Language of document : ECLI:EU:C:2016:109

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 23. Februar 2016(1)

Rechtssache C‑117/15

Reha Training Gesellschaft für Sport- und Unfallrehabilitation mbH

gegen

Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte e. V. (GEMA)

(Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Köln [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft – Anwendungsbereich der Richtlinien 2001/29/EG und 2006/115/EG – Auslegung des Begriffs ‚öffentliche Wiedergabe‘ – Verbreitung von Fernsehsendungen in den Räumlichkeiten eines Rehabilitationszentrums“





1.        Mit seinen Vorlagefragen möchte das Landgericht Köln wissen, ob es eine „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft(2) und von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums(3) darstellt, wenn – wie im Ausgangsverfahren – der Betreiber eines Rehabilitationszentrums in seinen Räumlichkeiten Fernsehgeräte installiert, zu denen er ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen für seine Patienten wahrnehmbar macht, und ob der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne dieser beiden Bestimmungen einheitlich auszulegen ist.

2.        Diese Fragen werden dem Gerichtshof in einem Rechtsstreit gestellt, der zwischen der Reha Training Gesellschaft für Sport- und Unfallrehabilitation mbH (im Folgenden: Reha Training), die ein Rehabilitationszentrum betreibt, und der für die gemeinsame Wahrnehmung von Urheberrechten im Bereich der Musik in Deutschland zuständigen Gesellschaft für musikalische Aufführungs‑ und mechanische Vervielfältigungsrechte e. V. (GEMA) wegen Verweigerung der Zahlung urheberrechtlicher Gebühren für die Zugänglichmachung von geschützten Werken in den Räumlichkeiten von Reha Training geführt wird.

3.        Der Gerichtshof hatte den Begriff „öffentliche Wiedergabe“, für den er eine weite Auslegung vertritt, bereits wiederholt auszulegen. Er hat dafür vier Beurteilungskriterien herausgearbeitet, und zwar das Vorliegen einer „Handlung der Wiedergabe“, für die der Nutzer eine unumgängliche Rolle spielt, die „öffentliche“ Wiedergabe eines geschützten Werkes, die „Neuheit“ dieser Öffentlichkeit und den „entgeltlichen“ Charakter der Wiedergabe.

4.        Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Möglichkeit, seine Rechtsprechung in diesem Bereich in Erinnerung zu rufen und zu verdeutlichen.

5.        Ich werde in diesen Schlussanträgen zunächst erklären, aus welchen Gründen ich der Ansicht bin, dass der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 nach denselben Kriterien zu bestimmen ist.

6.        Sodann werde ich zeigen, warum in Fällen wie dem Ausgangsverfahren Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 beide angewandt werden können.

7.        Schließlich werde ich die Gründe darlegen, aus denen Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 meines Erachtens dahin auszulegen sind, dass es eine „öffentliche Wiedergabe“ darstellt, wenn – wie im Ausgangsverfahren – der Betreiber eines Rehabilitationszentrums in seinen Räumlichkeiten Fernsehgeräte installiert, zu denen er ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen für seine Patienten wahrnehmbar macht.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Richtlinie 2001/29

8.        In den Erwägungsgründen 9, 20 und 23 der Richtlinie 2001/29 heißt es:

„(9)      Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. Ihr Schutz trägt dazu bei, die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit im Interesse der Urheber, ausübenden Künstler, Hersteller, Verbraucher, von Kultur und Wirtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen. Das geistige Eigentum ist daher als Bestandteil des Eigentums anerkannt worden.

(20)      Die vorliegende Richtlinie beruht auf den Grundsätzen und Bestimmungen, die in den einschlägigen geltenden Richtlinien bereits festgeschrieben sind, und zwar insbesondere in [der Richtlinie 92/100/EWG des Rates vom 19. November 1992 über das Vermietrecht und Verleihrecht sowie bestimmte dem Urheberrecht verwandte Schutzrechte im Bereich des geistigen Eigentums(4), in der durch die Richtlinie 93/98/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 geänderten Fassung(5)]. Die betreffenden Grundsätze und Bestimmungen werden fortentwickelt und in den Rahmen der Informationsgesellschaft eingeordnet. Die Bestimmungen dieser Richtlinie sollten unbeschadet der genannten Richtlinien gelten, sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt.

