Language of document : ECLI:EU:T:2018:662

URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)

9. Oktober 2018(*)

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Dokumente des EU-Pilotverfahrens 8572/16 CHAP(2015)00353 – Verweigerung des Zugangs – Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Ausnahme zum Schutz des Zwecks von Untersuchungstätigkeiten – Allgemeine Vertraulichkeitsvermutung – Überwiegendes öffentliches Interesse“

In der Rechtssache T‑634/17

Anikó Pint, wohnhaft in Göd (Ungarn), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt D. Lazar,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch F. Erlbacher und C. Ehrbar als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Ungarn, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und M. Tátrai als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung der Beschlüsse der Kommission vom 1. Juni und 17. Juli 2017, mit denen der Klägerin der Zugang zu Dokumenten des EU-Pilotverfahrens 8572/16 CHAP(2015)00353 verweigert wurde,


erlässt

DAS GERICHT (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin I. Pelikánová sowie der Richter P. Nihoul und J. Svenningsen (Berichterstatter),

Kanzler: E. Coulon,

folgendes

Urteil

 Sachverhalt

1        Die Klägerin, Frau Anikó Pint, eine ungarische Staatsangehörige, die in Ungarn Schulden in ausländischer Währung aufgenommen hat, ist Mitglied der ungarischen Verbraucherschutzorganisation Pénzügyi Ismeretterjesztő és Érdek-képviseleti Egyesület (im Folgenden: Organisation PITEE). Mit Schreiben vom 17. Dezember 2014 reichte diese Organisation bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde ein, in der sie im Wesentlichen geltend machte, dass die ungarischen Rechtsvorschriften zur Konvertierung von Fremdwährungskrediten in die ungarische Währung und ihre Anwendung durch die ungarischen Gerichte gegen Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verstießen.

2        Im Anschluss an diese und andere bei ihr eingegangene Beschwerden eröffnete die Kommission im Laufe des Jahres 2016 das EU-Pilotverfahren 8572/16 CHAP(2015)00353 (im Folgenden: streitgegenständliches EU‑Pilotverfahren) zur Vereinbarkeit verschiedener ungarischer Gesetze mit der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29). Die Kommission teilte dies der Organisation PITEE mit Schreiben vom 4. Juli 2016 mit.

3        Zudem teilte die Kommission der Organisation PITEE zu einem anderen von ihr gestellten Antrag mit Schreiben vom 8. November 2016 mit, dass sie ihr Vorbringen in Bezug auf die Unvereinbarkeit der streitgegenständlichen ungarischen Rechtsvorschriften mit den Bestimmungen der Charta und der EMRK bei der Prüfung berücksichtigen werde.

4        Mit E‑Mail vom 7. März 2017 stellte die Klägerin bei der Kommission einen Antrag auf Zugang zu allen Dokumenten des streitgegenständlichen EU‑Pilotverfahrens (im Folgenden: angeforderte Dokumente). Die Kommission wies diesen Antrag mit Schreiben vom 1. Juni 2017 (im Folgenden: ursprünglicher Beschluss über die Zugangsverweigerung) unter Verweis auf Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43), der u. a. den Schutz des Zwecks von Untersuchungstätigkeiten betrifft, zurück.

5        Am 26. Juni 2017 stellte die Klägerin bei der Kommission einen Zweitantrag, mit dem sie die Kommission ersuchte, ihren Standpunkt zu überprüfen und ihr Zugang zu allen Dokumenten des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens zu gewähren.

6        Mit Schreiben vom 17. Juli 2017 hielt die Kommission an ihrer Weigerung fest, die angeforderten Dokumente zu verbreiten.

7        Sie führte zur Begründung dieses Beschlusses im Wesentlichen aus, erstens bestehe für laufende EU-Pilotverfahren bis zum Abschluss des Verfahrens und bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung, gegen Ungarn kein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, eine allgemeine Vermutung, dass die Verbreitung der angeforderten Dokumente den Schutz des Zwecks von Untersuchungstätigkeiten im Sinne von Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 beeinträchtigen würde, zweitens umfasse diese Vermutung alle Dokumente des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens, so dass sie der Möglichkeit des teilweisen Zugangs zu den angeforderten Dokumenten gemäß Art. 4 Abs. 6 dieser Verordnung entgegenstehe, und drittens ergebe sich aus keinem der angeführten Gründe ein überwiegendes öffentliches Interesse, das es rechtfertigen würde, sich über den in Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung genannten Grund für die Verweigerung des Zugangs hinwegzusetzen.

8        Schließlich teilte die Kommission der Organisation PITEE mit Schreiben vom 13. November 2017 mit, dass sie entschieden habe, das streitgegenständliche EU‑Pilotverfahren auszusetzen, um Urteile des Gerichtshofs abzuwarten, die er im Anschluss an verschiedene, mit dem Gegenstand dieses Verfahrens in engem Zusammenhang stehende Vorabentscheidungsersuchen ungarischer Gerichte erlassen werde. Außerdem stellte die Kommission im selben Schreiben klar, dass das streitgegenständliche EU-Pilotverfahren das Aktenzeichen 8572/16 und nicht das Aktenzeichen 8572/15 habe.

