Language of document : ECLI:EU:C:2019:459

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 4. Juni 2019(1)

Verbundene Rechtssachen C609/17 und C610/17

Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry

gegen

Hyvinvointialan liitto ry (C609/17),

Beteiligte:

Fimlab Laboratoriot Oy,

und

Auto- ja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry

gegen

Satamaoperaattorit ry (C610/17),

Beteiligte:

Kemi Shipping Oy

(Vorabentscheidungsersuchen des Työtuomioistuin [Arbeitsgerichtshof, Finnland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 Abs. 1 – Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen – Art. 15 – Günstigere Vorschriften für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer – Während des Jahresurlaubs erkrankter Arbeitnehmer – Verweigerung der Übertragung des Jahresurlaubs, wenn die Nichtübertragung keine Verringerung des Jahresurlaubs auf weniger als vier Wochen bewirkt – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Anwendbarkeit – Unter das Unionsrecht fallender Sachverhalt – Möglichkeit der Geltendmachung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen“






I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung(2) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(3).

2.        Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen – in der Rechtssache TSN (C‑609/17) – dem Terveys- ja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry (Arbeitnehmerverband für das Gesundheits- und Sozialwesen, Finnland)(4) und dem Terveyspalvelualan liitto ry (nunmehr Hyvinvointialan liitto ry [Verband der Unternehmen des Gesundheitswesens, Finnland]) sowie der Fimlab Laboratoriot Oy und – in der Rechtssache AKT (C‑610/17) – dem Auto- ja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry (Arbeitnehmerverband für die Automobil- und Transportbranche, Finnland)(5) und dem Satamaoperaattorit ry (Verband der Hafenbetreiber, Finnland) sowie der Kemi Shipping Oy wegen der Weigerung, zwei Arbeitnehmern, die während eines bezahlten Jahresurlaubs erkrankt waren, eine Übertragung des Urlaubs in Höhe der Gesamtheit oder eines Teils der betreffenden Krankheitstage zu gewähren. Die Besonderheit dieser Vorabentscheidungsersuchen besteht darin, dass der Zeitraum, für den der Jahresurlaub mit den Krankheitstagen zusammenfiel, über dem in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen liegt.

3.        In der Frage, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten unmittelbar geltend gemacht werden kann, haben die Urteile vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth(6), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften(7), eine bedeutende Weiterentwicklung gebracht. Nach einer „Kompensationslogik“(8), mit der sich das Fehlen einer horizontalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien ausgleichen lässt, hat der Gerichtshof anerkannt, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta unmittelbar geltend gemacht werden kann, und damit die Wirksamkeit des Grundrechts auf bezahlten Jahresurlaub gestärkt. Wie der Gerichtshof in diesen Urteilen ausgeführt hat, kann jedoch diese horizontale unmittelbare Wirkung nur in unter das Unionsrecht fallenden Sachverhalten geltend gemacht werden. Was unter Letzterem zu verstehen ist, bedarf indes der Klärung.

4.        In den vorliegenden Rechtssachen muss der Gerichtshof die Bedeutung von Art. 31 Abs. 2 der Charta in Fallgestaltungen klären, in denen die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner entscheiden, den Arbeitnehmern einen bezahlten Jahresurlaub zu gewähren, der über den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Mindesturlaub von vier Wochen hinausgeht, und diesen zusätzlichen Urlaub einer anderen Regelung unterstellen, als sie für den Mindesturlaub von vier Wochen gilt.

5.        Müssen solche nationalen Maßnahmen für einen verstärkten Schutz als außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2003/88 und damit der Charta liegend angesehen werden mit der Folge, dass weder Art. 31 Abs. 2 der Charta noch irgendeine andere ihrer Bestimmungen auf derartige Sachverhalte anwendbar ist? Oder ist vielmehr davon auszugehen, dass solche Maßnahmen, die gemäß der Klausel für einen verstärkten nationalen Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2003/88 erlassen werden, in deren Anwendungsbereich und damit in den der Charta fallen mit der Folge, dass sowohl Art. 31 Abs. 2 der Charta als auch deren übrige Bestimmungen als auf solche Sachverhalte anwendbar anzusehen sind?

6.        Da es in den vorliegenden Rechtssachen um den Anwendungsbereich der Charta geht, betreffen sie somit die Problematik des konstitutionellen Gleichgewichts zwischen der Union und den Mitgliedstaaten(9). In diesen Rechtssachen wird der Gerichtshof insbesondere entscheiden können, ob das in Art. 51 Abs. 1 der Charta enthaltene Kriterium der Durchführung des Rechts der Union durch die Mitgliedstaaten erfüllt ist, wenn diese Maßnahmen für einen verstärkten nationalen Schutz erlassen oder den Sozialpartnern deren Erlass gestatten.

7.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich mich für die Anwendbarkeit der Charta auf Sachverhalte aussprechen, in denen es um derartige Maßnahmen geht. Dafür werde ich den Regelungsgehalt von Art. 31 Abs. 2 der Charta prüfen und das Verhältnis zwischen dieser Bestimmung und dem abgeleiteten Unionsrecht, hier Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, näher bestimmen.

8.        Konkret werde ich dem Gerichtshof in einem ersten Schritt vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Regelungen oder Tarifverträgen nicht entgegensteht, nach denen die Tage bezahlten Jahresurlaubs, die über den in dieser Bestimmung vorgesehenen Mindestzeitraum von vier Wochen hinausgehen, nicht übertragen werden können, wenn sie sich mit Krankheitstagen überschneiden.

9.        In einem zweiten Schritt werde ich die Gründe für meine Auffassung darlegen, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta nichts an diesem Ergebnis ändert. Obwohl nämlich diese Bestimmung meines Erachtens als auf Sachverhalte anwendbar anzusehen ist, wie sie in den Ausgangsverfahren vorliegen, bewirkt sie meiner Ansicht nach nicht, dass den Arbeitnehmern ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eingeräumt wird, der über die vom Unionsgesetzgeber festgelegte Mindestdauer hinausgeht. Zugleich werde ich betonen, dass der Gerichtshof, wenn er in seinen Erwägungen von der Anwendbarkeit der Charta auf Fallgestaltungen ausginge, in denen eine Klausel für einen verstärkten nationalen Schutz durchgeführt wird, klären würde, dass in solchen Fallgestaltungen sämtliche Bestimmungen der Charta zu beachten sind.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

10.      Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2)      Gegenstand dieser Richtlinie sind

a)      … der Mindestjahresurlaub …

…“

11.      Art. 7 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

12.      Art. 15 („Günstigere Vorschriften“) dieser Richtlinie lautet:

„Das Recht der Mitgliedstaaten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten, bleibt unberührt.“

13.      Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Eine Abweichung von Art. 7 der Richtlinie ist jedoch nicht zulässig.

B.      Finnisches Recht

1.      Jahresurlaubsgesetz

14.      Durch das Vuosilomalaki (162/2005) (Jahresurlaubsgesetz [162/2005])(10) vom 18. März 2005 soll u. a. Art. 7 der Richtlinie 2003/88 umgesetzt werden. Nach § 5 Abs. 1 dieses Gesetzes hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf zweieinhalb Werktage Urlaub für jeden vollen Urlaubsbemessungsmonat. Hat das Arbeitsverhältnis bis zum Ende des Urlaubsbemessungsjahrs weniger als ein Jahr ohne Unterbrechung bestanden, hat der Arbeitnehmer jedoch Anspruch auf zwei Tage Urlaub für jeden vollen Urlaubsbemessungsmonat.

15.      Im Urlaubsbemessungsjahr kann es höchstens zwölf volle Urlaubsbemessungsmonate geben. Hat ein Arbeitnehmer in einem Urlaubsbemessungsjahr zwölf volle Urlaubsbemessungsmonate, stehen ihm nach dem Jahresurlaubsgesetz je nach Dauer des Arbeitsverhältnisses entweder 24 oder 30 Werktage Urlaub zu.

16.      Nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 des Jahresurlaubsgesetzes sind Werktage die Wochentage außer Sonntagen, kirchlichen Feiertagen, dem Unabhängigkeitstag, Heiligabend, Mittsommerabend, Ostersamstag und dem 1. Mai. Auf eine Kalenderwoche, in die keiner der genannten Tage fällt, entfallen also sechs Urlaubstage.

17.      Nach § 20 Abs. 2 des Jahresurlaubsgesetzes sind 24 Werktage des Jahresurlaubs während der Urlaubsperiode zu nehmen (Sommerurlaub). Der übrige Urlaub (Winterurlaub) ist spätestens bis zum Beginn der nächsten Urlaubsperiode zu gewähren. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 dieses Gesetzes umfasst die Urlaubsperiode den Zeitraum vom 2. Mai bis einschließlich 30. September.

18.      § 25 Abs. 1 des Jahresurlaubsgesetzes sah in der durch das Laki vuosilomalain muuttamisesta (276/2013) (Gesetz zur Änderung des Jahresurlaubsgesetzes [276/2013]) vom 12. April 2013 geänderten Fassung, die vom 1. Oktober 2013 bis 31. März 2016 in Kraft war, vor:

„Ist ein Arbeitnehmer bei Beginn seines Jahresurlaubs oder eines Teils davon wegen Entbindung, Krankheit oder Unfall arbeitsunfähig, ist der Urlaub auf Antrag des Arbeitnehmers auf einen späteren Zeitpunkt zu übertragen. Der Arbeitnehmer hat auf Antrag auch dann Anspruch auf Übertragung des Urlaubs oder eines Teils davon, wenn bekannt ist, dass er sich während seines Urlaubs einer Behandlung wegen einer Krankheit oder einer sonstigen damit gleichzustellenden Behandlung unterziehen muss, während deren er arbeitsunfähig ist.“

19.      In der durch das Laki vuosilomalain muuttamisesta (182/2016) (Gesetz zur Änderung des Jahresurlaubsgesetzes [182/2016]) vom 18. März 2016 geänderten und am 1. April 2016 in Kraft getretenen Fassung lautet Art. 25 Abs. 2 des Jahresurlaubsgesetzes:

„Beginnt die auf Entbindung, Krankheit oder Unfall beruhende Arbeitsunfähigkeit während des Jahresurlaubs oder eines Teils davon, hat der Arbeitnehmer auf Antrag Anspruch auf Übertragung der in den Jahresurlaub fallenden Tage der Arbeitsunfähigkeit, soweit sie sechs Urlaubstage überschreiten. Die vorstehend genannten Karenztage dürfen den Anspruch des Arbeitnehmers auf vier Wochen Jahresurlaub nicht mindern.“

2.      Anwendbare Tarifverträge

20.      In Finnland ist durch Tarifverträge häufig längerer Urlaub vereinbart als nach dem Jahresurlaubsgesetz vorgesehen. So verhält es sich auch bei dem zwischen dem Verband der Unternehmen des Gesundheitswesens und TSN für den Zeitraum vom 1. März 2014 bis 31. Januar 2017 geschlossenen Tarifvertrag für das Gesundheitswesen (im Folgenden: Tarifvertrag für das Gesundheitswesen) und bei dem zwischen dem Verband der Hafenbetreiber und AKT für den Zeitraum vom 1. Februar 2014 bis 31. Januar 2017 geschlossenen Tarifvertrag für die Verladebranche (im Folgenden: Tarifvertrag für die Verladebranche).

