Language of document : ECLI:EU:C:2017:585

Rechtssache C490/16

A.S.

gegen

Républika Slovenija

(Vorabentscheidungsersuchen des Vrhovno sodišče)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger – Organisation des Überschreitens der Grenze durch die Behörden eines Mitgliedstaats zum Zweck der Durchreise in einen anderen Mitgliedstaat – Ausnahmsweise Gestattung der Einreise aus humanitären Gründen – Art. 13 – Illegales Überschreiten einer Außengrenze – Frist von zwölf Monaten ab dem Grenzübertritt – Art. 27 – Rechtsbehelf – Umfang der gerichtlichen Überprüfung – Art. 29 – Frist von zwölf Monaten für die Überstellung – Fristberechnung – Einlegung eines Rechtsbehelfs – Aufschiebende Wirkung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. Juli 2017

1.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Rechtsbehelf gegen eine gegenüber einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, ergangene Überstellungsentscheidung – Möglichkeit, die fehlerhafte Anwendung des das illegale Überschreiten einer Außengrenze betreffenden Zuständigkeitskriteriums geltend zu machen

(Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, 19. Erwägungsgrund sowie Art. 13 Abs. 1 und 27 Abs. 1)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Einreise und/oder Aufenthalt – Gestattung der Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, die in einen anderen Mitgliedstaat durchreisen und dort einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollen – Als illegales Überschreiten einer Außengrenze betrachtete Situation – Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl von Drittstaatsangehörigen, die internationalen Schutz begehren – Keine Auswirkung

(Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 13 Abs. 1)

3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Rechtsbehelf gegen eine gegenüber einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, ergangene Überstellungsentscheidung – Keine Auswirkung auf die Frist, von der die Anwendung des das illegale Überschreiten einer Außengrenze betreffenden Zuständigkeitskriteriums abhängt – Auswirkung auf den Beginn der Frist für die Vornahme der Überstellung

(Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 2, 13 Abs. 1, 27 Abs. 3 und 29 Abs. 1 und 2)

1.      Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung darauf berufen kann, dass das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung aufgestellte Zuständigkeitskriterium des illegalen Überschreitens der Grenze eines Mitgliedstaats falsch angewandt worden sei.

Hierzu hat der Gerichtshof in Rn. 61 des Urteils vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409), entschieden, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Rahmen eines solchen Rechtsbehelfs die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung aufgestellten Zuständigkeitskriteriums für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz geltend machen kann. In der Rechtssache, in der das genannte Urteil ergangen ist, ging es zwar unmittelbar nur um das in Art. 12 der Verordnung aufgestellte Kriterium. Die dort vom Gerichtshof herangezogenen Gründe gelten jedoch entsprechend auch für das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung aufgestellte Kriterium.

Zu dem vom vorlegenden Gericht angesprochenen Umstand, dass im Ausgangsverfahren ein anderer Mitgliedstaat bereits seine Zuständigkeit für die Prüfung des fraglichen Antrags auf internationalen Schutz anerkannt hat, ist festzustellen, dass nach Art. 26 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung eine Überstellungsentscheidung dem Betroffenen erst dann mitgeteilt werden kann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat seiner Aufnahme oder Wiederaufnahme zugestimmt hat Daher kann dieser Umstand nicht implizieren, dass die gerichtliche Überprüfung der Überstellungsentscheidung hinsichtlich der Anwendung der in Kapitel III der Verordnung aufgestellten Kriterien ausgeschlossen ist, denn sonst würde Art. 27 Abs. 1 der Verordnung weitgehend seiner praktischen Wirksamkeit beraubt.

(vgl. Rn. 27, 29, 30, 33-35, Tenor 1)

2.      Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Einreise von den Behörden eines Mitgliedstaats in einer Situation geduldet wird, in der sie mit der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl von Drittstaatsangehörigen konfrontiert sind, die durch diesen Mitgliedstaat, dessen grundsätzlich geforderte Einreisevoraussetzungen sie nicht erfüllen, durchreisen möchten, um in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz zu beantragen, die Grenze des erstgenannten Mitgliedstaats im Sinne von Art. 13 Abs. 1 „illegal überschritten“ hat.

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung und Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn die Überstellung für sie mit der tatsächlichen Gefahr verbunden ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erleiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 65). Eine Überstellung könnte daher nicht vorgenommen werden, wenn im zuständigen Mitgliedstaat infolge der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger eine solche Gefahr besteht.

(vgl. Rn. 41, 42, Tenor 2)

3.      Art. 13 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 604/2013 ist in Verbindung mit ihrem Art. 7 Abs. 2 dahin auszulegen, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung keine Auswirkung auf den Ablauf der in Art. 13 Abs. 1 vorgesehenen Frist hat.

Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung ist dahin auszulegen, dass die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs impliziert, dass die in diesen Bestimmungen genannte Frist – auch wenn das angerufene Gericht beschlossen hat, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen – erst zu laufen beginnt, wenn die endgültige Entscheidung über den Rechtsbehelf ergangen ist, sofern der Rechtsbehelf gemäß Art. 27 Abs. 3 der Verordnung aufschiebende Wirkung hat.

Erstens ist zu der in Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung genannten Frist festzustellen, dass nach ihrem Art. 7 Abs. 2 bei der Bestimmung des nach den Kriterien ihres Kapitels III zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen wird, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Der letzte Satz von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung ist daher so zu verstehen, dass er impliziert, dass der Mitgliedstaat, dessen Außengrenze ein Drittstaatsangehöriger illegal überschritten hat, nicht mehr auf der Grundlage dieser Bestimmung für zuständig erachtet werden kann, sofern die Frist von zwölf Monaten nach dem illegalen Grenzübertritt bereits abgelaufen ist, wenn der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.

Unter diesen Umständen kann die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung, die zwangsläufig nach der Zustellung dieser Entscheidung und damit nach der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz erfolgt, ihrem Wesen nach keine Auswirkung auf die Berechnung der in Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung genannten Frist haben.

Zweitens geht zu der in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Frist zum einen aus dem Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Absätzen dieses Artikels und zum anderen aus dem Fehlen jeder näheren Angabe in dieser Bestimmung zum Beginn der dort vorgesehenen Frist hervor, dass sie nur die Folgen des Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung genannten Frist für die Vornahme der Überstellung präzisiert (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian, C‑19/08, EU:C:2009:41, Rn. 50). Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung trägt aber den Folgen der etwaigen Einlegung eines Rechtsbehelfs Rechnung, indem er vorsieht, dass die Frist von sechs Monaten für die Vornahme der Überstellung zu laufen beginnt, wenn die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung ergangen ist, sofern dies gemäß Art. 27 Abs. 3 der Verordnung aufschiebende Wirkung hat Die Einlegung eines Rechtsbehelfs, dem wie im Ausgangsverfahren aufschiebende Wirkung beigemessen wurde, impliziert folglich, dass die Frist für die Vornahme der Überstellung grundsätzlich erst sechs Monate nach einer endgültigen Entscheidung über den Rechtsbehelf abläuft.

So stellt die in Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung genannte Frist eine Voraussetzung für die Anwendung des dort aufgestellten Kriteriums dar, und über ihre Einhaltung ist während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu wachen, an dessen Ende gegebenenfalls eine Überstellungsentscheidung ergehen kann. Dagegen bezieht sich Art. 29 Abs. 2 der Verordnung auf den Vollzug der Überstellungsentscheidung und kann erst dann angewandt werden, wenn die Überstellung im Grundsatz feststeht, d. h. frühestens dann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat das Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch angenommen hat.

(vgl. Rn. 49, 50, 52-54, 56-60, Tenor 3)