 Verfahren und Anträge der Parteien

9        Mit Klageschrift, die am 15. September 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

10      Die Klägerin beantragt,

–        den ursprünglichen Beschluss über die Zugangsverweigerung für nichtig zu erklären;

–        den Beschluss C(2017) 5145 final der Kommission vom 17. Juli 2017 für nichtig zu erklären;

–        der Kommission aufzuerlegen, ihr die angeforderten Dokumente zugänglich zu machen, unabhängig davon, ob sie der Kommission bereits vorliegen oder erst in der Zukunft vorgelegt werden sollen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

11      Die Kommission, unterstützt durch Ungarn, beantragt,

–        die Klage als unzulässig abzuweisen, soweit sie sich gegen den ursprünglichen Beschluss über die Zugangsverweigerung richtet und darauf abzielt, sie aufzufordern, der Klägerin die angeforderten Dokumente zugänglich zu machen;

–        die Klage im Übrigen als unbegründet abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

 Vorbemerkungen

12      In ihrer Klageschrift führt die Klägerin unter Bezugnahme auf verschiedene Schreiben der Kommission, u. a. ein Schreiben vom 4. Juli 2016 (Anlage A 3 zur Klageschrift), hinsichtlich der angeforderten Dokumente aus, dass sich die Klage auf die Zurückweisung des Antrags auf Zugang zu Dokumenten des EU‑Pilotverfahrens 8572/15 CHAP(2015)00353 durch die Kommission beziehe.

13      In ihrer Klagebeantwortung stellt die Kommission klar, dass das von dem Antrag auf Zugang zu Dokumenten, um den es im vorliegenden Verfahren gehe, tatsächlich betroffene Verfahren das streitgegenständliche EU-Pilotverfahren sei, auch wenn sie in verschiedenen Dokumenten das EU-Pilotverfahren 8572/15 CHAP(2015)00353 angegeben habe.

14      Die Klägerin bestreitet in ihrer Erwiderung diese Klarstellung nicht und verweist auf das Schreiben der Kommission vom 13. November 2017 an die Organisation PITEE, in dem die Kommission eine entsprechende Berichtigung vorgenommen habe.

 Zur Zulässigkeit des ersten und des dritten Antrags

15      Die Kommission bestreitet die Zulässigkeit des ersten und des dritten Antrags der Klägerin.

16      Diesen Unzulässigkeitseinreden ist stattzugeben.

17      Zum einen ist nämlich in Bezug auf den ersten, auf die Nichtigerklärung des ursprünglichen Beschlusses über die Zugangsverweigerung gerichteten Antrag lediglich festzustellen, dass nach Art. 8 der Verordnung Nr. 1049/2001 grundsätzlich nur der im Anschluss an einen Zweitantrag im Sinne dieser Bestimmung ergangene Beschluss Rechtswirkungen erzeugen kann, die die Interessen der Person, die Zugang zu bestimmten Dokumenten beantragt, beeinträchtigen können, und somit Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2006, Franchet und Byk/Kommission, T‑391/03 und T‑70/04, EU:T:2006:190, Rn. 48, und vom 23. Januar 2017, Justice & Environment/Kommission, T‑727/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:18, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18      Folglich ist die Klage nur insoweit zulässig, als sie darauf gerichtet ist, den Beschluss C(2017) 5145 final der Kommission vom 17. Juli 2017 (im Folgenden: angefochtener Beschluss) für nichtig zu erklären und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

19      Zum anderen ist in Bezug auf den dritten Antrag, der darauf gerichtet ist, der Kommission aufzuerlegen, der Klägerin die angeforderten Dokumente zugänglich zu machen, darauf hinzuweisen, dass das Gericht im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle aufgrund von Art. 263 AEUV nicht befugt ist, gegenüber den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union Anordnungen zu erlassen, auch wenn sie sich auf die Modalitäten der Durchführung seiner Urteile beziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 1995, Parlament/Rat, C‑21/94, EU:C:1995:220, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. Oktober 2012, Fondation IDIAP/Kommission, T‑286/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:552, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Insoweit kann entgegen dem Vorbringen der Klägerin in der Erwiderung der Umstand, dass das Recht bestimmter Mitgliedstaaten Gerichten, die mit einem Rechtsstreit unter Beteiligung einer Verwaltungsbehörde befasst sind, gestatten kann, eine Anordnung gegen diese zu erlassen, nicht zur Anerkennung eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts führen, der es dem Unionsrichter gestattet, eine Entscheidung zu treffen, die die ihm in Art. 263 AEUV übertragene Befugnis zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit überschreitet, und sich über Art. 266 AEUV hinwegzusetzen, wonach die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen, denen das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die sich aus dem Nichtigkeitsurteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen haben, indem sie gegenüber dem Urheber des für nichtig erklärten Handelns Anordnungen erlassen oder sich zur Rechtmäßigkeit möglichen künftigen Handelns oder Unterlassens dieses Urhebers äußern.