21.      Nach § 16 Abs. 1 des Tarifvertrags für das Gesundheitswesen „bestimmt sich [der Jahresurlaub] nach dem Jahresurlaubsgesetz und den nachfolgenden Bestimmungen“. Nach Art. 16 Abs. 7 „wird [der Jahresurlaub] gemäß dem Jahresurlaubsgesetz gewährt“.

22.      Nach § 10 Abs. 1 und 2 des Tarifvertrags für die Verladebranche „bestimmt sich [die Länge des Jahresurlaubs eines Arbeitnehmers] nach dem geltenden Jahresurlaubsgesetz“ und „wird [der Jahresurlaub] nach dem Jahresurlaubsgesetz gewährt, wenn nichts anderes vereinbart ist“.

23.      Gemäß den in den beiden vorstehenden Nummern genannten Tarifvertragsbestimmungen wurden auf die Übertragung des Jahresurlaubs wegen Arbeitsunfähigkeit die einschlägigen Bestimmungen des jeweils geltenden Jahresurlaubsgesetzes angewandt.

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache TSN (C609/17)

24.      Frau Marika Luoma ist seit dem 14. November 2011 in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als Laborassistentin bei Fimlab Laboratoriot beschäftigt.

25.      Nach dem Tarifvertrag für das Gesundheitswesen standen Frau Luoma aufgrund der Dauer ihres Arbeitsverhältnisses für das am 31. März 2015 abgelaufene Urlaubsbemessungsjahr 42 Werktage, d. h. sieben Wochen bezahlter Jahresurlaub zu.

26.      Nachdem ihr für die Zeit vom Montag, 7. September 2015, bis Sonntag, 13. September 2015, sechs Tage Jahresurlaub bewilligt worden waren, teilte sie ihrem Arbeitgeber am 10. August 2015 mit, dass sie sich am 2. September 2015 einer Operation unterziehen müsse, und beantragte, ihren Jahresurlaub wegen des durch die Operation bedingten Krankheitsurlaubs auf einen späteren Zeitpunkt zu übertragen. Nach der Operation dauerte ihr Krankheitsurlaub bis zum 23. September 2015. Von dem ihr zustehenden Jahresurlaub von 42 Werktagen hatte Frau Luoma bereits 22 Tage, d. h. drei Wochen und vier Werktage, genommen. Fimlab Laboratoriot übertrug die noch auf dem Jahresurlaubsgesetz beruhenden ersten beiden Urlaubstage auf einen späteren Zeitpunkt, nicht aber die vier verbliebenen Urlaubstage, die sich aus dem Tarifvertrag für das Gesundheitswesen ergaben, und stützte sich dafür auf Art. 16 Abs. 1 und 7 dieses Tarifvertrags sowie Art. 25 Abs. 1 des Jahresurlaubsgesetzes in der zur entscheidungserheblichen Zeit geltenden Fassung.

27.      TSN erhob in seiner Eigenschaft als repräsentative Arbeitnehmerorganisation und Unterzeichner des Tarifvertrags für das Gesundheitswesen bei dem Työtuomioistuin (Arbeitsgerichtshof, Finnland) Klage auf Feststellung, dass Frau Luoma wegen ihrer Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Übertragung des ihr aufgrund dieses Tarifvertrags zustehenden Urlaubs für die Zeit zwischen dem 9. und dem 13. September 2015 auf einen späteren Zeitpunkt hat. Nach Ansicht von TSN läuft die Verweigerung der Urlaubsübertragung durch den Arbeitgeber Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta zuwider.

28.      Dem halten der Verband der Unternehmen des Gesundheitswesens, eine repräsentative Arbeitgeberorganisation, und Fimlab Laboratoriot entgegen, eine solche Verweigerung verstoße nicht gegen die genannten Bestimmungen des Unionsrechts, denn diese seien nicht anwendbar auf den Teil des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, der durch das nationale Recht oder durch Tarifverträge gewährleistet werde und über den in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorgeschriebenen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hinausgehe.

29.      Das vorlegende Gericht, das sich in dieser Hinsicht zum einen auf die Urteile vom 3. Mai 2012, Neidel(11), und vom 20. Juli 2016, Maschek(12), und zum anderen auf die Urteile vom 19. September 2013, Kommission/Strack (Überprüfung)(13), und vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn(14), bezieht, führt aus, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Antwort auf die Frage ableiten lasse, ob die Anwendung von Art. 25 Abs. 1 des Jahresurlaubsgesetzes, im vorliegenden Fall als Bestandteil des Tarifvertrags für das Gesundheitswesen, angesichts dessen, dass diese Bestimmung den Anspruch auf Übertragung des Jahresurlaubs auf den Urlaub beschränke, der einem Arbeitnehmer aufgrund des Jahresurlaubsgesetzes zustehe, unter Ausschluss des aufgrund eines Tarifvertrags zustehenden, über die Dauer des gesetzlichen Jahresurlaubs hinausgehenden Urlaubs, im Einklang mit den Anforderungen aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta stehe.

30.      Zu der letztgenannten Bestimmung fragt sich das vorlegende Gericht ferner, ob sie eine horizontale unmittelbare Wirkung in einem Rechtsstreit zwischen Privaten haben kann.

31.      Der Työtuomioistuin (Arbeitsgerichtshof) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer innerstaatlichen Bestimmung in einem Tarifvertrag oder deren Auslegung entgegen, wonach ein Arbeitnehmer, der bei Beginn seines Jahresurlaubs oder eines Teils davon arbeitsunfähig ist, ungeachtet seines Antrags keinen Anspruch auf Übertragung eines in den betreffenden Zeitraum fallenden, ihm nach dem Tarifvertrag zustehenden Urlaubs hat, wenn die Nichtübertragung des tarifvertraglichen Urlaubs den Anspruch des Arbeitnehmers auf vier Wochen Jahresurlaub nicht mindert?

2.      Hat Art. 31 Abs. 2 der Charta unmittelbare Rechtswirkung in einem Arbeitsverhältnis zwischen privaten Rechtssubjekten, d. h. horizontale unmittelbare Wirkung?

3.      Schützt Art. 31 Abs. 2 der Charta den erworbenen Urlaub, soweit die Dauer des Urlaubs den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Mindestjahresurlaub von vier Wochen überschreitet, und steht diese Bestimmung der Charta einer innerstaatlichen Bestimmung in einem Tarifvertrag oder deren Auslegung entgegen, wonach ein Arbeitnehmer, der bei Beginn seines Jahresurlaubs oder eines Teils davon arbeitsunfähig ist, ungeachtet seines Antrags keinen Anspruch auf Übertragung eines in den betreffenden Zeitraum fallenden, ihm nach dem Tarifvertrag zustehenden Urlaubs hat, wenn die Nichtübertragung des tarifvertraglichen Urlaubs den Anspruch des Arbeitnehmers auf vier Wochen Jahresurlaub nicht mindert?

B.      Rechtssache AKT (C610/17)

32.      Herr Tapio Keränen war bei Kemi Shipping beschäftigt.

33.      Nach dem Tarifvertrag für die Verladebranche standen ihm für das am 31. März 2016 abgelaufene Urlaubsbemessungsjahr 30 Werktage bezahlter Jahresurlaub zu.

34.      Nach Beginn seines Jahresurlaubs am 22. August 2016 erkrankte Herr Keränen am 29. August 2016. Der von ihm bei der Arbeitsgesundheitsfürsorge aufgesuchte Arzt schrieb ihn für die Zeit vom 29. August 2016 bis 4. September 2016 krank. Den Antrag von Herrn Keränen, seinen Jahresurlaub demgemäß in Höhe von sechs Werktagen zu übertragen, lehnte Kemi Shipping unter Berufung auf Art. 10 Abs. 1 und 2 des Tarifvertrags für die Verladebranche und Art. 25 des Jahresurlaubsgesetzes in der durch das Gesetz zur Änderung des Jahresurlaubsgesetzes (182/2016) geänderten Fassung ab und rechnete diese sechs Krankheitstage auf den bezahlten Jahresurlaub von Herrn Keränen an.

35.      AKT, eine repräsentative Arbeitnehmerorganisation und Unterzeichner des Tarifvertrags für die Verladebranche, erhob beim Työtuomioistuin (Arbeitsgerichtshof) Klage auf Feststellung, dass die Anwendung von Art. 10 Abs. 1 und 2 dieses Tarifvertrags nicht zur Anwendung von Art. 25 Abs. 2 des Jahresurlaubsgesetzes führen kann, da die letztgenannte Bestimmung Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta zuwiderlaufe.

36.      Dem halten der Verband der Hafenbetreiber, eine repräsentative Arbeitgeberorganisation, und Kemi Shipping entgegen, Art. 25 Abs. 2 des Jahresurlaubsgesetzes verstoße aus den in Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen nicht gegen diese Bestimmungen des Unionsrechts.

