Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 9. Dezember 2014 –
Riva Fire/Kommission
(Rechtssache T‑83/10)
„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Bewehrungsrundstahl in Form von Stäben oder Ringen – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 KS nach Auslaufen des EGKS-Vertrags auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 festgestellt wird – Festsetzung von Preisen und Zahlungsfristen – Beschränkung oder Kontrolle der Produktion oder des Absatzes – Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften – Zuständigkeit der Kommission – Rechtsgrundlage – Konsultation des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen – Verteidigungsrechte – Definition des räumlichen Marktes – Anwendung des Grundsatzes der lex mitior – Verstoß gegen Art. 65 KS – Geldbußen – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Verhältnismäßigkeit – Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996“
1. Kommission – Kollegialitätsprinzip – Bedeutung – Ohne ihre Anlagen mitgeteilte Entscheidung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln – Verstoß gegen das Kollegialitätsprinzip – Fehlen – Im Text der Entscheidung rechtlich hinreichend dargestellte Gesichtspunkte (Art. 219 EG) (vgl. Rn. 53-55, 75)
2. Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes – Grundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts zählt und in der Charta der Grundrechte der Union enthalten ist – Bestimmung der lex mitior – Kriterien – Im konkreten Fall günstigstes Gesetz (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 49 Abs. 1) (vgl. Rn. 83, 85)
3. Kartelle – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Beurteilungskriterien – Beurteilung auf der Grundlage mehrerer zusammengenommener Faktoren, die einzeln betrachtet nicht zwangsläufig ausschlaggebend sind – Kartelle, die sich auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erstrecken – Starke Vermutung für eine Beeinträchtigung (Art. 65 § 1 KS; Art. 81 Abs. 1 EG) (vgl. Rn. 88-91, 93-95, 97, 130)
4. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Mitteilung der Beschwerdepunkte – Notwendiger Inhalt – Wahrung der Verteidigungsrechte – Angabe der wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, die eine Geldbuße nach sich ziehen könnten – Im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör ausreichende Angabe (Art. 36 Abs. 1 KS; Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 104)
5. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Wahrung der Verteidigungsrechte – Tragweite des Grundsatzes – Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Erlass einer neuen Entscheidung auf der Basis einer anderen Rechtsgrundlage und der früheren Vorbereitungshandlungen – Zulässigkeit – Pflicht, die Beschwerdepunkte erneut mitzuteilen – Fehlen (Art. 65 § 1, 4 und 5 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 27 Abs. 1) (vgl. Rn. 112-122, 124, 211)
6. Kartelle – Verabredete Praktik – Begriff – Mit der Pflicht jedes Unternehmens, sein Marktverhalten selbständig zu bestimmen, unvereinbare Koordinierung und Zusammenarbeit – Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern – Vermutung, dass die Informationen verwendet werden, um das Marktverhalten zu bestimmen – Keine wettbewerbswidrigen Wirkungen auf dem Markt – Keine Auswirkung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 137-140, 161-166)
7. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Beweislast der Kommission für die Zuwiderhandlung und ihre Dauer – Unschuldsvermutung –Indizienbündel – Grad der Beweiskraft, den die von der Kommission herangezogenen Beweise aufweisen müssen – Beweispflichten der Unternehmen, die das Vorliegen der Zuwiderhandlung bestreiten (Art. 65 § 1 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 2) (vgl. Rn. 142-151)
8. Kartelle – Komplexe Zuwiderhandlung, die Merkmale der Vereinbarung und der verabredeten Praktik aufweist – Einheitliche Qualifikation als „Vereinbarung und/oder verabredete Praktik“ – Zulässigkeit (Art. 15 KS und 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 154, 155)
9. Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt wird – Art des Nachweises – Nachweis durch Urkunden – Beurteilung der Beweiskraft eines Dokuments – Kriterien – Unkenntnis des Urhebers und der Herkunft – Keine Auswirkung (Art. 65 KS) (vgl. Rn. 157)
10. Kartelle – Teilnahme an Zusammenkünften mit wettbewerbswidrigem Zweck – Umstand, der bei fehlender Distanzierung von den getroffenen Beschlüssen auf die Beteiligung an der daraus resultierenden Absprache schließen lässt – Öffentliche Distanzierung – Enge Auslegung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 159, 209)
11. EGKS – Preise – Preistafeln – Pflicht zur Veröffentlichung – Vereinbarkeit mit dem Kartellverbot (Art. 60 KS und 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 170, 171, 187)