21      Gemäß Art. 13 Abs. 2 EUV hat nämlich jedes Organ nach Maßgabe der ihm durch die Verträge zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen zu handeln, die in den Verträgen festgelegt sind. Die Verträge haben somit ein System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Union geschaffen, das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Union und bei der Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben zuweist; die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts gebietet es, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der übrigen Organe ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 1990, Parlament/Rat, C‑70/88, EU:C:1990:217, Rn. 21 und 22).

22      Folglich sind der erste und der dritte Antrag der Klägerin als unzulässig zurückzuweisen.

 Zur Begründetheit

23      Zur Stützung der Klage macht die Klägerin im Wesentlichen zwei Klagegründe geltend, mit denen sie erstens einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 und zweitens einen Verstoß gegen deren Art. 4 Abs. 2 letzter Satzteil rügt.

 Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001

24      Mit ihrem ersten Klagegrund rügt die Klägerin, der angefochtene Beschluss sei rechtsfehlerhaft, da die Verweigerung des Zugangs zu den angeforderten Dokumenten zu Unrecht auf die in Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahme gestützt und damit begründet werde, dass die Verbreitung dieser Dokumente den Schutz des Zwecks von Untersuchungstätigkeiten, und zwar der im Rahmen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens durchgeführten Tätigkeiten, beeinträchtigen würde.

25      Dieses Verfahren habe zum Ziel, das ungarische Recht möglichst schnell in Einklang mit dem Unionsrecht zu bringen, wobei es sich hier um drei ungarische Gesetze von 2014 handele, die dem Rechtsstaatsprinzip zuwiderliefen und daher von den ungarischen Gerichten nicht angewandt werden dürften, denn sonst läge ein Verstoß gegen Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vor.

26      Um dieses Ziel, das ungarische Recht in Einklang mit dem Unionsrecht zu bringen, zu erreichen, sei es aber nicht angebracht, geheime Verhandlungen zu führen oder ein Klima des Vertrauens zur ungarischen Regierung herzustellen oder aufrechtzuerhalten, vor allem, weil diese Regierung nicht befugt sei, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen die Gerichte gezwungen werden könnten, die Anwendung ungarischer Gesetze zu verweigern, die als unvereinbar mit dem Unionsrecht eingestuft würden.

27      Vielmehr sei eine öffentliche Diskussion erforderlich, um die ungarischen Gerichte dazu zu bringen, mit dem Unionsrecht unvereinbare Gesetze nicht anzuwenden bzw. sich keinen gegen das Unionsrecht verstoßenden Anordnungen zu unterwerfen, so dass die Veröffentlichung der unterschiedlichen Standpunkte der Kommission und der ungarischen Regierung im Rahmen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens gerechtfertigt sei.

28      Zudem könne die Verweigerung der Verbreitung der angeforderten Dokumente nicht mit der Notwendigkeit begründet werden, dass die Möglichkeit der vertraulichen Vorbereitung eines eventuellen künftigen Vertragsverletzungsverfahrens der Kommission gegen Ungarn gewahrt werden müsse, da die ungarische Regierung ihren Standpunkt zu den zentralen Fragen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens in Ungarn bereits weitgehend veröffentlicht habe.

29      Auf jeden Fall zeige schließlich der Umstand, dass ungarische Gerichte den Gerichtshof mit Vorabentscheidungsersuchen zu ähnlichen wie den durch das streitgegenständliche EU-Pilotverfahren aufgeworfenen Fragen befasst hätten und die Kommission entschieden habe, dieses Verfahren bis zu den Vorabentscheidungen des Gerichtshofs auszusetzen, dass die Ziele des Verfahrens nicht mehr erreicht werden könnten, so dass es keinen Grund mehr gebe, seiner Vertraulichkeit Vorrang einzuräumen. Zum einen sei diese Vertraulichkeit nämlich schon wegen der Vorabentscheidungsersuchen, mit denen die Offenlegung der ausgetauschten Dokumente einhergehe, nicht mehr gegeben. Zum anderen zeige die Aussetzung des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens, dass nach Ansicht der Kommission das Tätigwerden des Gerichtshofs notwendig geworden sei, um den Verhandlungen mit Ungarn ein Ende zu setzen.

30      Die Kommission, unterstützt von Ungarn, hält diesen Klagegrund für unbegründet.

31      Das EU-Pilotverfahren ist ein Verfahren der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten, das es der Kommission ermöglichen soll, sich eine Meinung darüber zu bilden, ob in einer bestimmten Frage das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten beachtet und richtig angewandt wird. Diese ab 2008 an die Stelle der informellen Phase der vorprozessualen Phase eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 AEUV getretene Art von Verfahren dient der effizienten Bereinigung etwaiger Verstöße gegen das Unionsrecht, indem nach Möglichkeit die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens vermieden wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Schweden/Kommission, C‑562/14 P, EU:C:2017:356, Rn. 37, 38 und 40 bis 43), kann aber auch zur Einleitung eines solchen Verfahrens führen.

