Language of document : ECLI:EU:T:2005:584

Rechtssache T‑146/04

Koldo Gorostiaga Atxalandabaso

gegen

Europäisches Parlament

„Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Kontrolle der Verwendung der Vergütungen – Ausgabenbelege – Einziehung einer Forderung im Wege der Aufrechnung“

Leitsätze des Urteils

1.      Parlament – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Einziehung zu Unrecht gezahlter Beträge – Anwendung des Verfahrens gemäß Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 27 Absätze 3 und 4 dieser Regelung als lex specialis gegenüber der Regelung gemäß Artikel 27 Absatz 2

2.      Parlament – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Entscheidung des Generalsekretärs über die Einziehung zu Unrecht gezahlter Beträge – Unzuständigkeit des Generalsekretärs für die Anordnung der Einziehung im Wege der Aufrechnung mit den dem Mitglied geschuldeten Vergütungen, wenn er vom Präsidium nicht hierzu gemäß dem einschlägigen Verfahren ermächtigt worden ist

3.      Nichtigkeitsklage – Befugnisse des Gemeinschaftsrichters – Antrag, eine Rechtssache wieder in das Stadium vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung zurückzuversetzen, um das Verfahren an der Stelle wieder aufzunehmen, an der der betreffende Rechtsverstoß begangen wurde – Unzulässigkeit

(Artikel 230 EG und 233 EG)

4.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Schriftstücke, zu denen der Betroffene nicht Stellung genommen hat – Ausschluss als Beweismittel – Grenzen

5.      Handlungen der Organe – Keine allgemeine Verpflichtung, die Adressaten über Rechtsbehelfe und Fristen zu belehren – Leitfaden für die Pflichten der Beamten und Bediensteten des Europäischen Parlaments – Vorschrift, die eine Rechtsbehelfsbelehrung in den Rechtsakten vorsieht – Verstoß – Keine Verletzung wesentlicher Formvorschriften

6.      Handlungen der Organe – Begründungspflicht – Umfang – Entscheidung des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments über die Einziehung von Zahlungen, die an einen Abgeordneten als Abgeordnetenvergütung gezahlt worden sind – Bezugnahme auf einen dem Betroffenen übermittelten Prüfungsbericht – Bezugnahme auf die von diesem vorgelegten Belege sowie auf eine Teilrückzahlung – Zulässigkeit

(Artikel 253 EG)

7.      Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Grenzen – Rechtswidrig gewährte Vergünstigung

8.      Nichtigkeitsklage – Gründe – Ermessensmissbrauch – Begriff

9.      Parlament – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Zulage für parlamentarische Assistenz – Mit der Verwaltung der Zahlungen beauftragte Zahlstelle – Fehlen von Belegen für eine ordnungsgemäße Verwendung – Erstattungspflicht – Beweislast im Falle des Bestreitens vor dem Gemeinschaftsrichter

1.      Artikel 27 Absatz 2 der Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments, der ein Verfahren vorsieht, nach dem die Quästoren für die Entscheidung über alle Meinungsverschiedenheiten zuständig sind, die zwischen einem Mitglied und dem Generalsekretär hinsichtlich der Anwendung dieser Regelung bestehen, stellt eine Vorschrift von allgemeiner Geltung dar, die vorbehaltlich besonderer Bestimmungen sämtliche Bereiche betrifft, die von der Regelung erfasst werden. Somit ist diese Bestimmung die allgemeine Vorschrift gegenüber Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 27 Absätze 3 und 4, die sich speziell auf Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Rückforderung von Vergütungen beziehen, die an ein Mitglied des Parlaments ungerechtfertigt gezahlt worden sind. Folglich ist Artikel 27 Absatz 2 wegen des Vorhandenseins besonderer Bestimmungen nicht auf die Rückforderung von Vergütungen anwendbar, die an ein Mitglied des Parlaments ungerechtfertigt gezahlt worden sind.

(vgl. Randnr. 83)

2.      Eine Entscheidung des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments, in der zum einen festgestellt wird, dass die dort genannten Beträge einem Mitglied des Parlaments zu Unrecht zur Kostenerstattung und als Abgeordnetenvergütung gezahlt wurden und daher zurückzufordern sind, und zum anderen, dass die Einziehung im Wege der Aufrechnung mit den diesem Mitglied zu zahlenden Vergütungen zu erfolgen hat, ist für nichtig zu erklären, soweit sie die Einziehung der von dem Mitglied geschuldeten Beträge im Wege der Aufrechnung anordnet.

