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Rechtssache C-154/16

„Latvijas Dzelzceļš“ VAS

gegen

Valsts ieņēmumu dienests

(Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollkodex der Gemeinschaften – Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Art. 94 Abs. 1 und Art. 96 – Externes gemeinschaftliches Versandverfahren – Haftung des Hauptverpflichteten – Art. 203, 204 und Art. 206 Abs. 1 – Entstehung der Zollschuld – Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung – Nichterfüllung einer der sich aus der Inanspruchnahme eines Zollverfahrens ergebenden Pflichten – Vernichtung oder Zerstörung oder unwiederbringlicher Verlust einer Ware aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch Zufall oder infolge höherer Gewalt – Art. 213 – Gesamtschuldnerische Zahlung der Zollschuld – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 70 und 71 – Steuertatbestand und Steueranspruch – Art. 201, 202 und 205 – Zur Entrichtung der Steuer verpflichtete Personen – Feststellung des Fehlens von Frachtgut durch die Bestimmungszollstelle – Nicht richtig geschlossene oder beschädigte untere Entladevorrichtung des Kesselwagens“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 18. Mai 2017

1.        Zollunion – Entstehung einer Einfuhrzollschuld infolge der Entziehung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus der zollamtlichen Überwachung – Anwendungsbereich – Ware, die sich im gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet – Unterlassen, die gesamte Ware der Zollstelle zu gestellen, wegen Vernichtung oder Zerstörung oder unwiederbringlichen Verlusts der Ware – Nichteinbeziehung

(Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung, Art. 203 Abs. 1)

2.        Zollunion – Entstehen einer Zollschuld aufgrund von Nichterfüllung einer mit dem externen Versandverfahren verbundenen Pflicht – Anwendungsbereich – Ware, die sich im gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet – Unterlassen, die gesamte Ware der Zollstelle zu gestellen, wegen Vernichtung oder Zerstörung oder unwiederbringlichen Verlusts der Ware – Einbeziehung – Voraussetzungen – Kein Fall von höherer Gewalt oder Zufall – Dem nationalen Gericht obliegende Prüfung

(Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung, Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und 206 Abs. 1)

3.        Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Steuertatbestand und Steueranspruch – Einfuhr von Gegenständen – Vernichtung oder Zerstörung oder unwiederbringlicher Verlust eines Teils der Ware, die sich im gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet – Gleichstellung mit dem Ausscheiden der Ware aus diesem Verfahren – Fehlen

(Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 2 Abs. 1 Buchst. d, 70 und 71)

4.        Zollunion – Externes Versandverfahren – Pflicht, Waren unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen – Nichterfüllung dieser Pflicht durch den Warenführer – Haftung des Hauptverpflichteten für die Zahlung der Zollschuld

(Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung, Art. 96 Abs. 1 Buchst. a, 96 Abs. 2 und 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3)

5.        Zollunion – Externes Versandverfahren – Pflicht, Waren unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen – Nichterfüllung dieser Pflicht durch den Hauptverpflichteten und den Warenführer – Gemeinsame Haftung des Hauptverpflichteten und des Warenführers für die Zollschuld – Verpflichtung der Zollverwaltung eines Mitgliedstaats, den Warenführer gesamtschuldnerisch in Anspruch zu nehmen – Fehlen

(Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung, Art. 96 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2, 204 Abs. 1 und 213)

1.      Art. 203 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er nicht anwendbar ist, wenn nicht die gesamte Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird.

Die Anwendung von Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex ist jedoch dann gerechtfertigt, wenn das Verschwinden der Ware die Gefahr begründet, dass die Ware unverzollt in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Januar 2005, Honeywell Aerospace, C‑300/03, EU:C:2005:43, Rn. 20, und vom 15. Mai 2014, X, C‑480/12, EU:C:2014:329, Rn. 35 und 36).

Dies ist aber nicht der Fall beim Verschwinden einer Ware durch Vernichtung oder Zerstörung oder unwiederbringlichen Verlust – wobei eine Ware gemäß Art. 206 Abs. 1 Unterabs. 2 des Zollkodex unwiederbringlich verlorengegangen ist, wenn sie von niemandem mehr zu verwenden ist –, wenn eine Flüssigkeit wie das im Ausgangsverfahren fragliche Lösungsmittel bei ihrem Transport aus einem Kessel austritt. Eine Ware, die nicht mehr existiert oder von niemandem mehr verwendet werden kann, kann nämlich allein deshalb nicht mehr in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehen.

