Language of document : ECLI:EU:T:2014:1034





Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 9. Dezember 2014 –

Riva Fire/Kommission

(Rechtssache T‑83/10)

„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Bewehrungsrundstahl in Form von Stäben oder Ringen – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 KS nach Auslaufen des EGKS-Vertrags auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 festgestellt wird – Festsetzung von Preisen und Zahlungsfristen – Beschränkung oder Kontrolle der Produktion oder des Absatzes – Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften – Zuständigkeit der Kommission – Rechtsgrundlage – Konsultation des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen – Verteidigungsrechte – Definition des räumlichen Marktes – Anwendung des Grundsatzes der lex mitior – Verstoß gegen Art. 65 KS – Geldbußen – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Verhältnismäßigkeit – Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996“

1.                     Kommission – Kollegialitätsprinzip – Bedeutung – Ohne ihre Anlagen mitgeteilte Entscheidung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln – Verstoß gegen das Kollegialitätsprinzip – Fehlen – Im Text der Entscheidung rechtlich hinreichend dargestellte Gesichtspunkte (Art. 219 EG) (vgl. Rn. 53-55, 75)

2.                     Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes – Grundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts zählt und in der Charta der Grundrechte der Union enthalten ist – Bestimmung der lex mitior – Kriterien – Im konkreten Fall günstigstes Gesetz (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 49 Abs. 1) (vgl. Rn. 83, 85)

3.                     Kartelle – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Beurteilungskriterien – Beurteilung auf der Grundlage mehrerer zusammengenommener Faktoren, die einzeln betrachtet nicht zwangsläufig ausschlaggebend sind – Kartelle, die sich auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erstrecken – Starke Vermutung für eine Beeinträchtigung (Art. 65 § 1 KS; Art. 81 Abs. 1 EG) (vgl. Rn. 88-91, 93-95, 97, 130)

4.                     Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Notwendiger Inhalt – Wahrung der Verteidigungsrechte – Angabe der wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, die eine Geldbuße nach sich ziehen könnten – Im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör ausreichende Angabe (Art. 36 Abs. 1 KS; Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 104)

5.                     Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Tragweite des Grundsatzes – Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Erlass einer neuen Entscheidung auf der Basis einer anderen Rechtsgrundlage und der früheren Vorbereitungshandlungen – Zulässigkeit – Pflicht, die Beschwerdepunkte erneut mitzuteilen – Fehlen (Art. 65 § 1, 4 und 5 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 1) (vgl. Rn. 112-122, 124, 211)

6.                     Kartelle – Verabredete Praktik – Begriff – Mit der Pflicht jedes Unternehmens, sein Marktverhalten selbständig zu bestimmen, unvereinbare Koordinierung und Zusammenarbeit – Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern – Vermutung, dass die Informationen verwendet werden, um das Marktverhalten zu bestimmen – Keine wettbewerbswidrigen Wirkungen auf dem Markt – Keine Auswirkung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 137-140, 161-166)

7.                     Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer – Unschuldsvermutung –Indizienbündel – Grad der Beweiskraft, den die von der Kommission herangezogenen Beweise aufweisen müssen – Beweispflichten der Unternehmen, die das Vorliegen der Zuwiderhandlung bestreiten (Art. 65 § 1 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 2) (vgl. Rn. 142-151)

8.                     Kartelle – Komplexe Zuwiderhandlung, die Merkmale der Vereinbarung und der verabredeten Praktik aufweist – Einheitliche Qualifikation als „Vereinbarung und/oder verabredete Praktik“ – Zulässigkeit (Art. 15 KS und 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 154, 155)

9.                     Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Art des Nachweises – Nachweis durch Urkunden – Beurteilung der Beweiskraft eines Dokuments – Kriterien – Unkenntnis des Urhebers und der Herkunft – Keine Auswirkung (Art. 65 KS) (vgl. Rn. 157)

10.                     Kartelle – Teilnahme an Zusammenkünften mit wettbewerbswidrigem Zweck – Umstand, der bei fehlender Distanzierung von den getroffenen Beschlüssen auf die Beteiligung an der daraus resultierenden Absprache schließen lässt – Öffentliche Distanzierung – Enge Auslegung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 159, 209)

