Language of document : ECLI:EU:T:2022:603

Rechtssache T618/21

WV

gegen

Übersetzungszentrum für die Einrichtungen der Europäischen Union

 Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 5. Oktober 2022

„Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Krankheitsurlaub – Unbefugtes Fernbleiben vom Dienst – Fristlose Kündigung des Vertrags – Art. 16 BBSB – Art. 48 Buchst. b BBSB – Haftung“

1.      Beamte – Bedienstete auf Zeit – Kündigung eines unbefristeten Vertrags nach Ablauf des Krankheitsurlaubs – Voraussetzungen – Kumulativer Charakter

(Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten, Art. 16 Abs. 2 und Art. 48 Buchst. b)

(vgl. Rn. 29)

2.      Beamte – Bedienstete auf Zeit – Kündigung eines unbefristeten Vertrags nach Ablauf des Krankheitsurlaubs – Voraussetzungen – Ablauf des bezahlten Krankheitsurlaubs – Prüfpflicht der Verwaltung – Nichtbeachtung wegen unbefugten Fernbleibens des Bediensteten vom Dienst – Unzulässigkeit

(Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten, Art. 16 Abs. 2 und Art. 48 Buchst. b)

(vgl. Rn. 35, 36, 41)

3.      Beamte – Bedienstete auf Zeit – Kündigung eines unbefristeten Vertrags nach Ablauf des Krankheitsurlaubs – Voraussetzungen – Unmöglichkeit der Wiederaufnahme seiner Tätigkeit durch den Bediensteten – Maßgeblicher Zeitpunkt – Zeitpunkt nach Ablauf des bezahlten Krankheitsurlaubs

(Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten, Art. 16 Abs. 2 und Art. 48 Buchst. b)

(vgl. Rn. 40)

Zusammenfassung

WV wurde 1997 vom Übersetzungszentrum für die Einrichtungen der Europäischen Union (CdT) eingestellt und unterzeichnete 2004 einen unbefristeten Vertrag. Vom 23. Juli 2019 bis zum 15. November 2019 befand sich WV im bezahlten Krankheitsurlaub. Seine Abwesenheit vom 18. November 2019 bis zum 7. Februar 2020 wurde vom CdT als unbefugtes Fernbleiben vom Dienst erachtet. Seine Abwesenheiten vom 8. Februar bis zum 10. April 2020 und vom 29. April bis zum 4. Mai 2020 wurden vom CdT hingegen als gerechtfertigtes Fernbleiben vom Dienst akzeptiert. Ab dem 5. Mai 2020 wurde seine Abwesenheit als unbefugtes Fernbleiben vom Dienst erachtet.

Die Rechtsanwältin von WV beantragte seine Invalidisierung. Sie erklärte, dass unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands mit der Wiederherstellung einer normalen Situation in naher Zukunft nicht zu rechnen sei. Mit Schreiben vom 14. September 2020 wies das CdT diesen Antrag zurück und informierte WV darüber, dass es erwäge, sein Beschäftigungsverhältnis gemäß Art. 48 Buchst. b der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union (im Folgenden: BBSB) zu kündigen.

Am 26. November 2020 wurde auf der Grundlage dieser Bestimmung, nach der es möglich ist, ein Beschäftigungsverhältnis fristlos zu kündigen, falls der Bedienstete nach Ablauf des bezahlten Krankheitsurlaubs seine Tätigkeit nicht wieder aufnehmen kann, eine Entscheidung erlassen, mit der das Beschäftigungsverhältnis von WV fristlos gekündigt wurde. Daraufhin erhob WV beim Gericht Klage auf Aufhebung dieser Entscheidung (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).

Das Gericht gibt der Klage statt und hebt die angefochtene Entscheidung auf. In seinem Urteil äußert sich das Gericht zu der von der Rechtsprechung bisher nicht entschiedenen Frage, ob die Verwaltung das Beschäftigungsverhältnis eines Bediensteten auf der Grundlage von Art. 48 Buchst. b BBSB kündigen und sich dabei nur auf sein unbefugtes Fernbleiben vom Dienst sowie das dienstliche Interesse stützen kann, ohne zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 2 BBSB erfüllt sind, auf den Art. 48 Buchst. b BBSB verweist.