32      Da das EU-Pilotverfahren die Funktion hat, die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 AEUV gegen einen Mitgliedstaat zu vermeiden oder gegebenenfalls vorzubereiten, gilt die für die Dokumente, die während der vorprozessualen Phase eines Vertragsverletzungsverfahrens zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat ausgetauscht werden, bestehende allgemeine Vertraulichkeitsvermutung für ein EU-Pilotverfahren und ist bis zu dem Zeitpunkt gerechtfertigt, zu dem es abgeschlossen und die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens endgültig verworfen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Schweden/Kommission, C‑562/14 P, EU:C:2017:356, Rn. 39 und 45).

33      Die allgemeine Vermutung, nach der es notwendig ist, die Vertraulichkeit der ein EU-Pilotverfahren betreffenden Dokumente zu schützen, besteht unabhängig davon, ob der Antrag auf Zugang genau das betreffende oder die betreffenden Dokumente bezeichnet (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Juli 2016, Sea Handling/Kommission, C‑271/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:557, Rn. 54), und gilt für alle Dokumente des betreffenden EU-Pilotverfahrens, ohne dass die Kommission eine konkrete und individuelle Prüfung dieser Dokumente vornehmen müsste (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Schweden/Kommission, C‑562/14 P, EU:C:2017:356, Rn. 47 und 51).

34      Diese allgemeine Vermutung schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, darzutun, dass sie für ein oder mehrere bestimmte Dokumente dieses Verfahrens nicht gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Schweden/Kommission, C‑562/14 P, EU:C:2017:356, Rn. 46).

35      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass das streitgegenständliche EU‑Pilotverfahren zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses lief.

36      Somit erstreckt sich die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit gemäß Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 aufgrund der Natur dieses Verfahrens grundsätzlich auf alle mit ihm in Zusammenhang stehenden Dokumente. Das Vorbringen der Klägerin, das darauf hinausläuft, das Bestehen dieser Vermutung zu ignorieren, kann daher keinen Erfolg haben.

37      Im Übrigen macht die Klägerin nicht geltend, dass diese Vermutung ausnahmsweise für ganz bestimmte dieses Verfahren betreffende Dokumente nicht gelte.

38      Was schließlich die möglichen Auswirkungen der Aussetzung des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens in Erwartung mehrerer Vorabentscheidungen des Gerichtshofs anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass erstens im Rahmen einer Nichtigkeitsklage die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts der Union grundsätzlich anhand der Sach- und Rechtslage zu beurteilen ist, die bei seinem Erlass bestand. Folglich können Umstände, die nach dem Erlass des Unionsrechtsakts eingetreten sind, bei der Beurteilung seiner Rechtmäßigkeit nicht berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2015, Spanien/Kommission, T‑204/11, EU:T:2015:91, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der angefochtene Beschluss ist jedoch vor der Aussetzung des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens ergangen. Zweitens bedeutet dessen Aussetzung nicht die Einstellung des Verfahrens, so dass alle seine Ziele und infolgedessen auch die damit verbundene allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit fortbestehen. Drittens betreffen die Vorabentscheidungsersuchen, mit denen der Gerichtshof auf Initiative ungarischer Gerichte befasst ist, zwar Fragen zur Auslegung des Unionsrechts, die mit dem Gegenstand des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens in Zusammenhang stehen, da sie bestimmte Vorschriften der Richtlinie 93/13 betreffen. Diese Ersuchen weisen gleichwohl Unterschiede zu den Untersuchungstätigkeiten der Kommission und dem Meinungsaustausch zwischen ihr und Ungarn im Rahmen dieses Verfahrens auf, so dass der öffentliche Charakter bestimmter diese Ersuchen betreffender Handlungen nicht bedeuten kann, dass die im Rahmen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens ausgetauschten Dokumente ihren vertraulichen Charakter verlieren.

39      Was darüber hinaus das Vorbringen anbelangt, die Aussetzung des EU‑Pilotverfahrens wegen der genannten Vorabentscheidungsersuchen zeige, dass nach Ansicht der Kommission ein Tätigwerden des Gerichtshofs notwendig geworden sei, um ihren Verhandlungen mit Ungarn ein Ende zu setzen, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission über ein Ermessen im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2013, LPN und Finnland/Kommission, C‑514/11 P und C‑605/11 P, EU:C:2013:738, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung); dies gilt auch im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens. Dieses Ermessen bezieht sich auch auf die Zweckmäßigkeit der Aussetzung solcher Verfahren. Im Übrigen ist die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung des Unionsrechts und die abschließende Beurteilung der Begründetheit des Standpunkts der Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens, falls sie und der betreffende Mitgliedstaat sich nicht einigen, eine ausreichende Erklärung für die Entscheidung der Kommission, das streitgegenständliche EU‑Pilotverfahren auszusetzen, weil bestimmte für dieses Verfahren relevante Fragen dem Gerichtshof unterbreitet wurden, wie aus dem Schreiben vom 13. November 2017 an die Organisation PITEE hervorgeht. Das Tätigwerden des Gerichtshofs im Rahmen dieser Vorabentscheidungsersuchen hat hinsichtlich des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens somit nur zur Folge, dass bestimmte Rechtsfragen wahrscheinlich geklärt werden, was den weiteren Ablauf dieses Verfahrens erleichtern könnte.

