Language of document : ECLI:EU:T:2021:645

Rechtssache T167/19

(auszugsweise Veröffentlichung)

Tempus Energy Germany GmbH
und
T Energy Sweden AB

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 6. Oktober 2021

„Staatliche Beihilfen – Polnischer Strommarkt – Kapazitätsmechanismus – Entscheidung, keine Einwände zu erheben – Beihilferegelung – Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV – Begriff der Bedenken – Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung (EU) 2015/1589 – Ernsthafte Schwierigkeiten – Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014‑2020 – Verfahrensrechte der Beteiligten – Begründungspflicht“

1.      Gerichtliches Verfahren – Streithilfe – Antrag, der auf die Unterstützung der Anträge einer Partei gerichtet ist – Antrag, in dem eine unverzichtbare Prozessvoraussetzung gerügt wird – Gerichtliche Prüfung von Amts wegen

(Art. 108 Abs. 2 und Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 1 Buchst. h, Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1)

(vgl. Rn. 35, 36)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Beschluss der Kommission, mit dem ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV – Klage zur Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten – Zulässigkeit

(Art. 108 Abs. 2 und Art. 263 Abs. 4 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 1 Buchst. h, Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1)

(vgl. Rn. 37, 42)

3.      Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Verwaltungsverfahren – Beteiligter im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV – Begriff – Mit dem Empfänger der Beihilfe nicht in einem unmittelbaren Wettbewerbsverhältnis stehendes Unternehmen – Von diesem Unternehmen zu erbringender Nachweis, dass sich die Beihilfe konkret auf seine Lage auswirkt

(Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 1 Buchst. h)

(vgl. Rn. 38‑40)

4.      Nichtigkeitsklage – Zulässigkeitsvoraussetzungen – Natürliche oder juristische Personen – Von mehreren Klägern erhobene Klage gegen dieselbe Entscheidung – Klagebefugnis eines der Kläger – Zulässigkeit der Klage insgesamt

(Art. 263 Abs. 4 AEUV)

(vgl. Rn. 41)

5.      Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Prüfungsphase – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Prüfungsverfahren einzuleiten – Ernsthafte Schwierigkeiten – Begriff – Objektiver Charakter – Beweislast – Umstände, die das Vorliegen solcher Schwierigkeiten belegen können – Bündel übereinstimmender Indizien im Zusammenhang mit dem Ablauf und der Dauer des Vorprüfungsverfahrens, den Umständen des Erlasses des angefochtenen Beschlusses der Kommission und dessen Inhalt – Auswirkungen der Dauer und der Umstände der Vorabkontakte – Fehlen von Beweisen

(Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 4 Abs. 3 und 4)

(vgl. Rn. 46‑51, 63‑72, 98, 99, 103, 106, 107, 114, 118, 123, 129, 132, 139, 143, 146, 147, 172, 179, 181, 187, 188, 192, 193, 198, 204, 207, 230, 232, 237, 239, 259, 268, 272, 285, 297)

6.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Ermessen der Kommission – Von ihr aufgestellte Leitlinien mit Maßstäben für die Prüfung der Vereinbarkeit der Beihilfen mit dem Binnenmarkt – Folgen – Selbstbeschränkung ihres Ermessens

(Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV; Mitteilung 2014/C 200/1 der Kommission)

(vgl. Rn. 76)

7.      Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen, die als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können – Im Energiesektor gewährte Beihilfen – Leitlinien für Umweltschutz- und Energiebeihilfen – Beihilfen zur Förderung einer angemessenen Stromerzeugung – Kriterien

(Art. 5 Abs. 4 EUV; Art. 107 Abs. 3 Buchst. c und Art. 194 Abs. 1 AEUV; Mitteilung 2014/C 200/1 der Kommission)

(vgl. Rn. 90‑98, 111, 117‑122, 132, 137, 139, 180, 196, 197, 219, 220, 245, 246, 252, 283, 290)

8.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Gleichbehandlung – Objektiv gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung – Beurteilungskriterien