37.      Aus denselben Gründen, wie es sie in der Vorlageentscheidung in der Rechtssache TSN (C‑609/17) dargelegt hat, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Antwort auf die Frage ableiten lasse, ob die Anwendung von Art. 25 Abs. 2 des Jahresurlaubsgesetzes, wie im vorliegenden Fall als Bestandteil des Tarifvertrags für das Gesundheitswesen, im Einklang mit den Anforderungen aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta stehe, weil sie zur Folge habe, dass ein Arbeitnehmer, dessen krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit während des Jahresurlaubs oder eines Teils davon beginne, ungeachtet seines Antrags keinen Anspruch auf Übertragung der in den Jahresurlaub fallenden ersten sechs Tage der Arbeitsunfähigkeit habe, wenn diese Karenztage den Anspruch des Arbeitnehmers auf vier Wochen Jahresurlaub nicht minderten.

38.      Der Työtuomioistuin (Arbeitsgerichtshof) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer innerstaatlichen Bestimmung in einem Tarifvertrag oder deren Auslegung entgegen, wonach ein Arbeitnehmer, dessen krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit während des Jahresurlaubs oder eines Teils davon beginnt, ungeachtet seines Antrags keinen Anspruch auf Übertragung der in den Jahresurlaub fallenden ersten sechs Tage der Arbeitsunfähigkeit hat, wenn diese Karenztage den Anspruch des Arbeitnehmers auf vier Wochen Jahresurlaub nicht mindern?

2.      Hat Art. 31 Abs. 2 der Charta unmittelbare Rechtswirkung in einem Arbeitsverhältnis zwischen privaten Rechtssubjekten, d. h. horizontale unmittelbare Wirkung?

3.      Schützt Art. 31 Abs. 2 der Charta den erworbenen Urlaub, soweit die Dauer des Urlaubs den in Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie vorgesehenen Mindestjahresurlaub von vier Wochen überschreitet, und steht diese Bestimmung der Charta einer innerstaatlichen Bestimmung in einem Tarifvertrag oder deren Auslegung entgegen, wonach ein Arbeitnehmer, dessen krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit während des Jahresurlaubs oder eines Teils davon beginnt, ungeachtet seines Antrags keinen Anspruch auf Übertragung der in den Jahresurlaub fallenden ersten sechs Tage der Arbeitsunfähigkeit hat, wenn diese Karenztage den Anspruch des Arbeitnehmers auf vier Wochen Jahresurlaub nicht mindern?

IV.    Würdigung

A.      Zur ersten und zur dritten Vorlagefrage

39.      Mit der ersten und der dritten Vorlagefrage in diesen beiden verbundenen Rechtssachen, die meines Erachtens zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Regelungen oder Tarifverträgen wie den in den Ausgangsverfahren betroffenen, nach denen die Tage bezahlten Jahresurlaubs, die über den in dieser Bestimmung vorgesehenen Mindestzeitraum von vier Wochen hinausgehen, nicht übertragen werden können, wenn sie sich mit Krankheitstagen überschneiden.

1.      Zur Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88

40.      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass schon nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 – von dem diese Richtlinie keine Abweichung zulässt – jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat, ein Anspruch, der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist(15). Dieser jedem Arbeitnehmer zustehende Anspruch ist in Art. 31 Abs. 2 der Charta, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert(16).

41.      Der Zweck des in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 jedem Arbeitnehmer gewährleisteten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub besteht dem Gerichtshof zufolge darin, es dem Arbeitnehmer zu „ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen“(17).

42.      Dieser Zweck, „durch den sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von anderen Arten des Urlaubs mit anderen Zwecken unterscheidet, beruht auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Referenzzeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Das Ziel, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen, setzt nämlich voraus, dass dieser Arbeitnehmer eine Tätigkeit ausgeübt hat, die es zu dem in der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit rechtfertigt, dass er über einen Zeitraum der Erholung, der Entspannung und der Freizeit verfügt. Daher sind die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub grundsätzlich anhand der Zeiträume der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeit zu berechnen“(18).

43.      Demzufolge kann ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 „nur für die Zeiträume erwerben …, in denen er tatsächlich gearbeitet hat“(19).

44.      Im Zuge der ihm vorgelegten Rechtssachen hat der Gerichtshof eine Rechtsprechung entwickelt, deren gemeinsames Merkmal es ist, den Arbeitnehmern die wirksame Inanspruchnahme der Ruhe- und Erholungszeiten zu gewährleisten, die ihnen nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 zustehen. So müssen sie z. B. während dieser Zeiten in den Genuss wirtschaftlicher Bedingungen kommen, die mit denen vergleichbar sind, die ihnen bei der Ausübung ihrer Arbeit zugutekommen(20).

45.      Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass „ein Mitgliedstaat in bestimmten Fällen, in denen ein Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, z. B. weil er wegen einer ordnungsgemäß belegten Krankheit fehlt, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von der Voraussetzung abhängig machen [kann], dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat … In Bezug auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sind Arbeitnehmer, die wegen einer Krankschreibung während des Bezugszeitraums der Arbeit ferngeblieben sind, und solche, die während dieses Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben, somit gleichgestellt“(21).

46.      Diese Rechtsprechung, die auf das Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a.(22), zurückgeht, bedeutet, dass die betroffenen Arbeitnehmer berechtigt sind, ihren bezahlten Jahresurlaub später zu nehmen, wenn dieser mit einem Zeitraum des Krankheitsurlaubs zusammenfällt.

47.      Dem Gerichtshof zufolge ist somit „im Fall des Überlappens eines Jahresurlaubs und eines Krankheitsurlaubs Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen …, dass er einzelstaatlichen Bestimmungen oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub mit Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums erlischt, wenn sich der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon im Krankheitsurlaub befand und es ihm deshalb tatsächlich nicht möglich war, diesen Anspruch wahrzunehmen“(23).

48.      Der Gerichtshof hat nämlich befunden, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, „der darin liegt, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen“, einem anderen Zweck dient als der Anspruch auf Krankheitsurlaub, „der dem Arbeitnehmer die Genesung von einer Krankheit ermöglichen soll“(24).

49.      In Anbetracht dieser unterschiedlichen Zwecke der beiden Urlaubsarten ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass „ein Arbeitnehmer, der sich während eines im Voraus festgelegten bezahlten Jahresurlaubs im Krankheitsurlaub befindet, berechtigt ist, den Jahresurlaub auf seinen Antrag zu einer anderen als der mit dem Krankheitsurlaub zusammenfallenden Zeit zu nehmen, damit er ihn tatsächlich in Anspruch nehmen kann“(25).

50.      Die Überschneidung eines Krankheitsurlaubs mit einem bezahlten Jahresurlaub ist somit nicht geeignet, den Arbeitnehmer am Genuss des ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaubs zu einem späteren Zeitpunkt zu hindern. Ein Arbeitnehmer, der während des ursprünglich festgelegten Jahresurlaubs im Krankheitsurlaub ist, ist berechtigt, nach dessen Ende seinen Jahresurlaub zu einer anderen als der ursprünglich festgelegten Zeit zu nehmen. Der Gerichtshof hat „in Bezug auf die Festlegung dieses neuen Zeitraums für den Jahresurlaub, dessen Dauer der Überschneidung des zunächst vorgesehenen Jahresurlaubs mit dem Krankheitsurlaub entspricht“, zudem entschieden, dass „diese den auf die Festlegung des Arbeitnehmerurlaubs anwendbaren Bestimmungen und Verfahren des nationalen Rechts unterliegt, wobei den verschiedenen widerstreitenden Interessen, insbesondere zwingenden Gründen des Unternehmensinteresses, Rechnung zu tragen ist“(26).

51.      Zu beachten ist allerdings, dass diese Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergangen ist und demnach nur den Anspruch auf den bezahlten Jahresurlaub betrifft, den diese Bestimmung den Arbeitnehmern zuerkennt. Gleiches gilt im Übrigen für die anderen vom Gerichtshof entwickelten Regeln, wie etwa die, dass die Arbeitnehmer während des ihnen durch diese Bestimmung gewährleisteten Zeitraums des Jahresurlaubs einen Betrag erhalten müssen, der ihrem gewöhnlichen Arbeitsentgelt entspricht(27).

52.      Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 soll also nur den harten Kern des Mindestschutzes gewährleisten, den der Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen bildet, allerdings unter dem Vorbehalt, dass der Arbeitnehmer während eines bestimmten Zeitraums tatsächlich gearbeitet und so einen solchen Anspruch für einen solchen Zeitraum erworben hat. Ist dagegen ein Zeitraum zusätzlichen bezahlten Jahresurlaubs betroffen, der einem Arbeitnehmer nach nationalem Recht zusteht, können in nationalen Regelungen oder in Tarifverträgen Voraussetzungen für den Erwerb oder das Erlöschen eines solchen Urlaubs festgelegt werden, die sich von den aus der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 folgenden Schutzregeln unterscheiden(28).

53.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in Rede stehenden nationalen Regelungen oder Tarifverträge als Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 zuwiderlaufend anzusehen gewesen wären, wenn die den hier betroffenen Arbeitnehmern verweigerte Übertragung bezahlten Jahresurlaubs sich auf Tage solchen Urlaubs bezogen hätten, die in den von dieser Bestimmung gewährleisteten Mindestzeitraum von vier Wochen fielen. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass es in beiden Ausgangsverfahren um bezahlten Jahresurlaub geht, der nicht übertragen werden konnte, obwohl die betroffenen Arbeitnehmer wegen des in den bezahlten Jahresurlaub fallenden Krankheitsurlaubs nicht tatsächlich in den Genuss des Jahresurlaubs gekommen waren. Der Krankheitsurlaub war in beiden Fällen von kurzer Dauer, so dass sich die Frage der zeitlichen Obergrenze für eine Übertragung bezahlten Jahresurlaubs, die gegebenenfalls in einem Zusammenhang auftreten kann, der durch lange krankheitsbedingte Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers gekennzeichnet ist(29), im vorliegenden Fall nicht stellt.

54.      Berührt dagegen die Überschneidung eines Krankheitsurlaubs mit einem Jahresurlaub nicht den durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 geschützten Mindestzeitraum von vier Wochen, sondern einen darüber hinausgehenden Zeitraum bezahlten Jahresurlaubs, läuft es dieser Bestimmung nicht zuwider, wenn sich aus einer nationalen Regelung oder einem Tarifvertrag ergibt, dass dieser Urlaub nicht später genommen werden kann. Denn bei der Erhöhung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub über das von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 verlangte Minimum hinaus handelt es sich um eine für die Arbeitnehmer günstige Maßnahme, die über die Mindestanforderungen dieser Vorschrift hinausgeht und damit nicht durch sie geregelt wird(30).