Artikel 27 Absatz 4 der Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments (im Folgenden: KV‑Regelung) beschreibt tatsächlich ein Aufrechnungsverfahren. Zunächst verweist diese Bestimmung auf Artikel 73 der Haushaltsordnung Nr. 1605/2002 sowie auf die Durchführungsbestimmungen dieses Artikels, dessen Absatz 1 Unterabsatz 2 die Verpflichtung des Rechnungsführers jeder Institution enthält, Forderungen der Gemeinschaften gegenüber einem Schuldner, der selbst gegenüber den Gemeinschaften eine einredefreie, auf Geld gehende und fällige Forderung geltend macht, bei ihrer Einziehung zu verrechnen. Außerdem ergibt sich aus Artikel 78 Absatz 3 Buchstaben d bis f und den Artikeln 83 und 84 der Verordnung Nr. 2342/2002 mit Durchführungsbestimmungen zu den Artikeln 71 und 73 der Haushaltsordnung, dass jede Institution die Einziehung von Forderungen der Gemeinschaften vorrangig im Wege der Aufrechnung vorzunehmen hat und bei fehlgeschlagener Einziehung das Einziehungsverfahren mit allen sonstigen ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln einzuleiten hat.

Was allerdings das Verhältnis der Spezialität zwischen Artikel 16 Absatz 2, Artikel 27 Absatz 3 und Artikel 27 Absatz 4 der KV-Regelung betrifft, so regelt der zuletzt genannte Artikel näher das Verfahren, das einzuhalten ist, wenn die Vergütungen, die einem Mitglied für die wirksame Ausübung seiner repräsentativen Funktionen zu zahlen sind, in einer bestimmten Art und Weise, d. h. durch Aufrechnung, eingezogen werden sollen, wobei darauf zu achten ist, dass dieses Mitglied sein Mandat tatsächlich ausüben kann. Aus diesem Grund sieht die Bestimmung eine Reihe von verfahrens- und materiell-rechtlichen Garantien vor. Da diese Bestimmung somit eine bestimmte Art und Weise der Einziehung einer oder mehrerer ungerechtfertigt gezahlter Vergütungen betrifft, ist sie gegenüber den Artikeln 16 Absatz 2 und 27 Absatz 3 der KV-Regelung als lex specialis anzusehen, was im Übrigen ihre Einfügung hinter den zuletzt genannten Absatz erklärt. Dabei zeigt die Formulierung „in Ausnahmefällen“ zu Beginn dieses Artikels 27 Absatz 4, dass eine Aufrechnung nur durchgeführt werden kann, wenn die genannten Garantien eingehalten worden sind.

Das Parlament hat durch die Änderung seiner KV-Regelung, indem es dem genannten Artikel 27 einen neuen Absatz 4 hinzugefügt hat, regeln wollen, dass die Beitreibung einer Forderung bei einem Mitglied des Parlaments im Wege der Aufrechnung mit diesem Mitglied zu zahlenden Abgeordnetenvergütungen nur gemäß dem in Absatz 4 des genannten Artikels vorgesehenen Verfahren zulässig ist. Da der Generalsekretär ohne eine entsprechende Ermächtigung durch das Präsidium gemäß dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Verfahren nicht zur Anordnung der fraglichen Aufrechnung befugt ist, ist seine Entscheidung infolgedessen für nichtig zu erklären, soweit sie eine solche Aufrechnung anordnet.

(vgl. Randnrn. 86-87, 95-97, 99)

3.      Was den Antrag im Rahmen einer Nichtigkeitsklage betrifft, die Rechtssache in das Stadium vor Erlass des für nichtig erklärten Rechtsakts zurückzuversetzen, um das Verfahren an der Stelle fortführen zu können, an der der Rechtsverstoß begangen worden ist, so ist der Gemeinschaftsrichter nicht befugt, über die weiteren Maßnahmen zu entscheiden, die eine Institution in der Folge eines Urteils, das eine Handlung ganz oder teilweise für nichtig erklärt, zu ergreifen hat. Vielmehr ist es Sache der betreffenden Institution, gemäß Artikel 233 EG die zur Durchführung des Nichtigkeitsurteils erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

(vgl. Randnr. 98)

