Language of document : ECLI:EU:T:2014:906

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

6. Juli 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung – Richtlinie 2008/115/EU – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Aufschub der Abschiebung“

In der Rechtssache C‑663/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 20. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. November 2021, in dem Verfahren

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

gegen

AA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz und A. Kumin,


Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und V.‑S. Strasser als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, A. Van Baelen und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Edelmannová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoeschet als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, B. Eggers, L. Grønfeldt und A. Katsimerou als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) sowie der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) und insbesondere ihres Art. 5.

2        Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen AA, einem Drittstaatsangehörigen, und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich, im Folgenden: Amt) wegen der Entscheidung des Amts, ihm die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu verweigern, eine mit einem Aufenthaltsverbot einhergehende Rückkehrentscheidung gegen ihn zu erlassen und eine Frist für die freiwillige Ausreise zu setzen.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Konvention).

4        Art. 33 dieser Konvention bestimmt:

„1.      Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

2.      Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

 Richtlinie 2008/115

5        Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 der [Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

b)      die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“

6        In Art. 3 Nr. 3 dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–        deren Herkunftsland oder

–        ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–        ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird“.

7        Art. 5 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

8        Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

9        In Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn … keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der … eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“

10      Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,

a)      wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde …“

 Richtlinie 2011/95

11      Der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [(im Folgenden: Charta)] anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden.“

12      Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“.

13      Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

a)      es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;

b)      er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.“

14      Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie lautet:

„Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn

a)      es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, oder

b)      er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      AA reiste am 10. Dezember 2014 unrechtmäßig in Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Amts vom 22. Dezember 2015 erkannte ihm das Amt die Flüchtlingseigenschaft zu.

16      Am 22. März 2018 wurde AA wegen gefährlicher Drohung, Sachbeschädigung, unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften und Suchtgifthandels zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten sowie zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt. Am 14. Januar 2019 wurde AA wegen Körperverletzung und gefährlicher Drohung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Am 11. März 2019 wurde er wegen versuchter Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Der Vollzug dieser Freiheitsstrafen wurde bedingt nachgesehen.

17      Am 13. August 2019 wurde AA wegen aggressiven Verhaltens gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht mit einer Geldstrafe belegt.

18      Mit Bescheid vom 24. September 2019 entzog das Bundesamt AA die Flüchtlingseigenschaft, lehnte die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen ab, erließ gegen AA eine mit einem Aufenthaltsverbot einhergehende Rückkehrentscheidung und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest, stellte jedoch fest, dass seine Abschiebung nicht zulässig sei.

19      Gegen diesen Bescheid des Amts vom 24. September 2019 erhob AA Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Österreich). Später erklärte er, dass er seine Beschwerde zurückziehe, soweit sie sich auf den Teil des Spruchpunkts dieser Entscheidung beziehe, in dem die Unzulässigkeit seiner Abschiebung festgestellt worden sei.

20      Am 16. Juni und 8. Oktober 2020 wurde AA wegen Körperverletzung und gefährlicher Drohung zu Freiheitsstrafen von vier bzw. fünf Monaten verurteilt, ohne dass die zuvor ausgesprochenen Strafnachsichten widerrufen wurden.

21      Mit Erkenntnis vom 28. Mai 2021 hob das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) die streitigen Teile des Bescheids des Amts vom 24. September 2019 auf. Dieses Gericht stellte fest, dass AA wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden sei und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Dennoch war es der Ansicht, dass die Interessen des Asylmitgliedstaats und die des betreffenden Drittstaatsangehörigen, internationalen Schutz zu genießen, gegeneinander abgewogen werden müssten, wobei das Ausmaß und die Art der Maßnahmen zu berücksichtigen seien, denen dieser im Fall der Aberkennung dieses Schutzes ausgesetzt wäre. Da AA bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland einem Folter- und Todesrisiko ausgesetzt wäre, überwögen seine Interessen gegenüber denen der Republik Österreich.

22      Das Amt legte gegen dieses Erkenntnis Revision beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich), dem vorlegenden Gericht, ein.

23      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob, nachdem festgestellt worden ist, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen der Begehung einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, für die Zwecke der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Folgen einer etwaigen Rückkehr dieses Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland vorzunehmen ist.

24      Außerdem hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob der Erlass einer Rückkehrentscheidung in Fällen, in denen der internationale Schutz entzogen wurde, aber bereits feststeht, dass die Abschiebung in das Herkunftsland rechtswidrig ist, mit der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist. In einer solchen Situation würde nämlich der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen in Österreich toleriert, ohne dass dieser Aufenthalt rechtmäßig wäre oder gegen den Drittstaatsangehörigen tatsächlich eine Rückkehrentscheidung ergangen wäre.

25      Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist bei der Beurteilung, ob der einem Flüchtling von der zuständigen Behörde zuvor zuerkannte Status des Asylberechtigten aus dem in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund aberkannt werden darf, eine Güterabwägung als eigenständiges Kriterium in der Form vorzunehmen, dass es für die Aberkennung erforderlich ist, dass die öffentlichen Interessen für die Rückführung die Interessen des Flüchtlings am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen müssen, wobei dabei die Verwerflichkeit eines Verbrechens und die potenzielle Gefahr für die Allgemeinheit den Schutzinteressen des Fremden – beinhaltend das Ausmaß und die Art der ihm drohenden Maßnahmen – gegenüberzustellen sind?