(vgl. Rn. 161‑171, 218, 224, 225)

9.      Rechtsangleichung – Angleichungsmaßnahmen – Gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt – Richtlinie 2009/72 – Beteiligung ausländischer Kapazitäten am nationalen Kapazitätsmarkt über ausländische Übertragungsnetzbetreiber – Austausch mit anderen Verbundnetzen – Aufgaben der Übertragungsnetzbetreiber – Umfang

(Richtlinie 2009/72 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12)

(vgl. Rn. 228, 230, 233)

Zusammenfassung

Mit Beschluss vom 7. Februar 2018(1) hat die Europäische Kommission entschieden, keine Einwände gegen eine von Polen angemeldete staatliche Beihilferegelung zu erheben, nach der den Kapazitätsanbietern auf dem polnischen Strommarkt über einen Zeitraum von zehn Jahren jährlich vier Milliarden polnische Złoty (PLN) ausgezahlt werden (im Folgenden: angemeldete Beihilferegelung). Ohne das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, hat die Kommission insbesondere die Auffassung vertreten, dass diese Beihilferegelung gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei(2).

Mit dem so genehmigten Kapazitätsmechanismus soll die erwartete Lücke zwischen Nachfrage und Kapazität auf dem polnischen Strommarkt geschlossen und somit die Versorgungssicherheit nachhaltig gewährleistet werden. Nach diesem Mechanismus werden Kapazitätsanbieter anhand regelmäßig organisierter landesweiter Auktionen ausgewählt. Die Anbieter erhalten während der Laufzeit des Kapazitätsvertrags eine feste Vergütung und garantieren im Gegenzug, Kapazitäten in den Lieferzeiten bereitzustellen und im Notfall tatsächlich bereitzustellen. Diese Kapazitäten können entweder durch die Erzeugung und Bereitstellung von Strom oder im Fall der Steuerung der Stromnachfrage (Demand-Side Response, im Folgenden: DSR) durch die Senkung der Nachfrage in Zeiten hoher Netzbelastung zur Verfügung gestellt werden.

Die Auktionen stehen bestehenden und neuen Erzeugern, DSR-Anbietern und Speicherbetreibern mit Sitz in Polen oder in den Nachbarländern offen. Die Laufzeit der zu gewährenden Kapazitätsverträge richtet sich grundsätzlich nach der Höhe der Investitionsausgaben der betreffenden Kapazitätsanbieter. Die festen Vergütungen werden durch eine beim Endverbraucher erhobene Abgabe für Stromlieferungen finanziert.

Der Beschluss, keine Einwände gegen die angemeldete Beihilferegelung zu erheben, wurde von der Tempus Energy Germany GmbH und der T Energy Sweden AB (im Folgenden zusammen: Tempus) angefochten. Diese Gesellschaften vertreiben eine DSR-Technologie bei Privatpersonen und Gewerbetreibenden u. a. auf dem deutschen und dem schwedischen Strommarkt.

Das Gericht weist die Nichtigkeitsklage von Tempus jedoch ab. In seinem Urteil geht es näher auf die Frage der Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage gegen einen Beschluss der Kommission, keine Einwände gegen eine angemeldete Beihilferegelung zu erheben, ein und klärt die Tragweite bestimmter Vorschriften der Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen(3).

Würdigung durch das Gericht

Erstens führt das Gericht zur Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage von Tempus aus, dass Tempus Beteiligte im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 1 Buchst. h der Verordnung über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 AEUV(4) ist, da sie durch den Beschluss, keine Einwände zu erheben, daran gehindert wurde, sich in einem förmlichen Prüfverfahren im Sinne von Art. 108 Abs. 2 AEUV zu äußern.