(23)      Mit dieser Richtlinie sollte das für die öffentliche Wiedergabe geltende Urheberrecht weiter harmonisiert werden. Dieses Recht sollte im weiten Sinne verstanden werden, nämlich dahin gehend, dass es jegliche Wiedergabe an die Öffentlichkeit umfasst, die an dem Ort, an dem die Wiedergabe ihren Ursprung nimmt, nicht anwesend ist. Dieses Recht sollte jegliche entsprechende drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Übertragung oder Weiterverbreitung eines Werks, einschließlich der Rundfunkübertragung, umfassen. Dieses Recht sollte für keine weiteren Handlungen gelten.“

9.        Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.“

10.      In Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie heißt es:

„Der Schutz der dem Urheberrecht verwandten Schutzrechte im Sinne dieser Richtlinie lässt den Schutz des Urheberrechts unberührt und beeinträchtigt ihn in keiner Weise.“

2.      Richtlinie 2006/115

11.      Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/115 lautet:

„Dem angemessenen Schutz von urheberrechtlich geschützten Werken und Gegenständen der verwandten Schutzrechte durch Vermiet- und Verleihrechte sowie dem Schutz von Gegenständen der verwandten Schutzrechte durch das Aufzeichnungsrecht, Verbreitungsrecht, Senderecht und Recht der öffentlichen Wiedergabe kommt … eine grundlegende Bedeutung für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Gemeinschaft zu.“

12.      Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen ein Recht vor, das bei Nutzung eines zu Handelszwecken veröffentlichten Tonträgers oder eines Vervielfältigungsstücks eines solchen Tonträgers für drahtlos übertragene Rundfunksendungen oder eine öffentliche Wiedergabe die Zahlung einer einzigen angemessenen Vergütung durch den Nutzer und die Aufteilung dieser Vergütung auf die ausübenden Künstler und die Tonträgerhersteller gewährleistet. Besteht zwischen den ausübenden Künstlern und den Tonträgerherstellern kein diesbezügliches Einvernehmen, so können die Bedingungen, nach denen die Vergütung unter ihnen aufzuteilen ist, von den Mitgliedstaaten festgelegt werden.“

13.      Die Richtlinie 92/100 über das Vermietrecht und Verleihrecht wurde durch die Richtlinie 2006/115 kodifiziert und aufgehoben. Die Art. 8 dieser beiden Richtlinien sind identisch.

B –    Deutsches Recht

14.      § 15 Abs. 2 des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Urheberrechtsgesetz (UrhG) vom 9. September 1965(6) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung sieht vor:

„Der Urheber hat … das ausschließliche Recht, sein Werk in unkörperlicher Form öffentlich wiederzugeben (Recht der öffentlichen Wiedergabe). Das Recht der öffentlichen Wiedergabe umfasst insbesondere

1.      das Vortrags-, Aufführungs- und Vorführungsrecht (§ 19),

2.      das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a),

3.      das Senderecht (§ 20),

4.      das Recht der Wiedergabe durch Bild- oder Tonträger (§ 21),

5.      das Recht der Wiedergabe von Funksendungen und von öffentlicher Zugänglichmachung (§ 22).“

15.      § 15 Abs. 3 UrhG lautet:

„Die Wiedergabe ist öffentlich, wenn sie für eine Mehrzahl von Mitgliedern der Öffentlichkeit bestimmt ist. Zur Öffentlichkeit gehört jeder, der nicht mit demjenigen, der das Werk verwertet, oder mit den anderen Personen, denen das Werk in unkörperlicher Form wahrnehmbar oder zugänglich gemacht wird, durch persönliche Beziehungen verbunden ist.“

II – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

16.      In den Räumlichkeiten des von Reha Training betriebenen Rehabilitationszentrums können Unfallopfer eine postoperative Behandlung zur Rehabilitation erhalten.