55.      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits mehrfach anerkannt hat, dass die Mitgliedstaaten über den durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gewährleisteten harten Kern des Mindestschutzes hinausgehen können.

56.      So ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Richtlinie 2003/88 nicht „nationalen Bestimmungen entgegensteht, „die einen Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub von mehr als vier Wochen vorsehen, der unter den in diesen nationalen Bestimmungen niedergelegten Bedingungen für die Inanspruchnahme und Gewährung eingeräumt wird“(31).

57.      Der Gerichtshof hat diese Erwägung mehrfach darauf gestützt, dass sich die Richtlinie 2003/88 nach dem ausdrücklichen Wortlaut ihrer Art. 1 Abs. 1 und 2 Buchst. a, Art. 7 Abs. 1 und Art. 15 auf die Aufstellung von Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung beschränkt und das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lässt, für den Schutz der Arbeitnehmer günstigere nationale Bestimmungen anzuwenden(32).

58.      Daraus leite ich zum einen ab, dass es Sache der Mitgliedstaaten und/oder der Sozialpartner ist, zu entscheiden, ob sie den Arbeitnehmern zusätzlich zu dem in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen weiteren bezahlten Jahresurlaub gewähren oder nicht. Zum anderen ist es ihre Sache, die Bedingungen für die Gewährung und das Erlöschen dieses zusätzlichen Urlaubs festzulegen, die sich von den Schutzregeln unterscheiden können, die der Gerichtshof hinsichtlich des durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gewährleisteten bezahlten Mindestjahresurlaubs von vier Wochen entwickelt hat. Somit können sich die Modalitäten der Übertragung des Jahresurlaubs danach unterscheiden, ob es sich um den durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 geschützten Mindestjahresurlaub handelt oder nicht.

59.      Zu beachten ist jedoch, dass die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner, wenn sie entscheiden, von ihrem Recht aus Art. 15 der Richtlinie 2003/88 Gebrauch zu machen, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere nationale Bestimmungen anzuwenden, und sich damit diesem Ziel verpflichtet zeigen, weiter das Unionsrecht zu beachten haben. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner, wenn sie über den in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie definierten harten Kern des Mindestschutzes hinausgehen, in einen Rechtsraum eintreten, in dem sie wieder völlig frei sind. In diesem Sinne muss die Aussage, dass es den Mitgliedstaaten „freisteht, in ihrem jeweiligen nationalen Recht Regelungen zu treffen, die günstigere Arbeits- und Ruhezeiten für Arbeitnehmer vorsehen als die in der Richtlinie festgelegten“(33), nuanciert und durch die Feststellung ergänzt werden, dass es sich dabei um eine Regeln unterworfene Freiheit handelt.

60.      Wie der Gerichtshof nämlich im Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein(34), ausgeführt hat, dürfen die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner, wenn sie für die Arbeitnehmer günstigere Maßnahmen erlassen, im vorliegenden Fall in Form der Gewährung von Urlaubstagen über den Mindestzeitraum von vier Wochen hinaus, nicht zugleich die unionsrechtlichen Schutzregeln beeinträchtigen, die im Rahmen dieses Mindestzeitraums gelten. In der genannten Rechtssache konnten sich die Sozialpartner somit nicht darauf, dass sie den Arbeitnehmern mehr Urlaubstage gewährten, berufen, um den Umstand zu kompensieren, dass diese während des durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 geschützten Mindestzeitraums nicht ihr gewöhnliches Arbeitsentgelt erhielten.

61.      So hindert dem Gerichtshof zufolge „die Richtlinie 2003/88 zwar … die Sozialpartner nicht daran, durch einen auf nationalem Recht basierenden Tarifvertrag Regeln einzuführen, die allgemein zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer beitragen sollen, die Durchführungsmodalitäten dieser Regeln [müssen] aber die sich aus der Richtlinie ergebenden Grenzen einhalten“(35). Diese günstigen Maßnahmen, „die über die Mindestanforderungen dieser Vorschrift hinausgehen und damit nicht durch sie geregelt werden[,] können nicht dazu dienen, die für den Arbeitnehmer negative Wirkung einer Kürzung des Urlaubsentgelts zu kompensieren; andernfalls würde das nach [Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88] bestehende Recht auf bezahlten Jahresurlaub beeinträchtigt, wozu als integraler Bestandteil das Recht des Arbeitnehmers gehört, während des ihm für Erholung und Entspannung zur Verfügung stehenden Zeitraums in den Genuss wirtschaftlicher Bedingungen zu kommen, die mit denen vergleichbar sind, die die Ausübung seiner Arbeit betreffen“(36).

62.      In einer derartigen Situation beeinträchtigt die für die Arbeitnehmer mit der Gewährung von mehr Urlaubstagen auf den ersten Blick günstigere Maßnahme in Wirklichkeit den durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gewährleisteten harten Kern des Mindestschutzes, weil sie die Schutzregel berührt, kraft deren ein Arbeitnehmer für die Dauer des ihm nach dieser Bestimmung zustehenden Mindestjahresurlaubs sein gewöhnliches Arbeitsentgelt erhalten muss. Aus diesem Grund ist eine solche Maßnahme als dieser Bestimmung zuwiderlaufend anzusehen(37).

63.      In den vorliegenden Rechtssachen wird nicht vorgebracht, dass die in Rede stehenden nationalen Regelungen oder Tarifverträge den durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gewährleisteten harten Kern des Mindestschutzes beeinträchtigten. In diesem Stadium meiner Untersuchung lässt sich also sagen, dass diese nationalen Regelungen oder diese Tarifverträge ohne Verstoß gegen die genannte Bestimmung vorsehen können, dass die Tage bezahlten Jahresurlaubs, die über den durch diese Bestimmung geschützten Mindestzeitraum von vier Wochen hinausgehen, im Fall einer Überschneidung mit Krankheitsurlaubstagen nicht übertragen werden können.

64.      Zu prüfen bleibt, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta zu einem anderen Ergebnis führen kann. Dies ist Gegenstand der dritten Frage des vorlegenden Gerichts.

2.      Zur Auslegung von Art. 31 Abs. 2 der Charta

65.      Die dritte Vorlagefrage geht dahin, ob ein Arbeitnehmer auf der Grundlage von Art. 31 Abs. 2 der Charta einen Schutz des Anspruchs auf einen bezahlten Jahresurlaub verlangen kann, der über das hinausgeht, was durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 gewährleistet wird.

66.      Genauer gesagt geht es in den vorliegenden Rechtssachen darum, ob der Grundsatz, dass bei einem Zusammenfallen von Krankheitsurlaub mit bezahltem Jahresurlaub Letzterer auf später übertragbar sein muss, unter Berufung auf Art. 31 Abs. 2 der Charta über die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Dauer von vier Wochen hinaus erstreckt werden kann.

67.      Schon hier möchte ich sagen, dass diese Frage meines Erachtens zu verneinen ist. Die Schwierigkeit liegt jedoch in der Wahl des rechtlichen Gedankengangs, der zu dieser Antwort führt. Zwei Wege kommen dafür in Betracht.

68.      Entweder ist davon auszugehen, dass die Charta nicht anwendbar auf eine Fallgestaltung ist, in der die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner entscheiden, den Arbeitnehmern Tage bezahlten Jahresurlaubs über den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Mindesturlaub von vier Wochen hinaus zu gewähren, und diese zusätzlichen Urlaubstage einer Sonderregelung u. a. hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit im Fall einer Überschneidung mit Krankheitsurlaubstagen unterstellen.

69.      Oder man nimmt an, dass die Charta sehr wohl auf einen solchen Fall der Schaffung eines verstärkten nationalen Schutzes anwendbar ist, dass aber Art. 31 Abs. 2 der Charta nur den harten Kern des Mindestschutzes, wie ihn der Unionsgesetzgeber vorgesehen hat, schützen soll, im vorliegenden Fall also einen bezahlten Jahresurlaub von mindestens vier Wochen. Daraus folgt, dass diese Bestimmung die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner nicht daran hindert, die zusätzlichen Tage bezahlten Jahresurlaubs anderen Regeln zu unterstellen, als sie für den vierwöchigen Mindesturlaub gelten, und zwar auch hinsichtlich der Übertragung dieser Tage, wenn sie mit Krankheitsurlaubstagen zusammenfallen.

70.      Es ist darauf hinzuweisen, dass dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht nur als Grundsatz des Sozialrechts der Union besondere Bedeutung zukommt, sondern dass er auch ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta, der Art. 6 Abs. 1 EUV den gleichen rechtlichen Rang wie den Verträgen zuerkennt, verankert ist(38).

71.      Die auf diese Weise in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte finden nun aber in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung(39).

72.      Laut Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.

73.      Nach Art. 6 Abs. 1 EUV werden zudem „[d]urch die Bestimmungen der Charta … die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert“. Ebenso heißt es in Art. 51 Abs. 2 der Charta, dass diese „den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus[dehnt] und … weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union [begründet] noch … die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben [ändert]“.

74.      Angesichts dessen kann Art. 31 Abs. 2 der Charta in den Ausgangsverfahren nur Anwendung finden, wenn nachgewiesen werden kann, dass mit den hier in Rede stehenden nationalen Regelungen oder Tarifverträgen die Richtlinie 2003/88 durchgeführt wird.

75.      Dafür muss festgestellt werden, ob der Erlass von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Bestimmungen durch die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner gemäß Art. 15 der Richtlinie 2003/88 eine Durchführung dieser Richtlinie darstellt.

76.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist, „um festzustellen, ob eine nationale Maßnahme die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta betrifft, … u. a. zu prüfen, ob mit der fraglichen nationalen Regelung die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“(40).

77.      Wie vorstehend bereits skizziert, stehen sich bezüglich der Einstufung nationaler Maßnahmen wie der hier fraglichen als Durchführung des Unionsrechts zwei Thesen gegenüber.

