Language of document : ECLI:EU:T:2021:644

Rechtssache T745/18

(auszugsweise Veröffentlichung)

Covestro Deutschland AG

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 6. Oktober 2021

„Staatliche Beihilfen – Beihilferegelung Deutschlands zugunsten bestimmter stromintensiver Unternehmen – Netzentgeltbefreiung für den Zeitraum 2012‑2013 – Beschluss, mit dem die Beihilferegelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar und rechtswidrig erklärt und die Rückforderung der gewährten Beihilfen angeordnet wird – Nichtigkeitsklage – Klagefrist – Zulässigkeit – Begriff der Beihilfe – Staatliche Mittel – Gleichbehandlung – Vertrauensschutz“

1.      Nichtigkeitsklage – Fristen – Beginn – Zeitpunkt der Bekanntgabe – Zeitpunkt der Kenntniserlangung von der Handlung – Subsidiärer Charakter – Handlungen, die nach ständiger Praxis des Organs im Amtsblatt veröffentlicht werden

(Art. 263 Abs. 6 AEUV)

(vgl. Rn. 36-44)

2.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Kriterium des privaten Kapitalgebers – Beurteilung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte des streitigen Vorgangs und seines Kontexts – Maßnahme, die der Mitgliedstaat in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt erlässt

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 50-54, 61-63)

3.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Beihilfen aus staatlichen Mitteln – Begriff der staatlichen Mittel – Befreiung stromintensiver Verbraucher von Netzentgelten – Ausgleich der Erlösausfälle der Netzbetreiber durch die Einführung einer von den Letztverbrauchern oder Stromversorgern erhobenen Umlage – Einbeziehung – Voraussetzungen – Umlage, die einer parafiskalischen Abgabe gleichgestellt werden kann – Bestehen einer staatlichen Kontrolle über den gesamten Mechanismus zur Erhebung der Umlage und zur Zuteilung der erwirtschafteten Gelder

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 85-97, 109-148)

4.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Überprüfung – Grenzen – Dem Mitgliedstaat obliegende Beweislast

(Art. 107 Abs. 1 und 3 Buchst. b AEUV)

(vgl. Rn. 152-166)

5.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Beurteilung nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Kriterien

(Art. 107 Abs. 1 und 3 Buchst. c AEUV)

(vgl. Rn. 169-191)

6.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot – Fehlen

(vgl. Rn. 194-210)

7.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften des Art. 108 AEUV gewährte Beihilfe – Mögliches berechtigtes Vertrauen der Empfänger – Fehlen, sofern keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen

(vgl. Rn. 213-219)

Zusammenfassung

Ab 2011 gewährte die Bundesrepublik Deutschland bestimmten stromintensiven Verbrauchern eine vollständige Netzentgeltbefreiung (im Folgenden: streitige Befreiung). Die durch diese Befreiung verursachten Kosten waren von den Übertragungsnetzbetreibern zu tragen.

Zum Ausgleich des durch die streitige Befreiung verursachten Einnahmeausfalls führte die Bundesnetzagentur (BNetzA, Deutschland) mit Beschluss vom 14. Dezember 2011 (im Folgenden: BNetzA-Beschluss von 2011) einen Finanzierungsmechanismus ein, der 2012 in Kraft trat. Nach diesem Mechanismus erhoben die Verteilernetzbetreiber von den Letztverbrauchern oder den Stromversorgern eine Umlage (im Folgenden: streitige Umlage), deren Erlöse an die Übertragungsnetzbetreiber weitergeleitet wurden.

Die Höhe der Umlage wurde jedes Jahr anhand einer von der BNetzA festgelegten Methode ermittelt. Den Betrag für das Jahr 2012, das erste Jahr, in dem das System durchgeführt wurde, setzte die BNetzA unmittelbar pauschal fest. Da dieser Mechanismus zudem nicht auf die Kosten der streitigen Befreiung für das Jahr 2011 anwendbar war, musste jeder Übertragungs- und Verteilernetzbetreiber je nachdem, an welche Netzebene die Begünstigten angeschlossen waren, die Verluste aus dieser Befreiung für dieses Jahr tragen.

Die streitige Befreiung wurde in der Folge durch deutsche Gerichtsentscheidungen für nichtig erklärt und daher mit Wirkung vom 1. Januar 2014 abgeschafft.

Mit Beschluss vom 28. Mai 2018(1) (im Folgenden: angefochtener Beschluss) stellte die Kommission, bei der mehrere Beschwerden anhängig waren, fest, dass die Bundesrepublik Deutschland vom 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2013 rechtswidrig staatliche Beihilfen in Form der streitigen Befreiung gewährt habe, wodurch stromintensive Verbraucher die Netzentgelte hätten vermeiden können.

Die Covestro Deutschland AG (im Folgenden: Klägerin) erhob gegen den angefochtenen Beschluss Nichtigkeitsklage. Das Gericht hat die Klage für zulässig erklärt, sie aber abgewiesen, indem es u. a. den staatlichen Charakter der durch die streitige Umlage generierten Mittel und damit das Vorliegen einer aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfe bestätigt hat.

Würdigung durch das Gericht

Das Gericht hat erstens die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückgewiesen, wonach die Nichtigkeitsklage verspätet erhoben worden sei, denn die Klägerin habe vom angefochtenen Beschluss lange vor seiner Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union Kenntnis erlangt.