17.      Zu diesen Räumlichkeiten gehören zwei Warteräume und ein Trainingsraum, in denen Reha Training im Zeitraum von Juni 2012 bis Juni 2013 über dort installierte Fernsehgeräte Fernsehsendungen verbreitete. Die Sendungen konnten daher von den Personen, die sich zur Behandlung in dem Rehabilitationszentrum aufhielten, wahrgenommen werden.

18.      Reha Training hat zu keinem Zeitpunkt bei der GEMA eine Erlaubnis für die Verbreitung eingeholt. Nach Auffassung der GEMA werden durch eine solche Verbreitung Werke des von ihr verwalteten Repertoires öffentlich wiedergegeben. Sie verlangte daher für den Zeitraum von Juni 2012 bis Juni 2013 Schadensersatz, der auf der Grundlage der geltenden Vergütungssätze berechnet wurde.

19.      Das Amtsgericht Köln gab dieser Klage statt. Reha Training legte gegen das im ersten Rechtszug ergangene Urteil Berufung beim Landgericht Köln ein.

20.      Das vorlegende Gericht hält im Ausgangsverfahren auf der Grundlage der von der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der Richtlinie 2001/29 entwickelten Kriterien eine öffentliche Wiedergabe für gegeben. Es geht ferner davon aus, dass für die Bestimmung einer „öffentlichen Wiedergabe“ im Sinne von Art. 8 Abs.2 der Richtlinie 2006/115 dieselben Kriterien gelten. An einer Entscheidung des Ausgangsverfahrens in diesem Sinne sieht es sich allerdings durch das Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140) gehindert.

21.      In diesem Urteil habe der Gerichtshof nämlich befunden, dass die Patienten einer Zahnarztpraxis nicht „Personen allgemein“ seien. Da im vorliegenden Fall grundsätzlich keine anderen Personen als die Patienten von Reha Training Zugang zu der von ihr durchgeführten Behandlung hätten, könnten diese Patienten keine „Personen allgemein“, sondern müssten eine „private Gruppe“ sein.

22.      In dem genannten Urteil habe der Gerichtshof ferner festgestellt, dass es sich bei den Patienten einer Zahnarztpraxis um eine unerhebliche oder sogar unbedeutende Zahl von Personen handele, da die Gruppe der gleichzeitig in dieser Praxis anwesenden Patienten im Allgemeinen sehr klein sei. Auch die Gruppe der Patienten von Reha Training sei jedoch offensichtlich begrenzt.

23.      Im Übrigen habe der Gerichtshof im Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140) entschieden, dass die normalen Patienten einer Zahnarztpraxis nicht darauf eingestellt seien, in dieser Praxis Musik zu hören, da sie zufällig und unabhängig von ihren Wünschen in deren Genuss kämen. Im vorliegenden Fall empfingen die Patienten von Reha Training, die sich in den Warteräumen und im Trainingsraum befänden, die Fernsehsendungen jedoch ebenfalls unabhängig von ihren Wünschen und ihrer Auswahl.

24.      Das Landgericht Köln hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Beurteilt sich die Frage, ob eine öffentliche Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und/oder im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 vorliegt, stets nach denselben Kriterien, nämlich dass

–        ein Nutzer in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens tätig wird, um Dritten einen Zugang zum geschützten Werk zu verschaffen, den diese ohne sein Tätigwerden nicht hätten,

–        die „Öffentlichkeit“ eine unbestimmte Zahl potenzieller Leistungsempfänger bedeutet und ferner aus recht vielen Personen bestehen muss, wobei die Unbestimmtheit gegeben ist, wenn es sich um „Personen allgemein“, also nicht um Personen handelt, die einer privaten Gruppe angehören, und mit „recht vielen Personen“ gemeint ist, dass eine bestimmte Mindestschwelle überschritten werden muss, eine allzu kleine oder gar unbedeutende Mehrzahl betroffener Personen das Kriterium mithin nicht erfüllt, wobei es in diesem Zusammenhang nicht nur darauf ankommt, wie viele Personen gleichzeitig zu demselben Werk Zugang haben, sondern auch darauf, wie viele von ihnen in der Folge Zugang zu dem Werk haben;