(vgl. Rn. 48-50, Tenor 1)

2.      Art. 204 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn nicht die gesamte Ware, die sich in einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, der im Rahmen dieses Verfahrens vorgesehenen Bestimmungszollstelle gestellt wird, weil ein Teil dieser Ware vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, und dies in angemessener Weise nachgewiesen wird, diese Situation, die eine Nichterfüllung einer der mit diesem Verfahren verbundenen Pflichten, nämlich der Pflicht, eine Ware unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, darstellt, für den Teil der Ware, der dieser Zollstelle nicht gestellt wurde, eine Einfuhrzollschuld entstehen lässt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall ein Umstand wie die Beschädigung einer Entladevorrichtung die Kriterien erfüllt, durch die sich „höhere Gewalt“ und „Zufall“ im Sinne von Art. 206 Abs. 1 des Zollkodex kennzeichnen, d. h., ob sich erweist, dass dieser Umstand für einen auf dem Gebiet des Transports von Flüssigkeiten tätigen Wirtschaftsteilnehmer ungewöhnlich ist und außerhalb seiner Sphäre liegt und ob sich seine Folgen trotz aller angewandten Sorgfalt nicht hätten vermeiden lassen. Im Rahmen dieser Prüfung hat das nationale Gericht insbesondere zu berücksichtigen, ob die hinsichtlich des technischen Zustands der Kessel und der Sicherheit des Transports von Flüssigkeiten wie Lösungsmittel geltenden Vorschriften und Anforderungen von den Wirtschaftsteilnehmern wie dem Hauptverpflichteten und dem Warenführer eingehalten wurden.

(vgl. Rn. 65, Tenor 2)

3.      Art. 2 Abs. 1 Buchst. d sowie die Art. 70 und 71 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass auf den vernichteten oder zerstörten oder unwiederbringlich verlorengegangenen Teil einer Ware, die sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befindet, keine Mehrwertsteuer zu entrichten ist.

Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Vernichtung oder Zerstörung oder der unwiederbringliche Verlust einer dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegenden Ware den Steuertatbestand und den Steueranspruch nur eintreten lassen können, wenn sie dem Ausscheiden dieser Ware aus diesem Verfahren gleichgestellt werden können.

Da es sich bei der Mehrwertsteuer naturgemäß um eine Verbrauchsteuer handelt, findet sie auf Waren und Dienstleistungen Anwendung, die in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangen und einem Verbrauch zugeführt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin, C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 35, sowie vom 2. Juni 2016, Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig, C‑226/14 und C‑228/14, EU:C:2016:405, Rn. 65).

Daher ist unter dem Ausscheiden einer Ware aus dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren, das den Steuertatbestand und den Steueranspruch eintreten lässt, der Eingang dieser Ware in den Wirtschaftskreislauf der Union zu verstehen, der ausgeschlossen ist, wenn eine Ware nicht mehr existiert oder von niemandem mehr verwendet werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2010, Dansk Transport og Logistik, C‑230/08, EU:C:2010:231, Rn. 93 und 96).

Folglich kann eine Ware, die vernichtet oder zerstört worden oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, während sie sich im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren befand, da sie nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehen und damit auch nicht aus diesem Verfahren ausscheiden kann, weder als „eingeführt“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden noch nach dieser Bestimmung der Mehrwertsteuer unterliegen.

(vgl. Rn. 68-72, Tenor 3)

4.      Art. 96 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Hauptverpflichtete für die Zahlung der für eine dem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unterliegende Ware entstandenen Zollschuld auch dann haftet, wenn der Warenführer seinen Pflichten aus Art. 96 Abs. 2 des Zollkodex, insbesondere der Pflicht, diese Ware innerhalb der vorgeschriebenen Frist unverändert der Bestimmungszollstelle zu gestellen, nicht nachgekommen ist.

(vgl. Rn. 82, Tenor 4)

5.      Art. 96 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2, Art. 204 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 sowie Art. 213 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 648/2005 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet ist, den Warenführer, der zusammen mit dem Hauptverpflichteten als Zollschuldner anzusehen ist, gesamtschuldnerisch in Anspruch zu nehmen.

Hierzu hat der Gerichtshof präzisiert, dass der Mechanismus der Gesamtschuld ein den nationalen Behörden zur Verfügung gestelltes zusätzliches Rechtsinstrument ist, um ihr Vorgehen bei der Erhebung von Zollschulden wirksamer zu gestalten und die Eigenmittel der Union zu schützen (Urteil vom 17. Februar 2011, Berel u. a., C‑78/10, EU:C:2011:93, Rn. 48).

(vgl. Rn. 88, 91, Tenor 5)