Würdigung durch das Gericht

Aus Art. 16 Abs. 2 und Art. 48 Buchst. b BBSB geht hervor, dass das vertragliche Beschäftigungsverhältnis eines Bediensteten gekündigt werden kann, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich dass der bezahlte Krankheitsurlaub abgelaufen ist und es dem Bediensteten unmöglich ist, danach seine Tätigkeit wieder aufzunehmen.

In Bezug auf die erste Voraussetzung (Ablauf des bezahlten Krankheitsurlaubs) weist das Gericht darauf hin, dass es sich bei dem in Art. 48 Buchst. b BBSB genannten bezahlten Krankheitsurlaub, nach dessen Ablauf beurteilt werden muss, ob der Bedienstete seine Tätigkeit wieder aufnehmen kann, um den Krankheitsurlaub im Sinne von Art. 16 Abs. 2 BBSB handelt.

Aus Art. 48 Buchst. b BBSB in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 BBSB geht hervor, dass das Beschäftigungsverhältnis eines Bediensteten nach Ablauf seines bezahlten Krankheitsurlaubs fristlos gekündigt werden kann, wenn dieser Krankheitsurlaub entweder drei Monate oder die Dauer der von dem Bediensteten abgeleisteten Dienstzeit übersteigt, sofern diese länger ist.

Für die Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses des Klägers auf der Grundlage von Art. 48 Buchst. b BBSB musste das CdT somit prüfen, ob diese Voraussetzung erfüllt war.

Hierzu stellt das Gericht fest, dass das CdT die Auffassung vertreten habe, dass das unbefugte Fernbleiben von WV vom Dienst, das seinen Anspruch auf bezahlten Krankheitsurlaub zum Erlöschen gebracht habe, die Verwaltung davon entbunden habe, die Voraussetzung des Ablaufs des dem Kläger zustehenden bezahlten Krankheitsurlaubs zu prüfen. Allerdings sehen weder Art. 48 Buchst. b BBSB, auf den die angefochtene Entscheidung gestützt ist, noch Art. 16 Abs. 2 BBSB, der diese Voraussetzung festlegt, vor, dass eine Entscheidung über eine fristlose Kündigung erlassen werden könnte, ohne dass zuvor geprüft wird, ob der bezahlte Krankheitsurlaub, der dem betreffenden Bediensteten gemäß den von Art. 16 Abs. 2 BBSB vorgesehenen Modalitäten zusteht, abgelaufen ist. Außerdem ergibt sich aus keiner dieser Bestimmungen und auch nicht aus Art. 59 des Statuts, in dem u. a. die rechtliche Regelung für den Krankheitsurlaub und unbefugtes Fernbleiben vom Dienst festgelegt ist, dass die Prüfung der in Art. 16 Abs. 2 BBSB vorgesehenen Voraussetzung des Ablaufs des bezahlten Krankheitsurlaubs im Fall eines unbefugten Fernbleibens vom Dienst im Zeitpunkt der streitigen Kündigung sowie davor durch die Feststellung dieses Fernbleibens ersetzt werden könnte. Daher hat das CdT in der angefochtenen Entscheidung eine Voraussetzung unbefugten Fernbleibens angewandt, die in Art. 48 Buchst. b und Art. 16 Abs. 2 BBSB nicht vorgesehen ist, und das unbefristete Beschäftigungsverhältnis von WV gekündigt, ohne zu prüfen, ob die erste von diesen Bestimmungen vorgesehene Voraussetzung erfüllt war.

In Bezug auf die zweite Voraussetzung (Unmöglichkeit für den Bediensteten, nach Ablauf des bezahlten Krankheitsurlaubs seine Tätigkeit wieder aufzunehmen) stellt das Gericht fest, dass aus den Schreiben der Rechtsanwältin von WV hervorgeht, dass dieser anerkannt hat, dass es ihm unmöglich ist, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen, was das CdT in der angefochtenen Entscheidung dadurch berücksichtigt hat, dass es den Inhalt dieser Schreiben übernommen hat.

Da jedoch der Zeitpunkt, zu dem diese Unmöglichkeit gemäß Art. 48 Buchst. b BBSB festgestellt werden musste, nach dem für den bezahlten Krankheitsurlaub festgelegten Zeitraum liegt, der, wie festgestellt, vom CdT nicht geprüft wurde, kann die zweite Voraussetzung nicht als erfüllt angesehen werden. Infolgedessen kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass das CdT mit dem Erlass der angefochtenen Entscheidung gegen Art. 48 Buchst. b und Art. 16 Abs. 2 BBSB verstoßen hat.