–        es sich um ein neues Publikum handelt, für das das Werk wiedergegeben wird, also für ein Publikum, das der Urheber des Werkes nicht berücksichtigt hat, als er dessen Nutzung im Wege der öffentlichen Wiedergabe erlaubt hat, es sei denn, dass die nachfolgende Wiedergabe nach einem spezifischen technischen Verfahren erfolgt, das sich von demjenigen der ursprünglichen Wiedergabe unterscheidet, und

–        es nicht unerheblich ist, ob die betreffende Nutzungshandlung Erwerbszwecken dient, ferner das Publikum für diese Wiedergabe aufnahmebereit ist und nicht nur zufällig „erreicht“ wird, wobei dies keine zwingende Voraussetzung für eine öffentliche Wiedergabe ist?

2.      Ist in Fällen wie im Ausgangsverfahren, in denen der Betreiber eines Rehabilitationszentrums in seinen Räumlichkeiten Fernsehgeräte installiert, zu denen er ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen wahrnehmbar macht, die Frage, ob eine öffentliche Wiedergabe vorliegt, nach dem Begriff der „öffentlichen Wiedergabe“ aus Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 oder aus Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 beurteilen, wenn mit den wahrnehmbar gemachten Fernsehsendungen die Urheberrechte und Leistungsschutzrechte einer Vielzahl von Beteiligten, insbesondere Komponisten, Textdichter und Musikverleger, aber auch ausübende Künstler, Tonträgerhersteller und Urheber von Sprachwerken sowie deren Verlage, betroffen sind?

3.      Liegt in Fällen wie im Ausgangsverfahren, in denen der Betreiber eines Rehabilitationszentrums in seinen Räumlichkeiten Fernsehgeräte installiert, zu denen er ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen seinen Patienten wahrnehmbar macht, eine „öffentlichen Wiedergabe“ gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 oder gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 vor?

4.      Wenn für Fälle wie im Ausgangsverfahren eine öffentliche Wiedergabe in diesem Sinne bejaht wird: Hält der Gerichtshof seine Rechtsprechung aufrecht, dass im Fall der Wiedergabe geschützter Tonträger im Rahmen von Radiosendungen für Patienten in einer Zahnarztpraxis (vgl. Urteil SCF, C‑135/10, EU:C:2012:140) oder ähnlichen Einrichtungen keine öffentliche Wiedergabe erfolgt?

III – Würdigung

A –    Sind die Kriterien für die Beurteilung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“ in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 identisch?

25.      Mit dem ersten Teil seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 nach denselben Beurteilungskriterien auszulegen ist.

26.      Zur einheitlichen Auslegung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“ hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieser Begriff in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 in Zusammenhängen verwendet wird, die nicht gleich sind, und zwar ähnliche, aber gleichwohl teilweise unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt(7). Die beiden Bestimmungen verleihen ihren jeweiligen Adressaten nämlich Rechte unterschiedlicher Art.

27.      So gewährt Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 den Urhebern ein Recht vorbeugender Art, das es ihnen erlaubt, sich bei Nutzern ihres Werkes vor der öffentlichen Wiedergabe, die diese Nutzer durchzuführen beabsichtigen, einzuschalten, und zwar, um diese zu verbieten. Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 gewährt den ausübenden Künstlern und den Tonträgerherstellern dagegen ein Recht mit Entschädigungscharakter, das nicht ausgeübt werden kann, bevor ein zu Handelszwecken veröffentlichter Tonträger oder ein Vervielfältigungsstück eines solchen Tonträgers durch einen Nutzer für eine öffentliche Wiedergabe verwendet wird oder bereits verwendet wurde(8).

28.      Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 erfordert nach Auffassung des Gerichtshofs eine individuelle Beurteilung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“(9). Darüber hinaus ist das Recht, auf das diese Bestimmung abstellt, im Wesentlichen wirtschaftlich(10).