40      Der erste Klagegrund ist folglich als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 letzter Satzteil der Verordnung Nr. 1049/2001

41      Mit ihrem zweiten Klagegrund macht die Klägerin geltend, der angefochtene Beschluss wäre, auch wenn die in Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahme im vorliegenden Fall Anwendung finden könnte, gleichwohl rechtsfehlerhaft, da er das Bestehen eines die Verbreitung der angeforderten Dokumente rechtfertigenden überwiegenden öffentlichen Interesses im Sinne von Art. 4 Abs. 2 letzter Satzteil der Verordnung nicht anerkenne.

42      Dieses überwiegende öffentliche Interesse bestehe in der Notwendigkeit, erstens die Rechtskultur der ungarischen Richter zu verändern, zweitens eine europaweite öffentliche Diskussion herbeizuführen, um die Transparenz der jeweiligen Rechtsposition der ungarischen Regierung und der Kommission zu den Wirkungen von Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zu gewährleisten, drittens potenziell einen Beitrag zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher zu leisten, viertens den Binnenmarkt zu schützen, fünftens die Tätigkeiten der Kommission im Rahmen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens zu kontrollieren, sechstens zur Stärkung der Demokratie in Ungarn beizutragen und siebtens die Vorteile der Mitgliedschaft Ungarns in der Union deutlich zu machen.

43      Die Kommission, unterstützt von Ungarn, hält diesen Klagegrund für unbegründet.

44      Zunächst ist festzustellen, dass zum einen der von der Kommission hervorgehobene Umstand, dass es im streitgegenständlichen EU-Pilotverfahren hauptsächlich um die Vereinbarkeit der ungarischen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 93/13 gehe, die Ausführungen der Klägerin zu Art. 47 der Charta und zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht irrelevant macht; ihre Bedeutung ist von der Kommission verstanden worden, denn sie hat mit Schreiben vom 8. November 2016 mitgeteilt, dass sie im Rahmen dieses EU-Pilotverfahrens die geltend gemachte Unvereinbarkeit der ungarischen Rechtsvorschriften mit diesen Rechtsnormen prüfen werde.

45      Zum anderen kann für die Prüfung der Relevanz der von der Klägerin geltend gemachten Gründe für die Verbreitung nicht unterstellt werden, dass die vom streitgegenständlichen EU-Pilotverfahren betroffenen ungarischen Gesetze gegen Art. 47 der Charta oder Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verstoßen und dass die ungarischen Gerichte ihrer Aufgabe nicht nachkommen, weil sie diese Gesetze anwenden, obwohl sie im Widerspruch zum Unionsrecht stehen, denn dabei handelt es sich um Umstände, die in dem EU-Pilotverfahren u. a. geprüft werden sollen.

46      Dies vorausgeschickt, ist darauf hinzuweisen, dass die allgemeine Vermutung, nach der es notwendig ist, die Vertraulichkeit der ein EU-Pilotverfahren betreffenden Dokumente zu schützen, nicht unwiderlegbar ist, da sie durch den Nachweis eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Verbreitung eines oder mehrerer bestimmter Dokumente widerlegt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Schweden/Kommission, C‑562/14 P, EU:C:2017:356, Rn. 46).

47      Die Anwendung von Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001, soweit er Gründe für die Verweigerung der Verbreitung von Dokumenten vorsieht, die mit dem Schutz gewisser, näher bestimmter Interessen verbunden sind, sofern kein überwiegendes öffentliches Interesse an ihrer Verbreitung besteht, beruht auf einer Abwägung der in einer bestimmten Situation einander gegenüberstehenden Interessen, wobei die Entscheidung, den Zugang zu den betreffenden Dokumenten zu gewähren oder deren Verbreitung zu verweigern, davon abhängt, welches Interesse im konkreten Fall Vorrang haben muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2013, LPN und Finnland/Kommission, C‑514/11 P und C‑605/11 P, EU:C:2013:738, Rn. 42).

