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Rechtssache T747/20

EOC Belgium

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Siebte erweiterte Kammer) vom 21. Dezember 2022

„Dumping – Einfuhren bestimmter Polyvinylalkohole mit Ursprung in China – Endgültige Antidumpingzölle – Befreiung von Einfuhren mit einem bestimmten Verwendungszweck – Nichtigkeitsklage – Abtrennbarkeit – Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht – Unmittelbare Betroffenheit – Anfechtbare Handlung – Zulässigkeit – Art. 9 Abs. 5 Unterabs. 1 der Verordnung (EU) 2016/1036 – Ohne Diskriminierung eingeführter Zoll – Gleichbehandlung“

1.      Nichtigkeitsklage – Gegenstand – Teilnichtigerklärung – Voraussetzung – Abtrennbarkeit der angefochtenen Vorschriften – Vorschrift einer Verordnung der Kommission, mit der gewisse Einfuhren mit einem bestimmten Verwendungszweck von Antidumpingzöllen befreit werden – Nichtigerklärung, die keine Änderung des Wesensgehalts der Verordnung zur Folge hat – Voraussetzung erfüllt – Zulässigkeit

(Art. 263 AEUV; Verordnung 2020/1336 der Kommission, Art. 1 Abs. 4)

(Rn. 14‑41)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Begriff des Rechtsakts mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV – Jeder Rechtsakt mit allgemeiner Geltung mit Ausnahme der Gesetzgebungsakte – Verordnung zur Einführung von Antidumpingzöllen – Einbeziehung

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(Rn. 49‑55)

3.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsakte mit Verordnungscharakter – Rechtsakte, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen – Auf eine Befreiung von Antidumpingzöllen beschränkter Streitgegenstand – Verwender der betreffenden Ware, dem die Befreiung nicht zugutekommt – Fehlen von Durchführungsmaßnahmen – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung 2020/1336 der Kommission, Art. 1 Abs. 4)

(Rn. 56‑69)

4.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsakte mit Verordnungscharakter – Rechtsakte, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen und den Kläger unmittelbar betreffen – Begriff der unmittelbaren Betroffenheit – Kriterien – Kein Ermessen der Adressaten, die mit der Durchführung der angefochtenen Maßnahme betraut sind – Keine Relevanz bei Fehlen von Durchführungsmaßnahmen – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung 2020/1336 der Kommission, Art. 1 Abs. 4)

(Rn. 72)

5.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsakte mit Verordnungscharakter – Rechtsakte, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen und den Kläger unmittelbar betreffen – Begriff der unmittelbaren Betroffenheit – Kriterien – Rechtsakt, der sich unmittelbar auf die Rechtsstellung des Klägers auswirkt – Verordnung der Kommission, mit der gewisse Einfuhren mit bestimmtem Verwendungszweck von Antidumpingzöllen befreit werden – Klage von Einführern, die mit den Begünstigten der Befreiung im Wettbewerb stehen – Einführer, die eine unmittelbare Berührung ihres Rechts, keinem verfälschten Wettbewerb ausgesetzt zu sein, nachweisen – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung 2020/1336 der Kommission, Art. 1 Abs. 4)

(Rn. 79‑126)

6.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Handlungen, die Rechtswirkungen entfalten sollen – Begriff

(Art. 263 AEUV)

(Rn. 131‑140)

7.      Recht der Europäischen Union – Auslegung – Methoden – Auslegung in Ansehung der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge – Auslegung der Verordnung 2016/1036 in Ansehung des GATTAntidumping-Übereinkommens von 1994 – Berücksichtigung der Auslegung durch das Streitbeilegungsgremium

(Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens [Antidumping-Übereinkommen von 1994]; Verordnung 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 9 Abs. 5)

(Rn. 162‑178)

8.      Gemeinsame Handelspolitik – Schutz gegen Dumpingpraktiken – Einführung von Antidumpingzöllen – Pflicht, Antidumpingzölle ohne Diskriminierung einzuführen – Keine Geltung für Verwender der betreffenden Ware, die im Gebiet des WTO-Mitglieds ansässig sind, das die Antidumpingzölle einführt

(Verordnung 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 9 Abs. 5)

(Rn. 179‑191)

9.      Gemeinsame Handelspolitik – Schutz gegen Dumpingpraktiken – Einführung von Antidumpingzöllen – Pflicht, Antidumpingzölle ohne Diskriminierung einzuführen – Verordnung der Kommission, mit der gewisse Einfuhren mit bestimmtem Verwendungszweck von Antidumpingzöllen befreit werden – Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz – Fehlen

(Verordnung 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 9 Abs. 5)

(Rn. 195‑217)


Zusammenfassung

Das Gericht weist die Klage auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung über Antidumpingzölle auf die Einfuhren bestimmter PVA mit Ursprung in der Volksrepublik China ab.

Das Vorbringen, dass die Befreiung zugunsten der Einfuhren von speziell zur Herstellung von Klebstoff-Trockenmischungen bestimmtem PVA diskriminierend sei, wird zurückgewiesen.