29.      Für die Feststellung, ob ein Nutzer eine öffentliche Wiedergabe vornimmt, hat das nationale Gericht die gegebene Situation umfassend unter Berücksichtigung mehrerer Kriterien zu beurteilen, die unselbständig und miteinander verflochten sind. Diese Kriterien, die je nach Einzelfall sehr unterschiedlich sein können, sind einzeln und in ihrem Zusammenwirken mit den anderen Kriterien anzuwenden(11).

30.      Der Umstand, dass der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ in verschiedenen Zusammenhängen verwendet wird und unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt, je nachdem, ob er in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 oder in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 enthalten ist, stellt meines Erachtens jedoch keinen hinreichenden Grund für die Rechtfertigung unterschiedlicher Beurteilungskriterien dar.

31.      Wie der Gerichtshof nämlich bereits hervorgehoben hat, beruht die Richtlinie 2001/29 auf den Grundsätzen und Bestimmungen, die in den auf dem Gebiet des geistigen Eigentums geltenden Richtlinien bereits festgeschrieben sind, wie z. B. die Richtlinie 92/100, die durch die Richtlinie 2006/115 kodifiziert worden ist(12).

32.      Damit jedoch die Erfordernisse der Einheit und Kohärenz der Unionsrechtsordnung beachtet sind, müssen die in sämtlichen dieser Richtlinien verwendeten Begriffe dieselbe Bedeutung haben, es sei denn, dass der Unionsgesetzgeber in einem konkreten gesetzgeberischen Kontext einen anderen Willen zum Ausdruck gebracht hat(13).

33.      Der Gerichtshof hat sich zur Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 darüber hinaus auf die Kriterien berufen, die er in seiner Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 aufgestellt hat(14).

34.      Schließlich kann, worauf die GEMA zu Recht hingewiesen hat, die unterschiedliche Art der im Rahmen der Richtlinien 2001/29 und 2006/115 geschützten Rechte nicht die Tatsache verschleiern, dass diese Rechte an denselben Umstand anknüpfen, nämlich die öffentliche Wiedergabe geschützter Werke(15).

35.      Ich bin der Auffassung, dass die Auslegung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“, wie er in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 enthalten ist, daher nach denselben Beurteilungskriterien zu erfolgen hat.

B –    Zur Anwendung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115

36.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im vorliegenden Fall der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Licht von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 oder im Licht von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 zu beurteilen ist.

37.      Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die von den Richtlinien 2001/29 und 2006/115 erstellten Schutzregelungen zwar durch ihre Zielsetzungen und durch ihre Adressaten.

38.      Andererseits ergibt sich aber aus der Vorlageentscheidung, dass es im vorliegenden Fall nicht nur um die Urheberrechte geht, wie sie von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 gewährleistet werden, sondern auch um die Rechte der ausübenden Künstler und der Tonträgerhersteller, wie sie von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 gewährleistet werden.

39.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2001/29 unbeschadet der Regelungen der Richtlinie 92/100 (kodifiziert in der Richtlinie 2006/115) gelten, es sei denn, die Richtlinie 2001/29 bestimmt anderes(16).

40.      Angesichts dessen bin ich der Meinung, dass in Fällen wie dem des Ausgangsverfahrens sowohl Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 als auch Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 angewandt werden können.

C –    Zur Feststellung der Kriterien für die Beurteilung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“ und ihre Überprüfung im vorliegenden Fall

41.      Mit dem zweiten Teil seiner ersten Frage sowie mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die meines Erachtens zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 dahin auszulegen sind, dass es eine „öffentliche Wiedergabe“ darstellt, wenn – wie im Ausgangsverfahren – der Betreiber eines Rehabilitationszentrums in seinen Räumlichkeiten Fernsehgeräte installiert, zu denen er ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen für seine Patienten wahrnehmbar macht.

42.      Die Frage der Auslegung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“ hat zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten geführt.

43.      Die einheitliche Anwendung des Unionsrechts und der Gleichheitssatz verlangen, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der ganzen Europäischen Union autonom und einheitlich ausgelegt werden(17).