78.      Nach der ersten These grenzt Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 den Bereich der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ab, nämlich die nötigen Maßnahmen zu treffen, damit alle Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhalten. Wenn die Mitgliedstaaten für die Arbeitnehmer günstigere Maßnahmen erlassen, wozu sie nach Art. 15 der Richtlinie 2003/88 berechtigt sind, gehen sie über diesen Bereich hinaus und verlassen damit den Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Daher kann nicht gesagt werden, dass sie diese Richtlinie durchführen. Folglich ist die Charta gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 auf einen solchen Fall nicht anwendbar. Mit anderen Worten kann die Charta, da es sich um eine nicht unionsrechtlich geregelte Situation handelt, keine Anwendung finden. Da keine Durchführung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten vorliegt, ist der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 31 Abs. 2 oder irgendeiner anderen Bestimmung der Charta nicht zuständig(41). Würde jedoch festgestellt, dass eine über den harten Kern des Mindestschutzes hinausgehende nationale Regelung eine Norm des Unionsrechts verletzt, träte sie wieder in den vom Unionsrecht erfassten normativen Bereich ein und unterläge damit der Anwendung der Charta.

79.      Diese erste These hat ihre Wurzeln in bestimmten Urteilen des Gerichtshofs, die von dessen Zurückhaltung zeugen, nationale Maßnahmen, die über den mit einer Richtlinie festgelegten harten Kern eines Mindestschutzes hinausgehen, der Beachtung des Unionsrechts zu unterstellen(42).

80.      Diese Rechtsprechungslinie hat ihre Fortsetzung im Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a.(43), gefunden. In dieser Rechtssache hatte der Gerichtshof die Tragweite einer Art. 15 der Richtlinie 2003/88 vergleichbaren Bestimmung zu beurteilen, und zwar von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers(44), wonach diese Richtlinie „nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten ein[schränkt], für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen“.

81.      Nach der Feststellung, dass die in der Richtlinie 2008/94 aufgestellte Verpflichtung zur Gewährleistung eines Mindestschutzes der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht berührt war, befand der Gerichtshof, dass in Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie „nur festgestellt [wird]“, dass diese Richtlinie nicht die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten einschränkt, die Arbeitnehmer stärker schützende günstigere Bestimmungen zu erlassen(45). Der Gerichtshof führte aus, dass „[a]ngesichts ihres Wortlauts … diese Bestimmung, die in Kapitel V (,Allgemeine Bestimmungen und Schlussbestimmungen‘) enthalten ist, den Mitgliedstaaten keine im Recht der Union begründete Rechtsetzungsbefugnis [verleiht], sondern … sich im Unterschied zu den in den Kapiteln I und II der Richtlinie vorgesehenen Befugnissen darauf [beschränkt], die nach nationalem Recht bestehende Befugnis der Mitgliedstaaten anzuerkennen, solche günstigeren Bestimmungen außerhalb der mit dieser Richtlinie festgelegten Regelung vorzusehen“(46). Daraus folgerte der Gerichtshof, dass „bei einer Vorschrift des nationalen Rechts wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die sich darauf beschränkt, den Arbeitnehmern – in Ausübung der in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 bestätigten alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten – einen günstigeren Schutz zu gewähren, nicht davon ausgegangen werden [kann], dass sie in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt“(47). Diese Bestimmung des nationalen Rechts konnte daher nicht als eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen und mithin nicht mit Blick auf die Garantien der Charta und insbesondere ihres Art. 20 geprüft werden(48).

82.      Nach der zweiten These ist dagegen, wenn die Mitgliedstaaten für die Arbeitnehmer günstigere Maßnahmen erlassen, wozu sie nach Art. 15 der Richtlinie 2003/88 berechtigt sind, davon auszugehen, dass sie von dem ihnen durch diese Bestimmung ausdrücklich eingeräumten Recht Gebrauch machen, was einer Durchführung dieser Richtlinie gleichzustellen wäre. Da es sich um eine unionsrechtlich geregelte Situation handelt, ist die Charta somit anwendbar. Solche Maßnahmen unterlägen dann der Beachtung der Charta wie auch der anderen Normen des Primär- und des Sekundärrechts der Union. Soweit davon auszugehen wäre, dass die Mitgliedstaaten mit dem Erlass von Maßnahmen für einen verstärkten nationalen Schutz das Unionsrecht durchführen, wäre der Gerichtshof für die Auslegung der Charta im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV zuständig.

83.      Diese zweite These hat ihren Ursprung in den Schlussanträgen mehrerer Generalanwälte und in mehreren Urteilen des Gerichtshofs, die sich dafür aussprechen, dass nationale Maßnahmen, die über einen in einer Richtlinie festgelegten harten Kern des Mindestschutzes hinausgehen oder strengere Bestimmungen vorsehen, als sie in einer Richtlinie enthalten sind, der Beachtung des Unionsrechts und insbesondere seiner allgemeinen Grundsätze unterliegen(49).

84.      Im Sozialbereich und die Charta betreffend findet diese These Ausdruck u. a. im Urteil vom 18. Juli 2013, Alemo-Herron u. a.(50), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „Art. 3 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteile[(51)], in Verbindung mit Art. 8 dieser Richtlinie[(52)] … nicht dahin auszulegen [ist], dass er die Mitgliedstaaten zum Erlass von Maßnahmen ermächtigt, die zwar für die Arbeitnehmer günstiger sind, aber den Wesensgehalt des Rechts des Erwerbers auf unternehmerische Freiheit beeinträchtigen können“(53).

85.      Ich stimme dieser zweiten These zu.

86.      Der Erlass nationaler Maßnahmen wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die über den in einer Richtlinie festgelegten harten Kern des Mindestschutzes hinausgehen, stellen die innerstaatliche Fortschreibung der Richtlinienbestimmungen dar(54). Der Erlass von Maßnahmen, die einen verstärkten nationalen Schutz vorsehen, ist eine Modalität der Durchführung von Richtlinien, mit denen Mindestvorschriften festgelegt werden(55).

87.      Ich weise hierzu darauf hin, dass die in den Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen dadurch, dass den Arbeitnehmern mit ihnen über vier Wochen hinausgehende Urlaubstage gewährt werden, in der Kontinuität des mit der Richtlinie 2003/88 verfolgten Ziels stehen, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer sicherzustellen.

88.      Wie jeder Rechtsakt zur Umsetzung einer Richtlinie unterliegen Maßnahmen, die einen verstärkten nationalen Schutz vorsehen, der Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der in der Charta verankerten Grundrechte(56). Lässt eine Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum, müssen diese in einer mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes im Einklang stehenden Weise davon Gebrauch machen(57). Zudem ist zu beachten, dass die Bestimmungen des abgeleiteten Unionsrechts, zu denen Art. 15 der Richtlinie 2003/88 gehört, im Licht des Primärrechts der Union und somit der Charta auszulegen sind.

89.      Gewiss hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass „die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine bestimmten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen“(58). Er hat auch entschieden, dass „allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich fällt, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, diese Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts bringen und somit [nicht] zur Anwendbarkeit der Charta führen [kann]“(59).

90.      Indes bin ich der Ansicht, dass eine nationale Maßnahme, die in Anwendung einer Richtlinienbestimmung erlassen wird, die einen verstärkten Schutz erlaubt, eine Verknüpfung mit dieser Richtlinie aufweist, so dass sie als zur Durchführung des Unionsrechts ergangen anzusehen ist.

91.      Der Umstand, dass eine Bestimmung wie Art. 15 der Richtlinie 2003/88 den Mitgliedstaaten ein Recht zum Handeln einräumt und ihnen somit keine spezifische Verpflichtung auferlegt, lässt meines Erachtens nicht den Schluss zu, dass keine Durchführung des Unionsrechts vorliegt.

92.      In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, der Umstand, dass eine Bestimmung des Unionsrechts den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum bietet, nicht die Feststellung ausschließt, dass sie das Unionsrecht durchführen(60).

93.      Zudem sehen die im AEU-Vertrag enthaltenen Bestimmungen für einen verstärkten nationalen Schutz ausdrücklich vor, dass bei ihrer Durchführung die Verträge zu beachten sind. Daher hat sich der Gerichtshof, meines Erachtens zu Recht, auf solche Bestimmungen gestützt, um den Erlass von Maßnahmen für einen verstärkten Schutz durch die Mitgliedstaaten an die Bedingung der Beachtung des Unionsrechts, insbesondere seiner allgemeinen Grundsätze, zu knüpfen(61).

94.      Insoweit weise ich darauf hin, dass die Rechtsgrundlage der Richtlinie 2003/88 Art. 137 EG, jetzt Art. 153 AEUV, ist. Nach Art. 153 Abs. 4 AEUV hindern aber „[d]ie aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen … die Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu treffen, die mit den Verträgen vereinbar sind“(62).

95.      Wenn die Mitgliedstaaten also Maßnahmen erlassen, die über die in einer Richtlinie enthaltenen Normen für einen Mindestschutz hinausgehen, müssen diese Bestimmungen im Einklang mit den übrigen Bestimmungen des Unionsrechts und insbesondere der Verträge stehen(63).

96.      Da die Charta den Rang von Primärrecht hat, erschiene es mir inkohärent, in der Frage ihrer Anwendbarkeit einen restriktiveren Ansatz zu verfolgen und anzunehmen, dass die Mitgliedstaaten nicht das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen, wenn sie in Anwendung von Art. 15 der Richtlinie 2003/88 für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Bestimmungen erlassen. Ich sehe keinen entscheidenden Grund, warum die Charta die einzige Norm des Unionsrechts sein sollte, der die Mitgliedstaaten nicht unterworfen sind, wenn sie Maßnahmen erlassen, die über den in einer Richtlinie vorgesehenen Mindestschutz hinausgehen.

97.      Das Argument, die Charta könne jedenfalls anwendbar werden, wenn sich herausstellen sollte, dass die in Rede stehende nationale Maßnahme in den Anwendungsbereich einer anderen unionsrechtlichen Bestimmung fällt oder gegen eine solche Bestimmung verstößt, scheint mir ein unnötiger und etwas bemühter Umweg zu sein. Für einfacher und zugleich kohärenter halte ich die Annahme, dass die Bestimmungen der Charta wie die des gesamten Unionsrechts aufgrund ihrer Anwendbarkeit den rechtlichen Rahmen für den Erlass von Maßnahmen für einen verstärkten nationalen Schutz durch die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner bilden.