12. Kartelle – Verbot – Zuwiderhandlungen – Preisfestsetzung – Begriff – Kartelle zur Festsetzung eines Teils des Endpreises – Zuschläge – Einbeziehung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 181-186)
13. Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Einzelfallentscheidungen – Entscheidung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln (Art. 15 KS und 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 191, 192)
14. Kartelle – Verbot – Zuwiderhandlungen – Vereinbarungen und verabredete Praktiken, die eine einheitliche Zuwiderhandlung darstellen – Verantwortlichkeit für Handlungen anderer Unternehmen im Rahmen der gleichen Zuwiderhandlung – Zulässigkeit – Kriterien – Berücksichtigung bei der Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 213, 214, 216, 219, 220)
15. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Dauer der Zuwiderhandlung – Nichtberücksichtigung der Nichtbeteiligung eines Unternehmens an einem der Teile des Kartells während eines Teils des beanstandeten Zeitraum, der nicht als kurz eingeordnet werden kann – Unzulässigkeit – Ausübung der Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung – Herabsetzung der Geldbuße (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2) (vgl. Rn. 219, 220, Tenor 1)
16. Kartelle – Vereinbarungen zwischen Unternehmen – Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 65 KS – Beurteilungskriterien – Wettbewerbsfeindlichkeit – Hinreichende Feststellung (Art. 65 § 1 KS) (vgl. Rn. 227)
17. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Keine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 Teil A) (vgl. Rn. 244)
18. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten – Entscheidungsspielraum der Kommission – Gerichtliche Überprüfung – Rechtmäßigkeitskontrolle – Umfang (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nrn. 1 Teil A und 1 Teil B) (vgl. Rn. 244, 254-258)
19. Wettbewerb – Geldbußen – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Rechtsnatur – Verhaltensnorm mit Hinweischarakter, die eine Selbstbeschränkung des Ermessens der Kommission impliziert – Pflicht, die Grundsätze der Gleichbehandlung, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit zu beachten (Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission) (vgl. Rn. 246-248)
20. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Abschreckender Charakter – Berücksichtigung der Größe und der Gesamtressourcen des mit einer Sanktion belegten Unternehmens – Relevanz – Anwendung eines Multiplikators auf den Ausgangsbetrag – Maßgeblicher Zeitpunkt (Art. 65 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 1 Teil A) (vgl. Rn. 266-272)
21. Kartelle – Kartelle, die sachlich und zeitlich unter den EGKS-Vertrag fallen – Auslaufen des EGKS-Vertrags – Aufrechterhaltung einer Kontrolle durch die Kommission im Rahmen der Verordnung Nr. 1/2003 (Art. 65 § 1 KS; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates) (vgl. Rn. 273)
22. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Schwere der Zuwiderhandlung – Mildernde Umstände – Passive Mitwirkung oder Mitläufertum des Unternehmens – Beurteilungskriterien – Von den kartellinternen Vereinbarungen abweichendes Verhalten – Fehlen eines solchen Verhaltens (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2 und 3; Mitteilung 98/C 9/03 der Kommission, Nr. 3) (vgl. Rn. 284, 285, 287)
23. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Rechtlicher Rahmen – Leitlinien der Kommission – Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen als Gegenleistung für die Zusammenarbeit der beschuldigten Unternehmen – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Überprüfung – Umfang (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission) (vgl. Rn. 301-311)
24. Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Kriterien – Herabsetzung der Geldbuße als Gegenleistung für eine Zusammenarbeit des beschuldigten Unternehmens – Voraussetzungen – Stellung eines Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung – Erforderlichkeit eines Verhaltens, das es der Kommission erleichtert hat, die Zuwiderhandlung festzustellen – Beurteilung (Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2; Mitteilung 96/C 207/04 der Kommission) (vgl. Rn. 312-319)
Gegenstand
| Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung C(2009) 7492 final der Kommission vom 30. September 2009 betreffend einen Verstoß gegen Art. 65 [KS] (Sache COMP/37.956 – Bewehrungsrundstahl, Neuentscheidung) in der durch die Entscheidung C(2009) 9912 final der Kommission vom 8. Dezember 2009 geänderten Fassung und, hilfsweise, auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße |
Tenor
1. | | Der Betrag der gegen die Riva Fire SpA verhängten Geldbuße wird auf 26 093 000 Euro festgesetzt. |
2. | | Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. |
3. | | Riva Fire trägt ihre eigenen Kosten sowie drei Viertel der Kosten der Europäischen Kommission. Die Kommission trägt ein Viertel ihrer eigenen Kosten. |