4.      Nach dem allgemeinen Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte muss eine Person, gegen die die Gemeinschaftsverwaltung einen Vorwurf erhebt, Gelegenheit haben, zu jedem Schriftstück Stellung zu nehmen, das die Gemeinschaftsverwaltung gegen sie verwenden will. Soweit ihr eine solche Gelegenheit nicht geboten worden ist, dürfen die ihr nicht zur Kenntnis gebrachten Schriftstücke nicht als Beweismittel berücksichtigt werden. Dieser Ausschluss bestimmter von der Verwaltung verwendeter Schriftstücke ist jedoch nur von Bedeutung, wenn der erhobene Vorwurf allein durch diese Schriftstücke bewiesen werden kann. Der Gemeinschaftsrichter hat zu prüfen, ob die Nichtbekanntgabe der vom Kläger angeführten Schriftstücke sich zu dessen Nachteil auf den Ablauf des Verfahrens und den Inhalt der angefochtenen Entscheidung auswirken konnte.

Darüber hinaus kann der Gemeinschaftsrichter im Rahmen einer Klage gegen die ein Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung im Wege prozessleitender Maßnahmen eine vollständige Akteneinsicht anordnen, um zu klären, ob die Weigerung, ein Schriftstück zu verbreiten, die Verteidigung des Klägers beeinträchtigen kann.

(vgl. Randnrn. 118-119)

5.      Es gibt keine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, die eine ausdrückliche allgemeine Verpflichtung enthält, die Adressaten von Rechtsakten über die möglichen Rechtsbehelfe und die Fristen, in denen sie eingelegt werden können, zu belehren. Was die Verpflichtungen betrifft, die das Europäische Parlament sich durch den Erlass des Leitfadens für die Pflichten der Beamten und Bediensteten auferlegt hat, so kann die Tatsache, dass in einem Rechtsakt nicht auf die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs hingewiesen wurde, zwar eine Verletzung der Verpflichtungen aus dem Leitfaden darstellen. Die Verletzung dieser Verpflichtung stellt jedoch keinen Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften dar, der sich auf die Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts auswirkt.

(vgl. Randnr. 131)

6.      Die nach Artikel 253 EG erforderliche Begründung muss dem Wesen des betreffenden Rechtsakts entsprechen und die Überlegungen der Institution, die den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Dabei kann eine Entscheidung des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments über die Rückforderung der an ein Mitglied des Parlaments als Abgeordnetenvergütung geleisteten Zahlungen als ausreichend begründet angesehen werden, wenn sie ausdrücklich auf einen Prüfungsbericht, der dem Betroffenen übermittelt worden ist, und auf die vom Betroffenen nach der Prüfung eingereichten Belege sowie auf die teilweise Rückzahlung der Schuld durch monatliche Ratenzahlungen verweist.

(vgl. Randnrn. 134-136)

7.      Die Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung muss mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, das besagt, dass sich niemand auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung zugunsten eines anderen berufen kann.

(vgl. Randnr. 141)

8.      Eine Handlung ist nur dann ermessensmissbräuchlich, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, dass sie ausschließlich oder zumindest hauptsächlich zu anderen als den angegebenen Zwecken oder mit dem Ziel erlassen worden ist, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen.

(vgl. Randnr. 145)

9.      Gemäß dem durch die Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments (im Folgenden: KV-Regelung) eingeführten System muss das Mitglied, das eine Zahlstelle mit der Verwaltung der Beträge beauftragt, die als Zulage für parlamentarische Assistenz gezahlt werden, in der Lage sein, Belege vorzulegen, die eine Verwendung gemäß den mit seinen Assistenten geschlossenen Verträgen nachweisen. Das Fehlen von Belegen zum Nachweis der Ausgaben, die als Assistentengehälter oder sonstige gemäß der KV-Regelung erstattungsfähige Ausgaben getätigt wurden, kann nur die Verpflichtung zur Rückzahlung der entsprechenden Beträge an das Parlament zur Folge haben. Jeder Betrag, dessen Verwendung gemäß der KV-Regelung nicht anhand von Belegen nachgewiesen werden kann, muss nämlich als ungerechtfertigte Zahlung angesehen werden. Der Betroffene, der der Verwaltung Belege zum Nachweis der Verwendung der erhaltenen Mittel vorgelegt hat, hat somit zur Stützung seiner Klage vor dem Gemeinschaftsrichter geltend zu machen und nachzuweisen, dass die Verwaltung die Belege zu Unrecht nicht berücksichtigt hat.

(vgl. Randnr. 157)