98.      Meines Erachtens steht es den Mitgliedstaaten, wenn sie gemäß einer Klausel für einen verstärkten nationalen Schutz wie Art. 15 der Richtlinie 2003/88 Maßnahmen erlassen, die über die Mindestvorgaben dieser Richtlinie, die ein Gleichgewicht zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und denen der Arbeitgeber herstellt(64), hinausgehen, nicht frei, dieses Gleichgewicht durch den Erlass von Maßnahmen zu zerstören, die die Interessen bestimmter Arbeitnehmerkategorien übermäßig oder gar in diskriminierender Weise privilegierten oder den Interessen der Arbeitgeber und der Notwendigkeit, den ordnungsgemäßen Betrieb der Unternehmen zu erhalten, nicht hinreichend Rechnung trügen(65). Insbesondere dürfen nach Art. 15 der Richtlinie 2003/88 erlassene, für die Arbeitnehmer günstigere nationale Maßnahmen, die dem Ziel der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer verpflichtet sind, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Daher können die Mitgliedstaaten solche Bestimmungen erlassen, solange sie mit der ordnungsgemäßen Durchführung des Unionsrechts vereinbar sind und keine anderen unionsrechtlich geschützten Grundrechte beeinträchtigen(66).

99.      Aus dieser Sicht ist der Gerichtshof so meines Erachtens zuständig für die Prüfung, ob in Anwendung von Art. 15 der Richtlinie 2003/88 erlassene Maßnahmen die in der Charta verankerten Grundrechte beachten, wie etwa das in ihrem Art. 21 aufgestellte Diskriminierungsverbot. Auch könnte der Gerichtshof ohne Überschreitung seiner Zuständigkeit prüfen, ob eine Maßnahme für einen verstärkten nationalen Schutz das Gleichgewicht zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und denen der Arbeitgeber in unverhältnismäßiger Weise berührt(67) und dadurch die in Art. 16 der Charta verankerte unternehmerische Freiheit beeinträchtigt.

100. Mit einem solchen Vorgehen würde der Gerichtshof meines Erachtens dem Grundgedanken, auf dem die Kontrolle nationaler Maßnahmen mit Blick auf die von der Union geschützten Grundrechte beruht, folgen, dass diese Rechte in der Union im Rahmen von deren Strukturen und Zielen zu gewährleisten sind(68).

101. Im Kontext der vorliegenden Rechtssache ist auch darauf hinzuweisen, dass „die Mitgliedstaaten gemäß dem Unionsrecht dazu verpflichtet [sind], sich bei der Umsetzung der Richtlinien auf eine Auslegung derselben zu stützen, die es erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Rechtsordnung der Union geschützten Grundrechten sicherzustellen. Sodann haben die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinien nicht nur ihr nationales Recht im Einklang mit diesen Richtlinien auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinien stützen, die mit den genannten Grundrechten oder anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert“, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit(69). Des Weiteren steht es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „den nationalen Behörden und Gerichten frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern dadurch weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit oder die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden“(70). Diese der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnommenen Hinweise erlauben es meines Erachtens bei ihrer Anwendung auf die in den vorliegenden Rechtssachen in Rede stehenden Sachverhalte, den Handlungsspielraum zu bestimmen, den eine Klausel für einen verstärkten nationalen Schutz wie Art. 15 der Richtlinie 2003/88 den nationalen Stellen belässt.

102. Im vorliegenden Fall wird nicht vorgebracht, dass die in den Ausgangsverfahren betroffenen nationalen Regelungen oder Tarifverträge geeignet seien, andere Bestimmungen der Charta als deren Art. 31 Abs. 2 zu beeinträchtigen. Daher werde ich meine Prüfung auf diese Bestimmung beschränken, die, wie bereits dargelegt, auf die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalte Anwendung findet.

103. In den Urteilen vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth(71), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften(72), hat der Gerichtshof die Tragweite dieser Bestimmung geprüft und entschieden, dass diese in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unmittelbar geltend gemacht werden kann.

104. Zur Begründung hat der Gerichtshof u. a. ausgeführt, dass „[m]it der zwingenden Formulierung, dass ‚jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer‘ das ‚Recht‘ ‚auf bezahlten Jahresurlaub‘ hat – und zwar ohne dass insoweit, wie z. B. in Art. 27 der Charta, zu dem das Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale[(73)], ergangen ist, auf ‚Fälle und Voraussetzungen, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind‘, verwiesen würde –, … Art. 31 Abs. 2 der Charta den wesentlichen Grundsatz des Sozialrechts der Union wider[spiegelt], von dem nur unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen strengen Bedingungen und insbesondere nur unter Achtung des Wesensgehalts des Grundrechts auf bezahlten Jahresurlaub abgewichen werden kann“(74).

105. Dem Gerichtshof zufolge ist „[d]as Recht auf bezahlten Jahresurlaub, das in Art. 31 Abs. 2 der Charta für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer verankert ist, … infolgedessen, was sein Bestehen selbst anbelangt, zugleich zwingend und nicht von Bedingungen abhängig, da die Charta nicht durch unionsrechtliche oder nationalrechtliche Bestimmungen konkretisiert werden muss. In diesen sind nur die genaue Dauer des Jahresurlaubs und gegebenenfalls bestimmte Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts festzulegen. Folglich verleiht Art. 31 Abs. 2 der Charta schon für sich allein den Arbeitnehmern ein Recht, das sie in einem Rechtsstreit gegen ihren Arbeitgeber in einem vom Unionsrecht erfassten und daher in den Anwendungsbereich der Charta fallenden Sachverhalt als solches geltend machen können“(75).

106. Auf Unionsebene bestimmt Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 die genaue Dauer des bezahlten Jahresurlaubs, der jedem Arbeitnehmer als Mindesturlaub gewährleistet ist. Damit legt diese Bestimmung des abgeleiteten Rechts die Tragweite des in der Charta verankerten Grundrechts fest. Mit ihr wird der Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub näher dahin gehend geregelt, dass dieser Urlaub vier Wochen nicht unterschreiten darf.

107. Meines Erachtens verleiht Art. 31 Abs. 2 der Charta den Arbeitnehmern keinen Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub, der über die vom Unionsgesetzgeber so festgelegte Mindestdauer hinausgeht.

108. Mit anderen Worten genügt ein Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 entsprechender bezahlter Jahresurlaub, da Art. 31 Abs. 2 der Charta keine bestimmte Dauer vorschreibt, den Anforderungen der Charta. Aus Art. 31 Abs. 2 der Charta lässt sich kein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ableiten, der über die vom Unionsgesetzgeber festgelegte Mindestdauer hinausgeht.

109. Wegen der „symbiotischen Verflechtung“(76) zwischen dem in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrecht auf einen bezahlten Jahresurlaub und dem abgeleiteten Unionsrecht, das dessen Tragweite näher regelt, ist es logisch, dass der Gerichtshof in den Rechtssachen, in denen es um dieses Recht geht, sowohl diese Bestimmung der Charta als auch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 anführt und auslegt, um die Effektivität des Rechts auf einen Mindestjahresurlaub von vier Wochen zu gewährleisten(77).

110. Diese Betrachtung von Art. 31 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit der Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts, mit der die Tragweite des so geschützten Grundrechts näher geregelt wird, führt jedoch nicht dazu, dass der Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub ein für alle Mal auf eine Dauer von vier Wochen festgelegt wird, denn diese kann vom Unionsgesetzgeber jederzeit nach den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten und der technologischen Entwicklung, die die auf die Arbeitsverhältnisse anwendbaren Regelungen beeinflussen, geändert werden(78). Wenn der Unionsgesetzgeber somit eine wichtige Rolle für die Ausgestaltung der Tragweite des in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts spielt, ist dies die unausweichliche Folge des bündigen und zugleich allgemeinen Charakters der Formulierung der Bestimmungen der Charta.

111. Eine solche gemeinsame Betrachtung fördert die harmonische Anwendung der Charta und des abgeleiteten Unionsrechts. Im vorliegenden Fall lässt sich damit verhindern, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta geltend gemacht wird, um die Schutzregeln, die der Gerichtshof Schritt für Schritt allein auf der Grundlage und unter Berücksichtigung einer Mindestdauer des bezahlten Jahresurlaubs von vier Wochen entwickelt hat, auf den über diese Mindestdauer hinausgehenden Jahresurlaub zu erstrecken.

112. Wenn der wesentliche Inhalt des Anspruchs auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub, wie er in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 näher bestimmt ist, d. h. sein harter Kern, nicht berührt ist, können folglich meines Erachtens die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner ohne Verstoß gegen Art. 31 Abs. 2 der Charta für die Gewährung, die Übertragung und das Erlöschen von zusätzlichem bezahltem Jahresurlaub über den bezahlten Mindestjahresurlaub hinaus Bedingungen festlegen, die sich von den Schutzregeln unterscheiden, die der Gerichtshof betreffend diesen Mindestjahresurlaub entwickelt hat.

113. Konkret bedeutet dies, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta meines Erachtens nationalen Regelungen oder Tarifverträgen nicht entgegensteht, wonach die Tage bezahlten Jahresurlaubs, die über die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 festgelegte Mindestdauer von vier Wochen hinausgehen, im Fall einer Überschneidung mit Krankheitsurlaubstagen nicht übertragbar sind.

114. Ich werde meine Untersuchung mit drei Bemerkungen abschließen.

115. Erstens habe ich mit der Anerkennung der Anwendbarkeit der Charta auf Sachverhalte, in denen es um Maßnahmen eines verstärkten nationalen Schutzes geht, und sodann der Abgrenzung des Regelungsgehalts von Art. 31 Abs. 2 der Charta, wie geschehen, die Gefahr einer Auslegung dieser Bestimmung in dem Sinne abgewendet, dass sie den Arbeitnehmern einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub über die vom Unionsgesetzgeber zur Durchführung dieses Grundrechts getroffenen Festlegungen hinaus gewährt. Im vorliegenden Fall ist die Festlegung des unionsrechtlich geschützten Mindestzeitraums bezahlten Jahresurlaubs durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 erfolgt, doch ist diese Festlegung der Entwicklung zugänglich.