48      In diesem Kontext muss eine Person, die sich gegen einen Grund für die Verweigerung der Verbreitung wenden möchte, zum einen ein öffentliches Interesse geltend machen, das Vorrang vor diesem Grund haben kann, und zum anderen gerade nachweisen, dass im gegebenen Fall die Verbreitung der betreffenden Dokumente konkret zur Gewährleistung des Schutzes dieses öffentlichen Interesses beitragen würde, so dass der Grundsatz der Transparenz gegenüber dem Schutz der Interessen, mit denen die Verweigerung der Verbreitung begründet wird, überwiegt, d. h. im vorliegenden Fall dem Schutz des Zwecks der im Rahmen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens durchgeführten Untersuchungstätigkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2017, Justice & Environment/Kommission, T‑727/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:18, Rn. 52). Allgemeine Erwägungen sind hierfür nicht ausreichend (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2017, Justice & Environment/Kommission, T‑727/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:18, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Insbesondere im Licht dieser Erwägungen müssen die Gründe geprüft werden, die die Klägerin als Rechtfertigung dafür anführt, sich über die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit hinwegzusetzen, die grundsätzlich für die ein laufendes EU-Pilotverfahren betreffenden Dokumente gilt.

50      Was erstens die Notwendigkeit anbelangt, die Rechtskultur der ungarischen Richter zu verändern, macht die Klägerin geltend, dass die Verbreitung der angeforderten Dokumente geeignet wäre, diese Richter dazu zu bringen, ihre Aufgaben im Einklang mit ihrer Rolle in einem Rechtsstaat, d. h. in voller Unabhängigkeit, wahrzunehmen, indem sie die Anwendbarkeit von Gesetzen prüften, ohne sich äußerem Druck zu beugen, und, im Fall der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn), ohne Beschlüsse zur Wahrung der Rechtseinheit zu erlassen, um die Entscheidungen anderer Gerichte in eine mit dem Unionsrecht unvereinbare Richtung zu lenken.

51      Hierzu ist festzustellen, dass gewiss ein großes öffentliches Interesse daran besteht, dass die nationalen Gerichte ihre Rolle in Bezug auf die Anwendung und die Einhaltung des Unionsrechts wahrnehmen.

52      Jedoch ist zunächst festzustellen, dass die Notwendigkeit, die angeforderten Dokumente zu verbreiten, um den Schutz dieses von der Klägerin angeführten Interesses zu gewährleisten, hypothetisch ist, da sie auf der Annahme beruht, dass diese Gerichte sich weigerten, mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen, obwohl, wie oben in Rn. 45 ausgeführt, eine solche Annahme nicht als erwiesen angesehen werden kann. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nachgewiesen hat, dass die Verbreitung der angeforderten Dokumente konkret dazu beitragen würde, den Schutz des von ihr angeführten öffentlichen Interesses zu gewährleisten.

53      Sodann ist, falls die Klägerin beabsichtigen sollte, die Verbreitung der angeforderten Dokumente zu erreichen, um hinsichtlich der von ihr aufgeworfenen Fragen selbst die Einhaltung des Unionsrechts in Ungarn zu prüfen, festzustellen, dass es nicht ihr obliegt, zu ermitteln, inwieweit das Unionsrecht von den nationalen Behörden in Anbetracht der in einer bei der Kommission erhobenen Beschwerde dargelegten tatsächlichen Umstände beachtet wird, da die Prüfung der Einhaltung des Unionsrechts durch die Kommission der wirksamste Weg ist, um die betreffenden öffentlichen Interessen zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. September 2014, Spirlea/Kommission, T‑306/12, EU:T:2014:816, Rn. 98).

54      Schließlich würde es sich, selbst wenn die Annahmen der Klägerin der Wirklichkeit entsprächen, immer noch um einen Fall einer Vertragsverletzung des betreffenden Mitgliedstaats handeln, zu deren Beseitigung das streitgegenständliche EU-Pilotverfahren seinem Wesen nach gerade beitragen soll. Folglich kann das von der Klägerin angeführte überwiegende Interesse grundsätzlich keinen Vorrang vor der für Untersuchungstätigkeiten im Rahmen dieses Verfahrens geltenden allgemeinen Vertraulichkeitsvermutung haben, da diese Vermutung selbst dem genannten Interesse dienen würde.

55      Was zweitens die Nützlichkeit der Gewährleistung einer Transparenz der jeweiligen Rechtsposition der ungarischen Regierung und der Kommission zu den Wirkungen von Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK im Hinblick auf die Herbeiführung einer europaweiten Diskussion anbelangt, hebt die Klägerin die zentrale Rolle dieser Bestimmungen für die Demokratie und ergänzend den Umstand hervor, dass das streitgegenständliche EU-Pilotverfahren eine Gelegenheit für die ungarische Regierung sei, ihren Standpunkt in einer anderen Sprache als der ungarischen darzulegen.

56      Hierzu ist festzustellen, dass das angeführte überwiegende Interesse den Grundsätzen entspricht, auf denen die Verordnung Nr. 1049/2001 beruht. Nach der oben in Rn. 48 angeführten Rechtsprechung ist es aber nur dann möglich, sich über einen in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung vorgesehenen Grund für die Verweigerung des Zugangs hinwegzusetzen, wenn das Vorliegen konkreter Umstände dargelegt wird, die dazu führen, dass der Grundsatz der Transparenz im gegebenen Fall besondere Dringlichkeit aufweist, die Vorrang vor den die Verweigerung der Verbreitung der angeforderten Dokumente rechtfertigenden Gründen hat. Die von der Klägerin angeführten allgemeinen Erwägungen zur Nützlichkeit einer breiten öffentlichen Diskussion über die Auslegung von Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK genügen diesem Erfordernis jedoch nicht.