2.      Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115, im Besonderen deren Art. 5, 6, 8 und 9, einer nationalen Rechtslage entgegen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem sein bisheriges Aufenthaltsrecht als Flüchtling durch Aberkennung des Status des Asylberechtigten entzogen wird, selbst dann eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn bereits im Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung feststeht, dass eine Abschiebung wegen des Verbots des Refoulement auf unbestimmte Dauer nicht zulässig ist und dies auch in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt wird?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

26      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung von der Voraussetzung abhängt, dass am Ende einer Abwägung festgestellt wird, dass das öffentliche Interesse an der Rückkehr des betreffenden Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland im Hinblick auf das Ausmaß und die Art der Maßnahmen, denen er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt sein könnte, sein Interesse an der Aufrechterhaltung des internationalen Schutzes überwiegt.

27      Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung aberkennen können, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

28      Aus den Rn. 27 bis 42 des Urteils vom heutigen Tag, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C‑8/22), geht hervor, dass die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b von der Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen abhängt, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

29      Auch wenn sich die in der vorliegenden Rechtssache gestellten Fragen nicht auf die erste dieser Voraussetzungen beziehen, ist es daher, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, indem es sich vergewissert, dass mindestens eine der Straftaten, für die AA rechtskräftig verurteilt wurde, als „besonders schwere Straftat“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b einzustufen ist.

30      Insoweit ergibt sich aus den Rn. 23 bis 47 des Urteils vom heutigen Tag, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Besonders schwere Straftat) (C‑402/22), dass eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung eine Straftat ist, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale eine außerordentliche Schwere aufweist, da sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Bei der Beurteilung, ob eine Straftat, wegen der ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen Schweregrad aufweist, sind insbesondere die für diese Straftat angedrohte und die verhängte Strafe, die Art der Straftat, etwaige erschwerende oder mildernde Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat zu berücksichtigen.

31      Der Gerichtshof hat insbesondere in Rn. 39 jenes Urteils entschieden, dass die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur gerechtfertigt sein kann, wenn eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer Straftat erfolgt, die für sich genommen unter den Begriff „besonders schwere Straftat“ fällt, was voraussetzt, dass sie den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Schweregrad aufweist, wobei dieser Schweregrad nicht durch eine Kumulierung einzelner Straftaten erreicht werden kann, von denen keine als solche eine besonders schwere Straftat darstellt.

32      Was die zweite der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen betrifft, ergibt sich aus den Rn. 46 bis 65 des Urteils vom heutigen Tag, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C‑8/22), dass eine Maßnahme im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b nur erlassen werden kann, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Im Rahmen der Beurteilung des Vorliegens einer solchen Gefahr hat die zuständige Behörde eine Prüfung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen.

33      Außerdem muss diese Behörde, wie in den Rn. 66 bis 70 jenes Urteils ausgeführt, die Gefahr, die von dem betreffenden Drittstaatsangehörigen für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, ausgeht, gegen die Rechte abwägen, die nach der Richtlinie 2011/95 den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie erfüllen, um festzustellen, ob der Erlass einer Maßnahme im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie eine Maßnahme darstellt, die in einem angemessenen Verhältnis zu dieser Gefahr steht.

34      Im vorliegenden Fall ist in Anbetracht der Fragen des vorlegenden Gerichts zu ermitteln, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie im Rahmen dieser Abwägung die Mitgliedstaaten darüber hinaus verpflichtet, die Folgen zu berücksichtigen, die eine etwaige Rückkehr des Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland für den betreffenden Drittstaatsangehörigen oder für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich dieser Drittstaatsangehörige aufhält, hätte.

35      Insoweit ist zwar darauf hinzuweisen, dass die in Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 genannten Fälle, in denen die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft aberkennen können, im Wesentlichen denen entsprechen, in denen die Mitgliedstaaten einen Flüchtling nach Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie und Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention zurückweisen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 93).

36      Während jedoch der Flüchtling nach Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention in solchen Fällen den Grundsatz der Nichtzurückweisung in ein Land, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind, nicht mehr in Anspruch nehmen kann, ist Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, wie in ihrem 16. Erwägungsgrund bestätigt, unter Achtung der in der Charta, insbesondere in deren Art. 4 und Art. 19 Abs. 2, verankerten Rechte auszulegen und anzuwenden, wonach Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafen und Behandlungen unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person ebenso wie die Abschiebung in einen Staat, in dem einer Person das ernsthafte Risiko einer solchen Behandlung droht, uneingeschränkt verboten sind. Daher können die Mitgliedstaaten einen Ausländer nicht abschieben, ausweisen oder ausliefern, wenn es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass für ihn die reale Gefahr besteht, im Bestimmungsland einer durch Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta verbotenen Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 94).