44.      Daher hat sich der Gerichtshof in ebenso umfassender wie ständiger Rechtsprechung für eine weite Auslegung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“ ausgesprochen. Um das Vorliegen einer öffentlichen Wiedergabe festzustellen, hat er vier Beurteilungskriterien herausgearbeitet, und zwar das Vorliegen einer „Handlung der Wiedergabe“, für die der Nutzer eine unumgängliche Rolle spielt, die „öffentliche“ Wiedergabe eines geschützten Werkes, die „Neuheit“ dieser Öffentlichkeit und den „entgeltlichen“ Charakter der Wiedergabe.

45.      Zunächst vereint der Begriff „öffentlichen Wiedergabe“ zwei kumulative Tatbestandsmerkmale, nämlich eine „Handlung der Wiedergabe“ eines Werkes und dessen „öffentliche“ Wiedergabe(18). Aufgrund des kumulativen Charakters dieser beiden Merkmale kann eine öffentliche Wiedergabe nicht gegeben sein, wenn eines von ihnen nicht vorliegt.

46.      Was die „Handlung der Wiedergabe“ betrifft, ist auf die unumgängliche Rolle des Nutzers abzustellen, der absichtlich tätig werden muss. Eine Handlung der Wiedergabe ist nämlich gegeben, wenn der Nutzer in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens seinen Kunden Zugang zu einem geschützten Werk verschafft(19). Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Tätigwerden des Nutzers nicht ein bloßes technisches Mittel zur Gewährleistung oder Verbesserung des Empfangs der ursprünglichen Sendung in ihrem Sendebereich darstelle, sondern eine Handlung, ohne die seine Kunden nicht in den Genuss der ausgestrahlten Werke kommen könnten, obwohl sie sich im Sendegebiet befänden(20).

47.      Zudem ist der Begriff „Wiedergabe“ weit zu verstehen, und zwar dahin, dass er jede Übertragung eines geschützten Werkes unabhängig vom eingesetzten technischen Mittel oder Verfahren umfasst(21).

48.      Ferner hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Betreiber einer Gastwirtschaft, eines Hotels oder einer Kureinrichtung eine Wiedergabe vornimmt, wenn er geschützte Werke absichtlich an seine Kunden übermittelt, indem er willentlich ein Sendesignal über Fernseh- oder Radioempfänger, die er in seinen Räumlichkeiten installiert hat, verbreitet(22).

49.      Wie das Landgericht Köln in seiner Vorlageentscheidung ausgeführt hat, hat Reha Training in den beiden Warteräumen und im Trainingsraum des von ihr betriebenen Rehabilitationszentrums Fernsehgeräte installiert, zu denen sie absichtlich ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen ihren Patienten zugänglich gemacht hat.

50.      Daher hat nach der oben angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs Reha Training meines Erachtens zweifellos in voller Kenntnis der Folgen ihres Verhaltens der Öffentlichkeit, bestehend aus ihren Patienten, geschützte Werke zugänglich gemacht und folglich eine „Handlung der Wiedergabe“ vorgenommen.

51.      Was das Kriterium der „öffentlichen“ Wiedergabe betrifft, ist als „Öffentlichkeit“ eine unbestimmte Zahl potenzieller Adressaten zu verstehen, die recht viele Personen umfasst(23).

52.      Dabei hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die kumulative Wirkung zu berücksichtigen sei, die sich daraus ergebe, dass die Werke potenziellen Adressaten zugänglich gemacht würden. So sei nicht nur der Zahl der Personen, die nebeneinander Zugang zum selben Werk hätten, sondern auch der Zahl der Personen, die nacheinander dazu Zugang hätten, Beachtung zu schenken(24).

53.      Darüber hinaus muss die Wiedergabe an eine Öffentlichkeit erfolgen, die an dem Ort, an dem die Wiedergabe ihren Ursprung nimmt, nicht anwesend ist, so dass direkte Aufführungen und Darbietungen eines geschützten Werkes ausgeschlossen sind(25).