57      Was drittens den Schutz der wirtschaftlichen Interessen einer großen Zahl von Verbrauchern anbelangt, macht die Klägerin geltend, dass die Verbreitung der angeforderten Dokumente es den Verbrauchern, die in Ungarn an Gerichtsverfahren in Bezug auf Kreditverträge in ausländischer Währung beteiligt seien, erlauben würde, die angeforderten Dokumente zu verwenden, um die ungarischen Gerichte von der Notwendigkeit zu überzeugen, die gegen das Unionsrecht verstoßenden ungarischen Gesetze nicht anzuwenden, was angesichts der sehr großen Zahl potenziell betroffener Verbraucher ein überwiegendes öffentliches Interesse sei.

58      Hierzu ist zum einen festzustellen, dass diese Rechtfertigung hypothetisch ist, da sie auf Annahmen beruht, von denen oben in Rn. 45 festgestellt worden ist, dass sie nicht als erwiesen angesehen werden können.

59      Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass das Interesse an der Erleichterung der Ausübung der Rechte Einzelner im Rahmen von Klagen, indem es ihnen ermöglicht wird, Dokumente zu verwenden, um ihre Verteidigung vor den nationalen Gerichten zu erleichtern, ein privates und kein öffentliches Interesse ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juli 2016, Sea Handling/Kommission, C‑271/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:557, Rn. 97 und 99, und vom 25. September 2014, Spirlea/Kommission, T‑306/12, EU:T:2014:816, Rn. 99). Der Umstand, dass die angeforderten Dokumente in sehr vielen Verfahren verwendet werden könnten, ändert an dieser Würdigung nichts, da grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Addition privater Interessen sie in ein öffentliches Interesse verwandelt.

60      Was viertens den Schutz des Binnenmarkts anbelangt, macht die Klägerin geltend, dass die Verbreitung der angeforderten Dokumente diesem Interesse dienen würde, da damit angesichts großer Unterschiede in den Rechtsauffassungen verschiedener Mitgliedstaaten zur Rolle der Legislative und der Judikative ein Beitrag zur Harmonisierung dieser Auffassungen geleistet würde.

61      Zum einen ist jedoch festzustellen, dass die Notwendigkeit, die angeforderten Dokumente zu verbreiten, um den Schutz dieses Interesses zu sichern, hypothetisch ist. Die Behauptung dieser Notwendigkeit beruht nämlich auf der Annahme, dass Unterschiede zwischen den genannten Rechtsauffassungen bestünden, weil in Ungarn, aber auch in anderen Mitgliedstaaten die Legislative in die Vorrechte der Gerichte eingreife und Letztere sich weigerten, gegen Unionsrecht verstoßende nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, obwohl eine solche Annahme, wie oben in Rn. 45 ausgeführt, nicht als erwiesen angesehen werden kann.

62      Zum anderen ist es nach der oben in Rn. 48 angeführten Rechtsprechung nur dann möglich, sich über einen in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehenen Grund für die Verweigerung des Zugangs hinwegzusetzen, wenn das Vorliegen konkreter Umstände dargelegt wird, die dazu führen, dass der Grundsatz der Transparenz im gegebenen Fall besondere Dringlichkeit aufweist, die Vorrang vor den die Verweigerung der Verbreitung der angeforderten Dokumente rechtfertigenden Gründen hat. Die von der Klägerin angeführten allgemeinen Erwägungen zur Nützlichkeit eines Beitrags zur Harmonisierung der Rechtsauffassungen in der Union genügen diesem Erfordernis jedoch nicht.

63      Was fünftens die Kontrolle der Tätigkeiten der Kommission im Rahmen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens anbelangt, macht die Klägerin geltend, dass dieses Verfahren durch eine ungewöhnliche Trägheit der Kommission gekennzeichnet sei, da es auch nach zweieinhalb Jahren nicht abgeschlossen sei und die Kommission überdies keine Stellungnahme zu den aufgeworfenen Rechtsfragen abgegeben habe, so dass die Verbreitung der angeforderten Dokumente zur Verbesserung der Effizienz der Kommission und zur Stärkung ihrer Legitimität beitragen würde.

64      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wenn sie meint, dass ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei, zu beurteilen hat, ob ein Einschreiten gegen diesen Staat zweckmäßig ist, die Bestimmungen zu benennen hat, die er verletzt haben soll, und den Zeitpunkt für die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens gegen ihn zu wählen hat (vgl. Urteil vom 14. November 2013, LPN und Finnland/Kommission, C‑514/11 P und C‑605/11 P, EU:C:2013:738, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich verfügt ein Beschwerdeführer im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht über das Recht, von der Kommission eine Stellungnahme in einem bestimmten Sinne zu verlangen oder die Weigerung der Kommission anzufechten, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat einzuleiten (vgl. Urteil vom 14. November 2013, LPN und Finnland/Kommission, C‑514/11 P und C‑605/11 P, EU:C:2013:738, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65      Diese Erwägungen gelten auch in Bezug auf EU-Pilotverfahren, da sie eine Ausgestaltung der informellen Phase des Vorverfahrens eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Schweden/Kommission, C‑562/14 P, EU:C:2017:356, Rn. 43).