37      Wenn die Zurückweisung eines Flüchtlings, der von einer der in Art. 14 Abs. 4 sowie in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Fallgruppen erfasst wird, ihn der Gefahr aussetzen würde, in seinen in Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechten verletzt zu werden, kann der betreffende Mitgliedstaat daher nicht gemäß Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention vom Grundsatz der Nichtzurückweisung abweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 95).

38      Soweit Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 in den darin genannten Fällen vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die „Flüchtlingseigenschaft“ im Sinne dieser Richtlinie aberkennen können, während Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention die Zurückweisung eines sich in einer solchen Situation befindlichen Flüchtlings in einen Staat, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind, zulässt, sieht das Unionsrecht somit einen weiteren internationalen Schutz der betreffenden Flüchtlinge vor, als er durch diese Konvention gewährleistet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 96).

39      Daher kann nach dem Unionsrecht die zuständige Behörde berechtigt sein, nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 die einem Drittstaatsangehörigen zuerkannte Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, ohne jedoch zwangsläufig die Abschiebung in sein Herkunftsland vornehmen zu dürfen.

40      In verfahrensrechtlicher Hinsicht würde eine solche Abschiebung außerdem den Erlass einer Rückkehrentscheidung unter Beachtung der in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen materiellen und verfahrensrechtlichen Garantien voraussetzen, die u. a. in ihrem Art. 5 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei der Umsetzung dieser Richtlinie den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten.

41      Somit impliziert die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 keine Stellungnahme zu der gesonderten Frage, ob diese Person in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 110).

42      Daher sind die Folgen, die eine etwaige Rückkehr des Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland für ihn oder für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats hätte, in dem er sich aufhält, nicht bei Erlass der Entscheidung, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, sondern gegebenenfalls dann zu berücksichtigen, wenn die zuständige Behörde beabsichtigt, gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

43      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung von der Feststellung der zuständigen Behörde abhängt, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft angesichts der Gefahr, die der betreffende Drittstaatsangehörige für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck muss die zuständige Behörde diese Gefahr gegen die Rechte abwägen, die nach der Richtlinie den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie erfüllen, ohne dass sie jedoch darüber hinaus prüfen müsste, ob das öffentliche Interesse an der Rückkehr dieses Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland in Anbetracht des Ausmaßes und der Art der Maßnahmen, denen er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, sein Interesse an der Aufrechterhaltung des internationalen Schutzes überwiegt.

 Zur zweiten Frage

44      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115, insbesondere ihr Art. 5, dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist.

45      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung findet. Im Übrigen ist ein Drittstaatsangehöriger, wenn er in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 52).

46      In dieser Hinsicht geht zum einen aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass dann, wenn die Illegalität des Aufenthalts erwiesen ist, gegenüber jedem Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 unter strikter Einhaltung der in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 53).

47      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Drittstaatsangehöriger, dem die Flüchtlingseigenschaft aberkannt wurde, als illegal aufhältig anzusehen ist, es sei denn, ihm ist von dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, aus einem anderen Grund eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden.

48      Zum anderen darf ein Mitgliedstaat einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht nach Art. 8 der Richtlinie 2008/115 abschieben, ohne dass zuvor eine Rückkehrentscheidung gegen diesen Drittstaatsangehörigen unter Beachtung der durch diese Richtlinie eingeführten materiellen und prozessualen Garantien erlassen wurde (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 54).

49      Zweitens verpflichtet Art. 5 der Richtlinie 2008/115, der eine für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie geltende allgemeine Regel darstellt, die zuständige nationale Behörde, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten, der als Grundrecht in Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention sowie in Art. 19 Abs. 2 der Charta gewährleistet ist. Dies gilt u. a. dann, wenn diese Behörde nach Anhörung des Betroffenen beabsichtigt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis] C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 55).

50      Art. 5 der Richtlinie 2008/115 steht daher dem entgegen, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergeht, wenn in dieser Entscheidung als Zielland ein Land angegeben wird, bei dem es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 56).

51      Genau dies ist in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens der Fall, in der die zuständige Behörde die Rückkehr eines Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland in Betracht zieht, aber bereits festgestellt hat, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung einer solchen Rückkehr entgegensteht.

52      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist.

 Kosten

53      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

die Anwendung dieser Bestimmung von der Feststellung der zuständigen Behörde abhängt, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft angesichts der Gefahr, die der betreffende Drittstaatsangehörige für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck muss die zuständige Behörde diese Gefahr gegen die Rechte abwägen, die nach der Richtlinie den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie erfüllen, ohne dass sie jedoch darüber hinaus prüfen müsste, ob das öffentliche Interesse an der Rückkehr dieses Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland in Anbetracht des Ausmaßes und der Art der Maßnahmen, denen er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, sein Interesse an der Aufrechterhaltung des internationalen Schutzes überwiegt.

2.      Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger

ist dahin auszulegen, dass

er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist.

Arabadjiev

Bay Larsen

Xuereb

von Danwitz

 

Kumin

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 6. Juli 2023.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

A. Arabadjiev


*      Verfahrenssprache: Deutsch.