Mit der Durchführungsverordnung 2020/1336(1) führte die Europäische Kommission einen endgültigen Antidumpingzoll auf die Einfuhren bestimmter Polyvinylalkohole (im Folgenden: PVA) mit Ursprung in der Volksrepublik China ein. Die Verordnung sieht außerdem vor, dass die Einfuhren von zur Herstellung von Klebstoff-Trockenmischungen bestimmtem PVA von der Einführung dieses Antidumpingzolls befreit sind (im Folgenden: fragliche Befreiung)(2).

Die Grünig KG und EOC Belgium, zwei Gesellschaften, die PVA zur Herstellung von Flüssigklebstoff verwenden, haben jeweils Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Verordnung erhoben, soweit diese die fragliche Befreiung betrifft.

Die Kommission hat der Klage jeweils mehrere Unzulässigkeitseinreden entgegengehalten.

Diese Unzulässigkeitseinreden werden vom Gericht zurückgewiesen. Bei dieser Gelegenheit präzisiert das Gericht den Begriff der „abtrennbaren Handlung“ in einem Kontext, in dem nicht etwa die Einführung von Antidumpingzöllen, sondern eine Befreiung davon angefochten wird. Das Gericht bejaht außerdem die unmittelbare Betroffenheit der Klägerinnen, wobei es das Urteil Montessori(3) auf eine Fallgestaltung überträgt, in der es nicht um einen Wettbewerber der Begünstigten einer staatlichen Beihilferegelung, sondern um Verwender der betreffenden Ware geht, denen eine Befreiung von Antidumpingzöllen im Gegensatz zu anderen Verwendern dieser Ware nicht zugutekommt. Schließlich präzisiert das Gericht den Anwendungsbereich des Begriffs „anfechtbare Handlung“ im Sinne des Urteils vom 11. November 1981, IBM/Kommission(4).

Würdigung durch das Gericht

Was erstens die Abtrennbarkeit der die fragliche Befreiung regelnden Vorschrift betrifft, weist das Gericht darauf hin, dass für die Prüfung der Abtrennbarkeit von Teilen eines Unionsrechtsakts erforderlich ist, die Bedeutung der betreffenden Bestimmungen zu prüfen, um objektiv beurteilen zu können, ob ihre Nichtigerklärung den Sinn und den Wesensgehalt dieses Rechtsakts verändern würde. Da die fragliche Befreiung eine Ausnahme von einer Regel vorsieht, mit der Antidumpingzölle eingeführt werden, lässt sie sich grundsätzlich von der Verordnung, die diese Regel festlegt, trennen.

Allerdings hat der Gerichtshof im Urteil vom 9. November 2017, SolarWorld/Rat(5), Indizien angeführt, anhand deren sich bestimmen lässt, in welchen Fällen eine Befreiung von Antidumpingzöllen nicht von der Verordnung abtrennbar sein kann, mit der die fragliche Regel festgelegt wird. Bei diesen Indizien handelt es sich erstens um die Identität der Ziele der beiden Maßnahmen, mit denen Antidumpingzölle eingeführt wurden bzw. eine Befreiung davon vorgesehen wurde, zweitens um die Komplementarität dieser beiden Maßnahmen und drittens um den fehlenden Ausnahmecharakter der vorgesehenen Befreiung. Das Gericht stellt jedoch fest, dass kein einziges dieser Indizien im vorliegenden Fall gegeben ist und dass auch es kein sonstiges Indiz gibt, das den Schluss zuließe, dass die fragliche Befreiung keine Ausnahme von der Regel der Einführung von Antidumpingzöllen darstellt.

Zweitens stellt das Gericht in Bezug auf die Klagebefugnis der Klägerinnen fest, dass die streitige Verordnung nicht an sie gerichtet ist. In diesem Zusammenhang weist das Gericht darauf hin, dass nach Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV jede natürliche oder juristische Person gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung Klage erheben kann, wenn sich die Klage gegen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter richtet, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht und diese Person unmittelbar betrifft.

Insoweit stellt das Gericht fest, dass die streitige Verordnung ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter ist, der gegenüber den Klägerinnen keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht. Es stellt klar, dass, falls ein Kläger lediglich die teilweise Nichtigerklärung eines Rechtsakts begehrt, gegebenenfalls nur diejenigen Durchführungsmaßnahmen zu berücksichtigen sind, die dieser Teil des Rechtsakts möglicherweise nach sich zieht. Selbst wenn man davon ausginge, dass die fragliche Befreiung den Erlass von Durchführungsmaßnahmen durch die nationalen Behörden erfordert, könnten diese Maßnahmen aber nicht für die Klägerinnen gelten, da sie die fragliche Befreiung nicht in Anspruch nehmen können.

Die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit verlangt ihrerseits, dass zwei Kriterien erfüllt sind, nämlich dass sich die fragliche Handlung unmittelbar auf die Rechtsstellung der betreffenden Person auswirkt und dass sie den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt. Da das zweite Kriterium nicht relevant ist, wenn es um eine Maßnahme geht, die im Hinblick auf den Kläger keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, konzentriert das Gericht seine Prüfung auf das erste Kriterium.