116. Mit der Entscheidung für eine solche Betrachtungsweise würde der Gerichtshof aus meiner Sicht in Wahrnehmung seiner Aufgabe der Auslegung des Unionsrechts nicht die Grenzen der ihm eingeräumten Zuständigkeiten überschreiten. Da diese Betrachtungsweise die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten nicht verändern würde, stünde sie meines Erachtens nicht im Widerspruch zu Art. 51 Abs. 2 der Charta.

117. Zweitens halte ich es für wichtig, dass der Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen die Wegmarken setzt, die es ihm gegebenenfalls künftig erlauben werden, in Anwendung von Art. 15 der Richtlinie 2003/88 getroffene nationale Maßnahmen wirksam zu neutralisieren, sollten diese in der Charta verankerte Grundrechte beinträchtigen. Die Anwendbarkeit der Charta in Fallgestaltungen zu verneinen, in denen es um solche Maßnahmen geht, könnte so gesehen meines Erachtens die Aufgabe des Gerichtshofs erschweren, insbesondere in dem Fall, dass die Verbindung zwischen einer nationalen Maßnahme und einer anderen unionsrechtlichen Regelung als der Richtlinie 2003/88 schwer nachzuweisen wäre.

118. Drittens blieben für den Fall, dass der Gerichtshof zu der Auffassung gelangen sollte, dass Sachverhalte, in denen es um Maßnahmen für einen verstärkten nationalen Schutz geht, nicht in den Anwendungsbereich der Charta fallen und somit nicht anhand von Art. 31 Abs. 2 der Charta zu prüfen sind, die Frage des Regelungsgehalts dieser Bestimmung wie auch die damit eng zusammenhängende Frage ihres Verhältnisses zu Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 offen. Deren Beantwortung wird aber unumgänglich, wenn der Gerichtshof die Tragweite von Art. 31 Abs. 2 der Charta im Zusammenhang mit von den Organen der Union erlassenen Maßnahmen zu bestimmen haben wird(79).

B.      Zur zweiten Vorlagefrage

119. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unmittelbare Wirkung haben kann.

120. Da ich der Ansicht bin, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelungen oder Tarifverträge weder Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 noch Art. 31 Abs. 2 der Charta zuwiderlaufen, ist diese Frage nicht zu prüfen. Jedenfalls ergibt sich die Antwort auf sie – im Sinne ihrer Bejahung – klar aus den Urteilen vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth(80), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften(81).

121. Auch wenn nach meinen vorstehenden Ausführungen Art. 31 Abs. 2 der Charta den Arbeitnehmern meines Erachtens keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub über die vom Unionsgesetzgeber bestimmte Dauer hinaus verleihen kann, trägt doch die Möglichkeit für einen Arbeitnehmer, sich in einem Rechtsstreit mit einem privaten Arbeitgeber gegen die Anwendung von Bestimmungen des nationalen Rechts, die gegebenenfalls den harten Kern des Mindestschutzes beeinträchtigen, auf diese Bestimmung der Charta zu berufen, dazu bei, diesem Arbeitnehmer die wirksame Inanspruchnahme dieses Grundrechts zu gewährleisten. Darin liegt die große Bedeutung von Art. 31 Abs. 2 der Charta, wenn er in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht wird.

V.      Ergebnis

122. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Työtuomioistuin (Arbeitsgerichtshof, Finnland) wie folgt zu beantworten:

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Regelungen oder Tarifverträgen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, wonach die Tage bezahlten Jahresurlaubs, die über eine Dauer von vier Wochen hinausgehen, nicht übertragen werden können, wenn sie sich mit Krankheitstagen überschneiden.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2003, L 299, S. 9.


3      Im Folgenden: Charta.


4      Im Folgenden: TSN.


5      Im Folgenden: AKT.


6      C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871.


7      C‑684/16, EU:C:2018:874.


8      Vgl. Cariat, N., La Charte des droits fondamentaux et l’équilibre constitutionnel entre l’Union européenne et les États membres, Bruylant, Brüssel, 2016, S. 443.


9      Wie Nicolas Cariat zutreffend festgestellt hat, ist diese Frage des Anwendungsbereichs der Charta „wegen der Bedeutung der Grundrechte in den Bereichen geteilter Zuständigkeit wie Sozialpolitik, Strafrecht, Asylrecht und Umweltrecht entscheidend“ (vgl. Cariat, N., a. a. O, S. 435).


10      Im Folgenden: Jahresurlaubsgesetz.


11      C‑337/10, EU:C:2012:263.


12      C‑341/15, EU:C:2016:576.


13      C‑579/12 RX‑II, EU:C:2013:570.


14      C‑178/15, EU:C:2016:502.


15      Vgl. u. a. Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Ebd. (Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung.


17      Ebd. (Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung.


18      Ebd. (Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Ebd. (Rn. 29). Folglich entsteht für Kurzarbeitszeiten, in denen der Arbeitnehmer nicht gearbeitet hat, kein auf Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 beruhender Urlaubsanspruch (ebd.).


20      Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 33, 34 und 37).


21      Vgl. u. a. Urteil vom 4. Oktober 2018, Dicu (C‑12/17, EU:C:2018:799, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18.


23      Vgl. u. a. Urteil vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn (C‑178/15, EU:C:2016:502, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Ebd. (Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Ebd. (Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


26      Vgl. u. a. Beschluss vom 21. Februar 2013, Maestre García (C‑194/12, EU:C:2013:102, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      So hat der Gerichtshof im Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 41), hervorgehoben, dass „Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 nicht verlangt, dass das gewöhnliche Arbeitsentgelt … für die gesamte Dauer des Jahresurlaubs gezahlt wird, die dem Arbeitnehmer nach nationalem Recht zusteht. Der Arbeitgeber muss dieses Entgelt nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 nur für die Dauer des in dieser Bestimmung vorgesehenen Mindestjahresurlaubs zahlen, wobei der Arbeitnehmer den Anspruch auf diesen Urlaub … nur für Zeiträume tatsächlicher Arbeitsleistung erwirbt“ (Hervorhebung nur hier).


28      Vgl. zur Veranschaulichung Urteile vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 47 bis 50), vom 3. Mai 2012, Neidel (C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 33 bis 37), und vom 20. Juli 2016, Maschek (C‑341/15, EU:C:2016:576, Rn. 38 und 39).


29      Vgl. hierzu u. a. Urteil vom 22. November 2011, KHS (C‑214/10, EU:C:2011:761).


30      Vgl. u. a. Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 43).


31      Vgl. u. a. Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 47). Vgl. auch Urteile vom 3. Mai 2012, Neidel (C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 34), und vom 20. Juli 2016, Maschek (C‑341/15, EU:C:2016:576, Rn. 38). Dagegen ist dem Gerichtshof zufolge „Art. 15 der Richtlinie 2003/88 … dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, eine weniger restriktive Definition des Begriffs ‚Arbeitszeit‘ beizubehalten oder einzuführen als die in Art. 2 der Richtlinie“ (vgl. in dieser Hinsicht Urteil vom 21. Februar 2018, Matzak, C‑518/15, EU:C:2018:82, Rn. 47).


32      Vgl. u. a. Urteile vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 48), vom 3. Mai 2012, Neidel (C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 35), vom 20. Juli 2016, Maschek (C‑341/15, EU:C:2016:576, Rn. 38), und vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 30). Dies entspricht dem Gedanken, dass mit Richtlinien, in denen Mindestvorschriften festgelegt werden, „ein gemeinsamer Grundstock für eine Regelung gebildet werden [soll], die in allen Mitgliedstaaten anwendbar ist, wobei den Mitgliedstaaten die Möglichkeit bleibt, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen“ (vgl. Urteil vom 8. Juni 1982, Kommission/Italien, 91/81, EU:C:1982:212, Rn. 11).


33      Vgl. u. a. Urteil vom 21. Februar 2018, Matzak (C‑518/15, EU:C:2018:82, Rn. 46).


34      C‑385/17, EU:C:2018:1018.


35      Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hervorhebung nur hier.


36      Ebd. (Rn. 43). Hervorhebung nur hier.


37      Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 53). Vgl. ebenfalls in diesem Sinne Urteil vom 1. Dezember 2005, Dellas u. a. (C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 51 ff.).


38      Vgl. u. a. Urteile vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).


39      Vgl. u. a. Urteile vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


40      Vgl. u. a. Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


41      Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 11. November 2014, Dano (C‑333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 91 und 92). Es ist nämlich zu beachten, dass „der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen hat“ (ebd., Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).


42      Vgl. etwa zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Urteil vom 17. Dezember 1998, IP (C‑2/97, EU:C:1998:613, Rn. 40). Ich weise aber darauf hin, dass der Gerichtshof in diesem Urteil auf das Vorliegen einer Maßnahme für einen verstärkten Schutz schloss, nachdem er zuvor festgestellt hatte, dass diese Maßnahme „nicht diskriminierend [ist] und … nicht die Ausübung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten [behindert]“ (Rn. 38). Vgl., ebenfalls zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Urteil vom 14. April 2005, Deponiezweckverband Eiterköpfe (C‑6/03, EU:C:2005:222, Rn. 61 bis 64). In diesem Urteil hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten „auch dann, wenn sie strengere Maßnahmen ergreifen, eine vom [Unions]recht geregelte Befugnis ausüben, da diese Maßnahmen jedenfalls mit dem Vertrag vereinbar sein müssen Die Festlegung des Umfangs des zu erreichenden Schutzes ist jedoch den Mitgliedstaaten überlassen“ (Rn. 61).


43      C‑198/13, EU:C:2014:2055.


44      ABl. 2008, L 283, S. 36.


45      Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 44). Vgl. auch entsprechend auf dem Gebiet der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung Urteil vom 10. März 2016, Safe Interenvíos (C‑235/14, EU:C:2016:154, Rn. 79).


46      Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 44).


