Language of document : ECLI:EU:T:2006:190

Verbundene Rechtssachen T‑391/03 und T‑70/04

Yves Franchet und Daniel Byk

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Eurostat – Zugangsverweigerung – Inspektions- und Untersuchungstätigkeiten – Rechtspflege − Verteidigungsrechte“

Leitsätze des Urteils

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlicher Rechtswirkung

(Artikel 230 EG; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Artikel 8; Beschluss 2001/937 der Kommission, Anhang, Artikel 3 und 4)

2.      Europäische Gemeinschaften – Organe – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001

(Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 1073/1999, Artikel 9 Absatz 2, und Nr. 1049/2001, Artikel 4 Absatz 2)

3.      Europäische Gemeinschaften – Organe – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Artikel 4 Absatz 2)

4.      Europäische Gemeinschaften – Organe – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Artikel 4)

5.      Europäische Gemeinschaften – Organe – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Artikel 2 Absatz  1, und 4 Absatz 2)

1.      Nur Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen, die geeignet sind, die Interessen des Klägers dadurch zu beeinträchtigen, dass sie seine Rechtsstellung in qualifizierter Weise verändern, können Gegenstand einer Nichtigkeitsklage im Sinne von Artikel 230 EG sein. Im Fall von Handlungen oder Entscheidungen, die in einem mehrphasigen Verfahren, insbesondere zum Abschluss eines internen Verfahrens, ergehen, liegt eine anfechtbare Handlung grundsätzlich nur bei den Maßnahmen vor, die den Standpunkt des Organs zum Abschluss dieses Verfahrens endgültig festlegen, nicht aber bei Zwischenmaßnahmen, die die abschließende Entscheidung vorbereiten sollen.

Insoweit ist im Rahmen des Verfahrens über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten über die Tätigkeiten des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) nach den Artikeln 3 und 4 des Anhangs des Beschlusses 2001/937 zur Änderung der Geschäftsordnung der Kommission in Verbindung mit Artikel 8 der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission eine Antwort auf den ursprünglichen Antrag auf Zugang nur eine erste Stellungnahme, die den Betroffenen die Möglichkeit gibt, den Generalsekretär der Kommission oder den Direktor des OLAF um Überprüfung dieses Standpunkts zu ersuchen. Allein deren Maßnahme, die ihrer Art nach eine Entscheidung ist und die vorausgegangene Stellungnahme vollständig ersetzt, kann also Rechtswirkungen erzeugen, die die Interessen der Kläger beeinträchtigen können, und somit Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 230 EG sein.

(vgl. Randnrn. 46-48)

2.      Die Ausnahmen nach Artikel 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission müssen eng ausgelegt und angewandt werden, um die Anwendung der Regel des Zugangs zu Dokumenten, die in dieser Verordnung verankert ist, nicht zu beeinträchtigen.

Was die Ausnahme zum Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung angeht, so ist der Begriff „Rechtspflege“ dahin auszulegen, dass der Schutz des öffentlichen Interesses einer Weitergabe des Inhalts von Dokumenten entgegensteht, die nur für ein bestimmtes Gerichtsverfahren erstellt wurden, d. h. die eingereichten Schriftsätze oder Dokumente, die internen Schriftstücke, die die Bearbeitung der anhängigen Rechtssache betreffen, und der Schriftwechsel über die Rechtssache zwischen der betroffenen Generaldirektion und dem Juristischen Dienst oder einer Rechtsanwaltskanzlei. Das Organ kann sich hingegen nicht aufgrund der zum Schutz der Rechtspflege vorgesehenen Ausnahme der Verpflichtung entziehen, Dokumente zugänglich zu machen, die im Rahmen einer reinen Verwaltungsangelegenheit erstellt worden sind.

Insofern ist die Annahme, dass die vom Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) nach Artikel 10 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1073/1999 über die Untersuchungen des OLAF an die nationalen Behörden oder nach Artikel 10 Absatz 3 dieser Verordnung an ein Organ übermittelten Dokumente nur für ein Gerichtsverfahren erstellt wurden, nicht mit der Verpflichtung vereinbar, Ausnahmen eng auszulegen und anzuwenden. Nach Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1073/1999 stellen die Berichte des OLAF nämlich zulässige Beweismittel in den Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren des Mitgliedstaats dar, in dem sich ihre Verwendung als erforderlich erweist. Wie die zuständigen nationalen Behörden oder die Organe auf die vom OLAF übermittelten Berichte und Informationen hin verfahren, fällt jedoch allein und vollständig in deren Verantwortungsbereich.