Insoweit weist das Gericht das Vorbringen zurück, Tempus komme nicht als Beteiligte in Betracht, da sie kein „direkter Wettbewerber“ auf dem polnischen Kapazitätsmarkt sei. Tempus ist nämlich zumindest ein potenzieller Wettbewerber auf diesem Markt, da sie fest entschlossen ist, in naher Zukunft in diesen Markt einzutreten, und die angemeldete Beihilferegelung zu Hindernissen führt, die den Markteintritt erschweren. Tempus hat somit in rechtlich hinreichender Weise dargetan, dass ihre Interessen durch die angemeldete Beihilferegelung beeinträchtigt werden könnten und sich die Gewährung sowohl der Kapazitätsvereinbarungen als auch der Kapazitätsvergütungen auf ihre Situation konkret auswirken könnte. Darüber hinaus wird der Status von Tempus als Beteiligte durch ihre Eigenschaft als aktive Wirtschaftsteilnehmerin auf den benachbarten deutschen und schwedischen Strommärkten bekräftigt, die es ihr ermöglicht, sich am polnischen Kapazitätsmarkt zu beteiligen.

Das Gericht stellt fest, dass mit den angeführten Nichtigkeitsgründen ernsthafte Schwierigkeiten geltend gemacht werden, die die Kommission dazu hätten veranlassen müssen, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, um die Tempus nach Art. 108 Abs. 2 AEUV eingeräumten Verfahrensrechte zu schützen, und bestätigt damit die Zulässigkeit der Klage von Tempus.

Zweitens prüft das Gericht die materiell-rechtliche Frage, ob das vorliegend von der Kommission durchgeführte Vorprüfungsverfahren zu ernsthaften Schwierigkeiten oder Bedenken(5) in Bezug auf die Vereinbarkeit der angemeldeten Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt geführt hat und die Kommission gegebenenfalls, ohne hierbei über ein Ermessen zu verfügen, das in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehene förmliche Prüfverfahren hätte einleiten müssen.

Das Gericht präzisiert zunächst, dass das Vorliegen ernsthafter Schwierigkeiten oder Bedenken nicht nur anhand der Umstände des Erlasses der Vorprüfungsentscheidung der Kommission, sondern auch anhand der Erwägungen, auf die sich die Kommission gestützt hat, zu beurteilen ist, und weist sodann alle von Tempus in Bezug auf das Vorliegen ernsthafter Schwierigkeiten oder Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt vorgebrachten Argumente zurück. Diese betrafen zum einen den Ablauf und die Dauer des Verfahrens und zum anderen den Inhalt des Beschlusses, keine Einwände zu erheben, sowie insbesondere die Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt, die im Hinblick auf die Bestimmungen in den Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen falsch, unvollständig oder unzureichend sei.

Zu diesem letzten Aspekt führt das Gericht u. a. aus, dass die Mitgliedstaaten gemäß den Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen die potenziell widersprüchlichen Ziele der Energieversorgungssicherheit und des Umweltschutzes unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gegeneinander abwägen müssen. Selbst wenn mit diesen Leitlinien also das allgemeinere Ziel verfolgt wird, den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen emissionsarmen Wirtschaft mit effizientem Ressourceneinsatz zu fördern(6), dürfen sie nicht dahin ausgelegt werden, dass sie Beihilfemaßnahmen zugunsten konventioneller Erzeugungsanlagen verbieten, wenn diese sich als notwendig erweisen, um eine angemessene Stromerzeugung und damit die Energieversorgungssicherheit zu gewährleisten, und auch nicht dahin, dass sie einen absoluten Vorrang alternativer Techniken wie DSR vorschreiben.


1      Beschluss C(2018) 601 final der Europäischen Kommission vom 7. Februar 2018, keine Einwände gegen die Beihilferegelung zum Kapazitätsmarkt in Polen zu erheben (staatliche Beihilfe SA.46100 [2017/N]).


2      Gemäß dieser Bestimmung können Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft.


3      Mitteilung der Kommission – Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014‑2020 (ABl. 2014, C 200, S. 1).


4      Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9).


5      Im Sinne von Art. 4 Abs. 3 der Verordnung 2015/1589.


6      Vgl. Rn. 30 der Leitlinien.