In diesem Zusammenhang stellt das Gericht fest, dass sich die Klägerinnen in einer Situation befinden, die mit derjenigen der Kläger im Urteil Montessori vergleichbar ist. In jenem Urteil hat der Gerichtshof klargestellt, dass die beihilferechtlichen Regeln dem Ziel dienen, den Wettbewerb zu schützen, und dass die einschlägigen Vorschriften des AEU‑Vertrags einem Wettbewerber eines Unternehmens, das von einer nationalen Maßnahme profitiert, das Recht verleihen, keinem durch eine solche Maßnahme verfälschten Wettbewerb ausgesetzt zu sein. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass bei einem im Bereich der staatlichen Beihilfen erlassenen Beschluss der Kommission, der einen Wirtschaftsteilnehmer in eine nachteilige Wettbewerbssituation versetzen kann, davon ausgegangen werden kann, dass er die Rechtsstellung dieses Wirtschaftsteilnehmers unmittelbar berührt. Im vorliegenden Fall ist das Gericht in gleicher Weise der Auffassung, dass das Interesse bestimmter Verwender der betreffenden Ware daran, dass ihre Wettbewerbssituation vor den Auswirkungen einer möglicherweise durch eine Maßnahme, die die Kommission in Anwendung der Antidumping-Grundverordnung(6) erlassen hat, verursachten Verzerrung geschützt wird, zum Unionsinteresse im Sinne von Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung gehört, da diese Verordnung nicht nur bezweckt, die Wettbewerbssituation der Hersteller des Wirtschaftszweigs der Union wiederherzustellen, sondern auch das Ziel verfolgt, einen fairen Wettbewerb im Binnenmarkt zu wahren. Folglich haben die Verwender der betreffenden Ware – wie hier die Klägerinnen – ein Recht darauf, keinem verfälschten Wettbewerb ausgesetzt zu werden, der durch einen von der Kommission in Anwendung der Antidumping-Grundverordnung erlassenen Rechtsakt verursacht wird. Angesichts des Bestehens dieses Rechts wirkt sich die fragliche Befreiung, die geeignet ist, dieses Recht zu verletzen, auf die Rechtsstellung der Klägerinnen aus und betrifft sie somit unmittelbar.

Drittens befindet das Gericht hinsichtlich der Frage, ob die Vorschrift über die fragliche Befreiung als anfechtbare Handlung eingestuft werden kann, dass das im Urteil IBM aufgestellte Erfordernis, dass die verbindlichen Rechtswirkungen der angefochtenen Maßnahme die Interessen des Klägers durch eine qualifizierte Änderung seiner Rechtsstellung beeinträchtigen, nicht für natürliche oder juristische Personen gilt, an die die angefochtene Handlung nicht gerichtet ist und die bereits die in Art. 263 Abs. 4 dritte Variante AEUV vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen.

In der Sache weist das Gericht den Klagegrund zurück, mit dem geltend gemacht wurde, es liege ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 5 der Antidumping‑Grundverordnung vor, weil die fragliche Befreiung gegenüber den Verwendern von PVA in der Union diskriminierend wirke. Nach dieser Vorschrift sind Antidumpingzölle jeweils in der angemessenen Höhe ohne Diskriminierung auf alle Einfuhren der Ware gleich welcher Herkunft festzusetzen, sofern festgestellt wurde, dass sie gedumpt sind und eine Schädigung verursachen. Insoweit stellt das Gericht – unter Berücksichtigung der Auslegung der entsprechenden Bestimmung des Antidumping-Übereinkommens(7), nämlich seines Art. 9.2 Satz 1, durch die am Streitbeilegungsverfahren beteiligten Gremien der WTO – fest, dass Art. 9 Abs. 5 der Antidumping‑Grundverordnung nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die Diskriminierung, auf die er sich bezieht, eine Ungleichbehandlung bezeichnet, die für Verwender der betreffenden Ware gilt, die im Gebiet des WTO-Mitglieds ansässig sind, das die Antidumpingzölle einführt.

Ferner stellt das Gericht fest, dass aus den Akten nicht hervorgeht, dass die fragliche Befreiung eine faktische Diskriminierung im Verhältnis zwischen den chinesischen Ausführern von PVA begründet.

Aufgrund dieser Erwägungen weist das Gericht die Klage in vollem Umfang ab.


1      Durchführungsverordnung (EU) 2020/1336 der Kommission vom 25. September 2020 zur Einführung endgültiger Antidumpingzölle auf die Einfuhren bestimmter Polyvinylalkohole mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. 2020, L 315, S. 1, im Folgenden: streitige Verordnung).


2      Art. 1 Abs. 4 der streitigen Verordnung.


3      Urteil vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci (C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873).


4      Urteil vom 11. November 1981, IBM/Kommission (60/81, EU:C:1981:264).


5      Urteil vom 9. November 2017, SolarWorld/Rat (C‑204/16 P, EU:C:2017:838).


6      Verordnung (EU) 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2016 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern (ABl. 2016, L 176, S. 21, im Folgenden: Antidumping-Grundverordnung), Art. 21 Abs. 1.


7      Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 (ABl. 1994, L 336, S. 103).