66      Das von der Klägerin zur Rechtfertigung der Verbreitung der angeforderten Dokumente angeführte Ziel, das darin besteht, eine Kontrolle über die Tätigkeit der Kommission im Rahmen des streitgegenständlichen EU-Pilotverfahrens auszuüben, läuft jedoch darauf hinaus, das Bestehen des Ermessens, über das die Kommission im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren und EU‑Pilotverfahren verfügt, in Abrede zu stellen, obwohl die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit, die für alle mit diesen Verfahren zusammenhängenden Dokumente gilt, u. a. gerade die Nützlichkeit der Tätigkeit der Kommission in deren Rahmen schützen soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. November 2013, LPN und Finnland/Kommission, C‑514/11 P und C‑605/11 P, EU:C:2013:738, Rn. 61, 63 und 65, und vom 11. Mai 2017, Schweden/Kommission, C‑562/14 P, EU:C:2017:356, Rn. 40, 43 und 45).

67      Ferner ist hervorzuheben, dass die für die Aufrechterhaltung der Effizienz der Tätigkeit der Kommission im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens notwendige Vertraulichkeit nicht bedeutet, dass diese Tätigkeit dem in Art. 15 Abs. 3 AEUV verankerten und in der Verordnung Nr. 1049/2001 geregelten Recht auf Zugang zu Dokumenten entzogen ist, da die allgemeine Vermutung der Vertraulichkeit der ein solches Verfahren betreffenden Dokumente wegfällt, wenn das Verfahren abgeschlossen ist und die Einleitung eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens endgültig verworfen wird.

68      Zudem geht aus der letztgenannten Erwägung hervor, dass das zusätzliche Vorbringen der Klägerin in der Erwiderung, das den Beschluss der Kommission betrifft, das streitgegenständliche EU-Pilotverfahren im Hinblick auf verschiedene Vorabentscheidungsersuchen zu Fragen in Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Verfahrens im November 2017 auszusetzen – abgesehen davon, dass es sich um einen Umstand handelt, der nach dem angefochtenen Beschluss eingetreten ist –, keinen Einfluss auf den Fortbestand der für die Dokumente dieses Verfahrens geltenden allgemeinen Vermutung der Vertraulichkeit haben kann, da die Aussetzung des Verfahrens seinem Abschluss nicht gleichkommt.

69      Schließlich trägt die Klägerin zum sechsten und zum siebten von ihr angeführten Grund (siehe oben, Rn. 42) vor, die Verbreitung der angeforderten Dokumente sei geeignet, zum einen zur Stärkung der Demokratie beizutragen, da viele Verbraucher, deren Rechte von den ungarischen Gesetzen, auf die das streitgegenständliche EU-Pilotverfahren abziele, berührt würden, ihre Hoffnungen in europafeindliche Parteien setzten, weil sie von den ungarischen Gerichten nicht den in einem Rechtsstaat erwarteten Schutz erhielten, und zum anderen, die Vorteile der Mitgliedschaft Ungarns in der Union deutlich zu machen, da die Verbreitung der angeforderten Dokumente den Verbrauchern zeigen würde, dass die Werte der Union sie vor der Willkür des Staates schützten.

70      Diese beiden Gründe beruhen jedoch zum einen auf Annahmen zur Unvereinbarkeit der ungarischen Gesetze, auf die das streitgegenständliche EU‑Pilotverfahren abzielt, mit dem Unionsrecht, obwohl, wie oben in Rn. 45 ausgeführt, eine solche Annahme nicht als erwiesen angesehen werden kann, und bestehen zum anderen aus allgemeinen Erwägungen. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Gründe im Einklang mit der oben in Rn. 48 angeführten Rechtsprechung dem Nachweis konkreter Umstände entsprechen, die dazu führen, dass der Grundsatz der Transparenz im vorliegenden Fall besondere Dringlichkeit aufweist, die Vorrang vor den die Verweigerung der Verbreitung der angeforderten Dokumente rechtfertigenden Gründen hat.

71      Nach alledem hat die Klägerin nicht nachgewiesen, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung der angeforderten Dokumente besteht.

72      Folglich ist auch der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, so dass die Klage insgesamt abzuweisen ist.

 Kosten

73      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

74      Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

75      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Ungarn trägt daher seine eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Erste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Frau Anikó Pint trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.

3.      Ungarn trägt seine eigenen Kosten.

Pelikánová

Nihoul

Svenningsen

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. Oktober 2018.

Der Kanzler

 

       Die Präsidentin

E. Coulon

 

      I. Pelikánová


*      Verfahrenssprache: Deutsch.