungen effektiv genutzt werden kann, bestimmte Verpflichtungen auferlegt, was die Einhaltung dieser Voraussetzungen durch nachgelagerte Benutzer betrifft.

83      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die durch die „Reparaturklausel“ eingeführte Ausnahme vom Geschmacksmusterschutz voraussetzt, dass der Endbenutzer des betreffenden Bauelements dieses im Einklang mit den Voraussetzungen nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 verwendet, d. h., dass er dieses Bauelement für die Reparatur des betreffenden komplexen Erzeugnisses verwendet, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen.

84      Ebenso ist hervorzuheben, dass diese Vorschrift aus den in Rn. 51 des vorliegenden Urteils dargelegten spezifischen Gründen eine Ausnahme in die Regelung des Geschmacksmusterschutzes einführt und das Bedürfnis, die Wirksamkeit dieser Schutzregelung zu erhalten, von denen, die sich auf diese Ausnahme berufen, verlangt, dass sie im Rahmen des Möglichen dazu beitragen, die strikte Beachtung der Voraussetzungen nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 insbesondere durch den Endbenutzer zu gewährleisten.

85      In diesem Zusammenhang kann vom Hersteller oder Anbieter eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses zwar nicht erwartet werden, dass er objektiv und unter allen Umständen sicherstellt, dass die Bauelemente, die er zum Zweck einer den Voraussetzungen nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 entsprechenden Verwendung herstellt oder verkauft, letztlich von den Endbenutzern tatsächlich unter Beachtung dieser Voraussetzungen verwendet werden, doch um von der mit dieser Vorschrift eingeführten Ausnahmeregelung profitieren zu können, unterliegt ein solcher Hersteller oder Anbieter, wie der Generalanwalt in den Nrn. 131, 132 und 135 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, einer Sorgfaltspflicht, die sich auf die Einhaltung dieser Voraussetzungen durch die nachgelagerten Benutzer bezieht.

86      Im Einzelnen obliegt es ihm zunächst, den nachgelagerten Benutzer mit einem klaren, gut sichtbaren Hinweis auf dem Erzeugnis, auf dessen Verpackung, in den Katalogen oder in den Verkaufsunterlagen zum einen darüber zu informieren, dass in das betreffende Bauelement ein Geschmacksmuster aufgenommen ist, dessen Inhaber er nicht ist, und zum anderen darüber, dass dieses Bauelement ausschließlich dazu bestimmt ist, mit dem Ziel verwendet zu werden, die Reparatur des komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen.

87      Ferner hat er mit geeigneten Mitteln, insbesondere vertraglicher Art, dafür zu sorgen, dass die nachgelagerten Benutzer die fraglichen Bauelemente nicht für eine Verwendung vorsehen, die mit den Voraussetzungen nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 unvereinbar wäre.

88      Schließlich muss der Hersteller oder Anbieter den Verkauf eines solchen Bauelements unterlassen, wenn er weiß oder bei Würdigung aller maßgeblichen Umstände vernünftigerweise annehmen muss, dass das Bauelement nicht gemäß den Voraussetzungen nach Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 verwendet werden wird.

89      Nach alledem ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑397/16 sowie auf die dritte und die vierte Frage in der Rechtssache C‑435/16 zu antworten, dass Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass der Hersteller oder Anbieter eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses, um sich auf die in dieser Vorschrift enthaltene „Reparaturklausel“ berufen zu können, einer Sorgfaltspflicht unterliegt, die sich auf die Einhaltung der in dieser Vorschrift geregelten Voraussetzungen durch die nachgelagerten Benutzer bezieht.

 Kosten

90      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 110 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene sogenannte „Reparaturklausel“ den Ausschluss des Schutzes als Gemeinschaftsgeschmacksmuster für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, nicht unter die Voraussetzung stellt, dass das geschützte Geschmacksmuster vom Erscheinungsbild des komplexen Erzeugnisses abhängig ist.

2.      Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene „Reparaturklausel“ den Ausschluss des Schutzes als Gemeinschaftsgeschmacksmuster für ein Muster, das als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses mit dem Ziel verwendet wird, die Reparatur dieses komplexen Erzeugnisses zu ermöglichen, um diesem wieder sein ursprüngliches Erscheinungsbild zu verleihen, unter die Voraussetzung stellt, dass das Erscheinungsbild des Ersatzteils mit demjenigen optisch identisch ist, das das ursprünglich in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement bei seinem Inverkehrbringen hatte.

3.      Art. 110 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ist dahin auszulegen, dass der Hersteller oder Anbieter eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses, um sich auf die in dieser Vorschrift enthaltene „Reparaturklausel“ berufen zu können, einer Sorgfaltspflicht unterliegt, die sich auf die Einhaltung der in dieser Vorschrift geregelten Voraussetzungen durch die nachgelagerten Benutzer bezieht.



Ilešič

Rosas

Toader

Prechal

 

      Jarašiūnas

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Dezember 2017.

Der Kanzler

 

      Der Präsident der Zweiten Kammer

A. Calot Escobar

 

      M. Ilešič


*      Verfahrenssprachen: Deutsch und Italienisch.