Außerdem ist die Einhaltung der nationalen Verfahrensvorschriften ausreichend gewährleistet, wenn das Organ sicherstellt, dass die Bekanntgabe der Dokumente nicht gegen nationales Recht verstößt. So muss das OLAF im Zweifelsfall das einzelstaatliche Gericht oder die nationale Behörde konsultieren und darf den Zugang nur dann verweigern, wenn diese sich gegen die Bekanntgabe der Dokumente ausgesprochen haben.

(vgl. Randnrn. 84, 88, 90-91, 94-95, 97-98)

3.      Artikel 4 Absatz 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission ist dahin auszulegen, dass diese Vorschrift, die „[den Zweck] von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten“ schützen soll, nur dann anwendbar ist, wenn die Zugänglichmachung der betreffenden Dokumente dazu führen könnte, dass die Inspektions‑, Untersuchungs- und Audittätigkeiten nicht abgeschlossen werden können.

Untersuchungs‑ oder Inspektionshandlungen können auch noch unter die Ausnahme zum Schutz von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten fallen, solange die Untersuchungs‑ oder Inspektionstätigkeiten noch im Gange sind, selbst wenn die konkrete Untersuchung oder Inspektion, die Grundlage des Berichts ist, zu dem Zugang begehrt wird, beendet ist.

Nähme man jedoch an, dass die verschiedenen mit Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten im Zusammenhang stehenden Dokumente solange unter die in Artikel 4 Absatz 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahmen fallen, wie die in diesen Verfahren zu ergreifenden Folgemaßnahmen nicht bestimmt wurden, würde man den Zugang zu diesen Dokumenten je nach der Schnelligkeit und Sorgfalt der befassten Verwaltungsstellen von einem zufälligen, künftigen und vielleicht fern liegenden Ereignis abhängig machen.

(vgl. Randnrn. 109-111)

4.      Die Prüfung, die im Rahmen der Bearbeitung eines in einem Verfahren nach der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission eingereichten Antrags auf Zugang zu Dokumenten erforderlich ist, muss konkret sein. Zum einen kann der bloße Umstand, dass ein Dokument ein durch in dieser Verordnung vorgesehene Ausnahmen geschütztes Interesse betrifft, nicht ausreichen, um deren Anwendung zu rechtfertigen. Zum anderen muss die Gefahr einer Beeinträchtigung eines geschützten Interesses absehbar und darf nicht rein hypothetisch sein. Die Prüfung, die das Organ durchführen muss, um eine Ausnahme anzuwenden, muss daher konkret sein und aus der Begründung der Entscheidung hervorgehen.

Eine konkrete und individuelle Prüfung jedes Dokuments ist auch deswegen erforderlich, weil – auch in den Fällen, in denen klar ist, dass ein Antrag auf Akteneinsicht von einer Ausnahme erfasste Dokumente betrifft – nur eine solche Prüfung es dem Organ ermöglicht, zu beurteilen, ob dem Antragsteller teilweiser Zugang nach Artikel 4 Absatz 6 der Verordnung Nr. 1049/2001 gewährt werden kann. Das Organ muss also, erstens, prüfen, ob das beantragte Dokument unter eine der in Artikel 4 der genannten Verordnung vorgesehenen Ausnahmen fällt, zweitens, falls dies der Fall ist, ob in Bezug auf die betreffende Ausnahme tatsächlich ein Schutzbedarf besteht, und drittens, ob dieser für das gesamte Dokument besteht.

(vgl. Randnrn. 115, 117-118)

5.      Die Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission soll den Zugang aller zu den Dokumenten gewährleisten und nicht nur den Zugang des jeweiligen Antragstellers zu den ihn betreffenden Dokumenten. Daher ist das besondere Interesse, das ein Antragsteller am Zugang zu einem Dokument geltend machen kann, das ihn persönlich betrifft, nicht zu berücksichtigen, um dessen Zugänglichmachung im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 dieser Verordnung zu rechtfertigen.

Die Verfahrensrechte kommen insofern in dem subjektiven Interesse der Betroffenen an ihrer Verteidigung zum Ausdruck und implizieren daher kein allgemeines, sondern ein privates Interesse. Diese Rechte stellen daher kein die Zugänglichmachung der beantragten Dokumente rechtfertigendes überwiegendes öffentliches Interesse im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der genannten Verordnung dar.

(vgl. Randnrn. 136-139)