Zu diesem Vorbringen hat das Gericht festgestellt, dass bereits nach dem Wortlaut von Art. 263 Abs. 6 AEUV der Zeitpunkt, zu dem der Kläger von der Handlung Kenntnis erlangt hat, als Beginn der Frist zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage nur subsidiär neben dem Zeitpunkt der Bekanntgabe bzw. der Mitteilung in Betracht kommt. Auch wenn die Bekanntgabe des angefochtenen Beschlusses keine Voraussetzung für sein Wirksamwerden war, da die Beschlüsse der Kommission über den Abschluss eines Beihilfeprüfverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV im Amtsblatt veröffentlicht werden, durfte die Klägerin darauf vertrauen, dass der angefochtene Beschluss veröffentlicht würde, und war berechtigt, den Zeitpunkt der Veröffentlichung im Amtsblatt als Beginn der Klagefrist anzusehen.

Was zweitens die Einstufung der streitigen Umlage als aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe angeht, hat das Gericht ausgeführt, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs(2) für die Beurteilung des staatlichen Charakters einer solchen Fördermaßnahme auf zwei Hauptmerkmale abstellt: zum einen auf eine verpflichtende Belastung der Verbraucher oder Letztverbraucher, die normalerweise als „Abgabe“ bezeichnet wird, insbesondere als „parafiskalische Abgabe“, und zum anderen auf die staatliche Kontrolle über die Verwaltung des Systems, insbesondere durch die staatliche Kontrolle über die Gelder oder über die Verwalter (Dritte) dieser Gelder.

Es handelt sich im Wesentlichen um zwei Merkmale, die Teile einer Alternative sind. Die Fälle, in denen das Vorliegen staatlicher Mittel bejaht wurde, zeichneten sich nämlich dadurch aus, dass der Staat in irgendeiner Form die Kontrolle über die fraglichen Mittel ausübte.

In Anbetracht dieser Klarstellungen hat das Gericht zunächst geprüft, ob die streitige Umlage tatsächlich eine Zwangsabgabe darstellte und deshalb einer parafiskalischen Abgabe gleichzustellen war, sodann, ob der Staat über eine Kontrolle über die eingenommenen Gelder oder über die mit ihrer Verwaltung betrauten Einrichtungen verfügte.

Im Rahmen dieser Prüfung hat das Gericht festgestellt, dass die streitige Umlage dem Staat zuzurechnen war. Diese Feststellung galt unbeschadet der Frage, ob der BNetzA-Beschluss von 2011 nach deutschem Recht als Ultra-vires-Beschluss anzusehen war, und unbeschadet der Frage nach der Nichtigerklärung dieses Beschlusses durch die deutschen Gerichte, da dieser Beschluss während des maßgeblichen Zeitraums tatsächlich angewandt wurde.

Zur Verbindlichkeit der streitigen Umlage hat das Gericht festgestellt, dass sie von einer Verwaltungsbehörde im Wege einer Regulierungsmaßnahme eingeführt wurde und für die Letztschuldner rechtlich verbindlich war. Bei diesen handelt es sich um die Netznutzer, d. h. die Stromversorger selbst und die unmittelbar an das Netz angeschlossenen Letztverbraucher, nicht aber die übrigen Letztverbraucher. Der BNetzA-Beschluss von 2011 verpflichtete die Verteilernetzbetreiber nämlich dazu, die mit der streitigen Umlage verbundenen Mehrkosten auf die Letztverbraucher abzuwälzen, so dass diese Umlage eine parafiskalische Abgabe darstellt und somit die Verwendung staatlicher Mittel impliziert.

Zur staatlichen Kontrolle der Verwaltung des Umlagemechanismus hat das Gericht außerdem festgestellt, dass zum einen eine Entsprechung zwischen der streitigen Umlage und den durch die streitige Befreiung entstandenen Mehrkosten bestand und dass zum anderen die Netzbetreiber als bloße zwischengeschaltete Stellen bei der Durchführung eines Mechanismus gehandelt haben, der gänzlich durch staatliche Vorschriften geregelt war. Somit gab es eine staatliche Kontrolle über den gesamten Mechanismus für die Erhebung und Zuteilung der streitigen Umlage. Die Verteilernetzbetreiber waren nämlich verpflichtet, die streitige Umlage, wie sie von der BNetzA (für das Jahr 2012) oder nach der von dieser festgelegten Methode (für das Jahr 2013) berechnet wurde, von den Netznutzern, einschließlich der Letztverbraucher, zu erheben. Zudem wurden die Erlöse nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die vorsahen, dass die Erlöse zum Ausgleich der durch die streitige Befreiung entstandenen Mehrkosten an die Übertragungsnetzbetreiber gezahlt wurden, ausschließlich für die Zwecke der Regelung verwendet.

Nach alledem ist das Gericht zu dem Ergebnis gekommen, dass die streitige Umlage eine parafiskalische Abgabe oder eine Zwangsabgabe war, deren Höhe von einer Behörde (für das Jahr 2012) oder nach einer von dieser Behörde festgelegten Methode (für das Jahr 2013) festgesetzt wurde, die im öffentlichen Interesse liegende Ziele verfolgte, dass die streitige Umlage den Netzbetreibern nach objektiven Kriterien auferlegt und durch diese gemäß den von den nationalen Behörden vorgegebenen Regeln erhoben wurde, so dass sie eine Maßnahme aus staatlichen Mitteln darstellte.


1      Beschluss (EU) 2019/56 über die staatliche Beihilfe SA.34045 (2013/C) (ex 2012/NN) Deutschlands für Bandlastverbraucher nach Paragraf 19 StromNEV [2011] (ABl. 2019, L 14, S. 1).


2      U. a. Urteile des Gerichtshofs vom 28. März 2019, Deutschland/Kommission (C‑405/16 P, EU:C:2019:268), und vom 15. Mai 2019, Achema u. a. (C‑706/17, EU:C:2019:407).