54.      Das vorlegende Gericht hat Zweifel daran geäußert, dass die Patienten eines Rehabilitationszentrums, wie es Reha Training betreibt, als „Öffentlichkeit“ eingestuft werden können. Diese Zweifel ergeben sich aus dem Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Patienten eines Zahnarztes, deren Zusammensetzung weitgehend stabil sei, eine Gruppe potenzieller Leistungsempfänger darstellten, deren Zahl, die gleichzeitig Zugang zum selben Werk hätten, unerheblich sei(26).

55.      Meines Erachtens weicht der Gerichtshof mit dem so in diesem Urteil gewählten restriktiven Ansatz von seiner ständigen Rechtsprechung ab. Daher sollte die Tragweite des Urteils SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140) nicht ausgeweitet, sondern vielmehr auf den besonderen tatsächlichen Kontext dieses Urteils beschränkt werden. Eine Übertragung der Ausführungen des Gerichtshofs in diesem Urteil auf eine Fallgestaltung wie die des Ausgangsverfahrens wäre in meinen Augen gegenüber dem Urheberrecht und den verwandten Schutzrechten zu restriktiv und widerspräche dem vom Unionsgesetzgeber gewollten hohen Schutzniveau und der vom Gerichtshof selbst in seiner ständigen Rechtsprechung vorgenommenen Umsetzung.

56.      Gemäß dieser Rechtsprechung ist der Begriff „Öffentlichkeit“ als Gegenbegriff zu bestimmten, einer „privaten Gruppe“ von Personen angehörenden Personen auszulegen. Im Unterschied zur Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140) sehe ich in den Patienten des von Reha Training betriebenen Rehabilitationszentrums, deren Zusammensetzung von Besuch zu Besuch ständig schwankt, sehr wohl eine unbestimmte Gesamtheit von Personen, die zudem potenziell erheblich ist.

57.      Insoweit weise ich darauf hin, dass es für die Beurteilung des Vorliegens einer Öffentlichkeit, anders als sich aus dem genannten Urteil ergibt, erforderlich ist, nicht nur Personen zu berücksichtigen, die nebeneinander Zugang zum selben Werk haben, sondern auch Personen, die nacheinander Zugang dazu haben(27).

58.      Die Patienten eines Rehabilitationszentrums, wie es Reha Training betreibt, mit Behandlungsterminen von durchschnittlich 30 bis 60 Minuten(28) folgen einander noch viel schneller als die Gäste eines Hotels, einer Gastwirtschaft oder auch einer Kureinrichtung(29). Daher kann das Rehabilitationszentrum von Reha Training nebeneinander und nacheinander eine unbestimmte und erhebliche Zahl von Patienten aufnehmen, denen entweder in den Warteräumen oder im Trainingsraum geschützte Werke zugänglich sind, so dass diese Patienten als „Öffentlichkeit“ anzusehen sind.

59.      Zu den beiden kumulativen Kriterien kommt sodann das Kriterium des „neuen Publikums“ hinzu.

60.      Das Kriterium des „neuen Publikums“ wurde vom Gerichtshof im Urteil SGAE (C‑306/05, EU:C:2006:764) aufgestellt und danach in mehreren Entscheidungen, u. a. in dem Urteil der großen Kammer Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631), bestätigt.

61.      Soweit dieses Kriterium des „neuen Publikums“ in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens zu prüfen ist, ist es meines Erachtens ohne jeden Zweifel erfüllt.

62.      Das Kriterium des „neuen Publikums“ setzt nämlich voraus, dass es ein anderes Publikum gibt als das der ursprünglichen Wiedergabe des Werkes(30). Wenn der Urheber die Sendung seines Werkes durch den Rundfunk erlaubt, will er jedoch grundsätzlich nur die Besitzer von Fernsehgeräten erfassen, die das Sendesignal allein oder im privaten bzw. familiären Kreis empfangen und die Sendungen verfolgen(31).

63.      Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die absichtliche Übertragung eines durch Rundfunk gesendeten Werkes, die an einem Ort stattfindet, zu dem die Öffentlichkeit Zugang hat, für ein zusätzliches Publikum, das vom Besitzer des Fernsehgeräts in die Lage versetzt wird, das Werk anzuhören oder anzusehen, eine Handlung darstellt, durch die das geschützte Werk an ein neues Publikum wiedergegeben wird(32).