11.                     EGKS – Preise – Preistafeln – Pflicht zur Veröffentlichung – Vereinbarkeit mit dem Kartellverbot (Art. 60 KS und 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 170, 171, 187)

12.                     Kartelle – Verbot – Zuwiderhandlungen – Preisfestsetzung – Begriff – Kartelle zur Festsetzung eines Teils des Endpreises – Zuschläge – Einbeziehung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 181-186)

13.                     Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Einzelfallentscheidungen – Entscheidung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln (Art. 15 KS und 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 191, 192)

14.                     Kartelle – Verbot – Zuwiderhandlungen – Vereinbarungen und verabredete Praktiken, die eine einheitliche Zuwiderhandlung darstellen – Verantwortlichkeit für Handlungen anderer Unternehmen im Rahmen der gleichen Zuwiderhandlung – Zulässigkeit – Kriterien – Berücksichtigung bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 213, 214, 216, 219, 220)

15.                     Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Dauer der Zuwiderhandlung – Nichtberücksichtigung der Nichtbeteiligung eines Unternehmens an einem der Teile des Kartells während eines Teils des beanstandeten Zeitraum, der nicht als kurz eingeordnet werden kann – Unzulässigkeit – Ausübung der Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung – Herabsetzung der Geldbuße (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2) (vgl. Rn. 219, 220, Tenor 1)

16.                     Kartelle – Vereinbarungen zwischen Unternehmen – Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 65 KS – Beurteilungskriterien – Wettbewerbsfeindlichkeit – Hinreichende Feststellung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 227)

17.                     Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Keine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 Teil A) (vgl. Rn. 244)

18.                     Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten – Entscheidungsspielraum der Kommission – Gerichtliche Überprüfung – Rechtmäßigkeitskontrolle – Umfang (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nrn. 1 Teil A und 1 Teil B) (vgl. Rn. 244, 254-258)

19.                     Wettbewerb – Geldbußen – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Rechtsnatur – Verhaltensnorm mit Hinweischarakter, die eine Selbstbeschränkung des Ermessens der Kommission impliziert – Pflicht, die Grundsätze der Gleichbehandlung, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit zu beachten (Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission) (vgl. Rn. 246-248)

20.                     Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Abschreckender Charakter – Berücksichtigung der Größe und der Gesamtressourcen des mit einer Sanktion belegten Unternehmens – Relevanz – Anwendung eines Multiplikators auf den Ausgangsbetrag – Maßgeblicher Zeitpunkt (Art. 65 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 Teil A) (vgl. Rn. 266-272)

21.                     Kartelle – Kartelle, die sachlich und zeitlich unter den EGKS-Vertrag fallen – Auslaufen des EGKS-Vertrags – Aufrechterhaltung einer Kontrolle durch die Kommission im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 (Art. 65 § 1 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates) (vgl. Rn. 273)

22.                     Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Passive Mitwirkung oder Mitläufertum des Unternehmens – Beurteilungskriterien – Von den kartellinternen Vereinbarungen abweichendes Verhalten – Fehlen eines solchen Verhaltens (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 3) (vgl. Rn. 284, 285, 287)

23.                     Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Rechtlicher Rahmen – Leitlinien der Kommission – Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen als Gegenleistung für die Zusammenarbeit der beschuldigten Unternehmen – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Überprüfung – Umfang (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission) (vgl. Rn. 301-311)

24.                     Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Voraussetzungen – Stellung eines Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung – Erforderlichkeit eines Verhaltens, das es der Kommission erleichtert hat, die Zuwiderhandlung festzustellen – Beurteilung (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission) (vgl. Rn. 312-319)

Gegenstand

Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung C(2009) 7492 final der Kommission vom 30. September 2009 betreffend einen Verstoß gegen Art. 65 [KS] (Sache COMP/37.956 – Bewehrungsrundstahl, Neuentscheidung) in der durch die Entscheidung C(2009) 9912 final der Kommission vom 8. Dezember 2009 geänderten Fassung und, hilfsweise, auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße

Tenor

1.

Der Betrag der gegen die Riva Fire SpA verhängten Geldbuße wird auf 26 093 000 Euro festgesetzt.

2.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.

Riva Fire trägt ihre eigenen Kosten sowie drei Viertel der Kosten der Europäischen Kommission. Die Kommission trägt ein Viertel ihrer eigenen Kosten.