47      Ebd. (Rn. 45).


48      Ebd. (Rn. 48).


49      Vgl. u. a. Urteile vom 28. Oktober 1999, ARD (C‑6/98, EU:C:1999:532, Rn. 43), vom 16. September 2010, Chatzi (C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 63 bis 75), und vom 18. Juli 2013, Sky Italia (C‑234/12, EU:C:2013:496, Rn. 13 und 14). Vgl. auch zu Verordnungen Urteil vom 24. März 1994, Bostock (C‑2/92, EU:C:1994:116). Unter den Schlussanträgen von Generalanwälten vgl. u. a. Schlussanträge von Generalanwalt Mischo in der Rechtssache IP (C‑2/97, EU:C:1998:176, Nrn. 34 und 35 sowie 44 bis 53), von Generalanwalt Tizzano in der Rechtssache Kommission/Luxemburg (C‑519/03, EU:C:2005:29, Nrn. 49 bis 51) und von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Deponiezweckverband Eiterköpfe (C‑6/03, EU:C:2004:758, Nrn. 25 bis 27 und 59).


50      C‑426/11, EU:C:2013:521.


51      ABl. 2001, L 82, S. 16.


52      Mit folgendem Wortlaut: „Diese Richtlinie schränkt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten nicht ein, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder für die Arbeitnehmer günstigere Kollektivverträge und andere zwischen den Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarungen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, zu fördern oder zuzulassen.“


53      Rn. 36 dieses Urteils. Vgl. in diesem Sinne auch Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón in der Rechtssache Alemo-Herron u. a. (C‑426/11, EU:C:2013:82, Nr. 47).


54      Vgl. hierzu Moizard, N., Droit du travail communautaire et protection nationale renforcée, l’exemple du droit du travail français, Bd. 1, Presses universitaires d’Aix-Marseille, Aix-en-Provence, 2000, der ausführt, dass „[d]ie nationale Maßnahme für einen verstärkten Schutz … die innerstaatliche Fortschreibung der gemeinschaftsrechtlichen Mindestvorgabe in einem für die Arbeitnehmer günstigeren Sinn dar[stellt]“ (Rn. 70, S. 111 und 112).


55      Vgl. in diesem Sinne Moizard, N., a. a. O., Rn. 231, S. 309 und 328.


56      „Der verstärkte nationale Schutz eröffnet“, wie Nicolas Moizard zutreffend ausführt, „keine bedingungslose Befugnis, Bestimmungen über einen verstärkten nationalen Schutz beizubehalten oder zu erlassen“ (Moizard, N., a. a. O., Rn. 67, S. 108). Solche Maßnahmen müssen nicht nur die in der Richtlinie enthaltenen Mindestvorgaben beachten, sondern darüber hinaus das gesamte Unionsrecht.


57      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 104 und 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).


58      Vgl. u. a. Urteil vom 19. April 2018, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi (C‑152/17, EU:C:2018:264, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 14. Dezember 2017, Miravitlles Ciurana u. a. (C‑243/16, EU:C:2017:969, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


59      Vgl. u. a. Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


60      Vgl. u. a. Urteil vom 9. März 2017, Milkova (C‑406/15, EU:C:2017:198), zu Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16), wonach „[i]m Falle von Menschen mit Behinderung … der Gleichbehandlungsgrundsatz weder dem Recht der Mitgliedstaaten entgegen[steht], Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz beizubehalten oder zu erlassen, noch … Maßnahmen entgegen[steht], mit denen Bestimmungen oder Vorkehrungen eingeführt oder beibehalten werden sollen, die einer Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt dienen oder diese Eingliederung fördern“. Dem Gerichtshof zufolge lässt „[d]er sich aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ergebende Umstand, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, Maßnahmen im Sinne dieser Vorschrift beizubehalten oder zu erlassen, sondern insoweit über ein Ermessen verfügen, … nicht den Schluss zu, dass von den Mitgliedstaaten erlassene Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren fraglichen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liegen“ (Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Zusammenhang „ist auch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wenn das Unionsrecht ihnen die Wahl zwischen verschiedenen Durchführungsmodalitäten lässt, ihr Ermessen unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts auszuüben haben, zu denen der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört“ (Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich „betrifft die auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbare nationale Regelung die Durchführung des Unionsrechts, so dass im vorliegenden Fall die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung, sowie die Charta gelten“ (Rn. 54). Vgl. auch zu einer „Ermessensklausel“ für die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Staates Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Rn. 54). Allgemein ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass, „wenn ein Mitgliedstaat im Rahmen des Ermessens, das ihm durch einen Rechtsakt der Union gewährt worden ist, Maßnahmen ergreift, davon auszugehen [ist], dass er das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt“ (vgl. u. a. Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


61      Für sehr klare Ausführungen zu Art. 193 AEUV betreffend die Umwelt vgl. Urteil vom 13. Juli 2017, Túrkevei Tejtermelő Kft. (C‑129/16, EU:C:2017:547): „Es ist … darauf hinzuweisen, dass Art. 16 der Richtlinie 2004/35[/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (ABl. 2004, L 143, S. 56)] die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vorsieht, strengere Vorschriften für die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden beizubehalten oder zu erlassen, einschließlich der Festlegung zusätzlicher Tätigkeiten, die den Bestimmungen dieser Richtlinie über die Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden unterliegen, und der Bestimmung zusätzlicher verantwortlicher Parteien.“ (Rn. 56) Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung „den in der Richtlinie 2004/35 vorgesehenen Mechanismus verstärkt, indem sie eine Kategorie von Personen bestimmt, die zusammen mit den Betreibern gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden können, fällt sie unter Art. 16 der Richtlinie 2004/35, der – in Verbindung mit Art. 193 AEUV – verstärkte Schutzmaßnahmen zulässt, sofern sie mit dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag vereinbar sind und der Europäischen Kommission notifiziert werden“ (Rn. 60, Hervorhebung nur hier). Zur Voraussetzung der Vereinbarkeit mit den Verträgen „ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es Sache jedes Mitgliedstaats ist, solche verstärkten Schutzmaßnahmen festzulegen, die zum einen auf die Erreichung des mit der Richtlinie 2004/35 verfolgten Ziels entsprechend der Definition in ihrem Art. 1, also der Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, ausgerichtet sein und zum anderen das Unionsrecht, insbesondere seine allgemeinen Rechtsgrundsätze, beachten müssen“ (Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Art. 169 Abs. 4 AEUV für den Bereich des Verbraucherschutzes.


62      Hervorhebung nur hier. Zu Art. 137 Abs. 4 EG vgl. u. a. Urteil vom 1. Juli 2010, Gassmayr (C‑194/08, EU:C:2010:386, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. dazu O’Leary, S., „Courts, charters and conventions: making sense of fundamental rights in the EU“, Irish Jurist, UCD Sutherland School of Law, Dublin, 2016, Nr. 56, S. 4 bis 41, die unter Hinweis insbesondere auf das genannte Urteil ausführt, die vom Gerichtshof im Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a. (C‑198/13, EU:C:2014:2055), gewählte Lösung sei „not entirely coherent when viewed with reference to other case law or clear as to its potential consequences“ (S. 15).


63      Dieses Konformitätserfordernis umfasst selbstverständlich die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts.


64      In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass nach Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV Richtlinien, die Mindestvorschriften enthalten, „keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben [sollen], die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen“. Vgl. ebenfalls in diesem Sinne den zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88.


65      Die Mitgliedstaaten können sich somit nicht auf eine Klausel für einen verstärkten nationalen Schutz wie Art. 15 der Richtlinie 2003/88 stützen, um „die Kohärenz des [Unions]rechts im Bereich des Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer“ zu beeinträchtigen (vgl. für eine Verwendung dieses Ausdrucks Urteil vom 17. Dezember 1998, IP, C‑2/97, EU:C:1998:613, Rn. 37). Vgl. auch Schlussanträge von Generalanwalt Mischo in der Rechtssache IP (C‑2/97, EU:C:1998:176), dem zufolge „die Sicherheit der Arbeitnehmer als Bestandteil der Sozialpolitik unter das [Unions]recht fällt, so dass die Mitgliedstaaten in diesem Bereich nicht mehr frei ohne Rücksicht auf Maßnahmen der Union handeln können“ (Nr. 45), und „[d]ie Maßnahmen der [Union] und die der Mitgliedstaaten … kohärent sein [müssen]“ (Nr. 46).


66      Vgl. zu dieser Frage u. a. De Cecco, F., „Room to move?: minimum harmonization and fundamental rights“, Common Market Law Review, Kluwer Law International, Alphen am Rhein, 2006, Bd. 43, Nr. 1, S. 9 bis 30, insbesondere S. 22 ff.


67      Für eine Berücksichtigung dieses Gleichgewichts durch den Gerichtshof vgl. u. a. Urteil vom 29. November 2017, King (C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


68      Vgl. Urteil vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft (11/70, EU:C:1970:114, Rn. 4).


69      Vgl. u. a. Urteil vom 18. Oktober 2018, Bastei Lübbe (C‑149/17, EU:C:2018:841, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie in demselben Sinne Urteile vom 19. April 2012, Bonnier Audio u. a. (C‑461/10, EU:C:2012:219, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 27. März 2014, UPC Telekabel Wien (C‑314/12, EU:C:2014:192, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


70      Vgl. u. a. Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).


71      C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871.


72      C‑684/16, EU:C:2018:874.


73      C‑176/12, EU:C:2014:2.


74      Vgl. Urteile vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 84), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 73).


75      Vgl. Urteile vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 85), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 74).


76      Um den von Cariat, N., a. a. O., S. 443, gebrauchten Ausdruck aufzugreifen. Was das unauflösbare Band zwischen Art. 31 Abs. 2 der Charta und dem abgeleiteten Unionsrecht angeht, verweise ich auch auf meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:337, Nrn. 86 bis 91).


77      Vgl. u. a. Urteil vom 13. Dezember 2018, Hein (C‑385/17, EU:C:2018:1018), in dessen Tenor sowohl Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 als auch Art. 31 Abs. 2 der Charta genannt werden.


78      In diesem Zusammenhang weise ich auf die Präambel der Charta hin, wonach der Schutz der Grundrechte im Licht „der Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen“ zu gewährleisten ist.


79      Vgl. hierzu die Rechtsmittel gegen das Urteil vom 4. Dezember 2018, Carreras Sequeros u. a./Kommission (T‑518/16, EU:T:2018:873), in den gegenwärtig anhängigen Rechtssachen Kommission/Carreras Sequeros u. a. (C‑119/19 P) sowie Rat/Carreras Sequeros u. a. (C‑126/19 P).


80      C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871.


81      C‑684/16, EU:C:2018:874.