64.      Indem aber Reha Training absichtlich Sendesignale an Fernsehgeräte übermittelte, die sie in ihren Räumlichkeiten installiert hatte, ließ sie außerhalb ihres privaten Bereichs geschützte Werke von ihren Patienten empfangen, die ein zusätzliches und mittelbares Publikum darstellen, das von den Urhebern bei der Zulassung der Rundfunkübertragung ihrer Werke nicht berücksichtigt worden ist und das ohne das Tätigwerden von Reha Training nicht in den Genuss dieser Werke hätte kommen können.

65.      Um das Vorliegen einer öffentlichen Wiedergabe zu beurteilen, kann schließlich von Bedeutung sein, ob die Wiedergabe „Erwerbszwecken“ dient(33). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine zwingende Voraussetzung einer öffentlichen Wiedergabe(34).

66.      Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass es für den Erwerbszweck einer Wiedergabe erforderlich ist, dass sich der Nutzer gezielt an das Publikum wendet, für das die Wiedergabe vorgenommen wird, und dass es in der einen oder anderen Weise für diese Wiedergabe aufnahmebereit ist und nicht bloß zufällig „erreicht“ wird(35).

67.      Mit der deutschen Regierung bin ich indes der Auffassung, dass die Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit für die Feststellung, ob ein gewerblicher Charakter der Verbreitung eines Werkes vorliegt, nicht ausschlaggebend sein kann. Die subjektive Seite dieses Kriteriums, das die Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit betrifft, führt nämlich dazu, dass es in der Praxis kaum anwendbar ist(36). Darüber hinaus lässt sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen, dass „es für eine öffentliche Wiedergabe ausreicht, wenn das Werk der Öffentlichkeit in der Weise zugänglich gemacht wird, dass deren Mitglieder dazu Zugang haben“(37). Der tatsächliche und freigewählte Zugang der Öffentlichkeit zu einem Werk ist daher für die Feststellung des Vorliegens einer öffentlichen Wiedergabe nicht erforderlich.

68.      Somit lässt sich das Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140), in dem der Gerichtshof das Vorliegen eines gewerblichen Zwecks der Wiedergabe von Tonträgern in einer Zahnarztpraxis aus dem Grund verneint hat, dass die Patienten dieser Praxis den Zugang zu diesen Tonträgern „zufällig und unabhängig von ihren Wünschen“ genießen(38), meines Erachtens nicht auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles anwenden.

69.      Dagegen kommt es für die Prüfung, ob das Kriterium des gewerblichen Zwecks der Verbreitung eines Werkes erfüllt ist, nach meinem Dafürhalten darauf an, ob der Verwender aus dieser Verbreitung einen Nutzen ziehen kann.

70.      Indem Reha Training in den Warteräumen und in einem Trainingsraum, d. h. in Bereichen, die mehrheitlich von ihren Patienten besucht werden, Fernsehgeräte installiert hat, hat sie sich freiwillig gezielt an die Patienten gewandt, um sie in den Genuss von Fernsehsendungen kommen zu lassen, während sie vor einem Behandlungstermin warten oder eine Rehabilitationssitzung absolvieren.

71.      Ich sehe das Kriterium des gewerblichen Charakters im vorliegenden Fall als erfüllt an. Die Verbreitung von Fernsehsendungen über Fernsehgeräte, die in Warteräumen oder einem Trainingsraum installiert sind, soll den Patienten des Zentrums Unterhaltung bieten und ihnen die Warte‑ oder Rehabilitationszeit verkürzen. Es handelt sich um eine zusätzliche Dienstleistung, die zwar keinen medizinischen Zweck aufweist, die Standards und Attraktivität der Einrichtung aber beeinflusst und dieser somit einen Wettbewerbsvorteil verschafft.

72.      Nach alledem bin ich daher der Auffassung, dass es eine „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 darstellt, wenn – wie im Ausgangsverfahren – der Betreiber eines Rehabilitationszentrums in seinen Räumlichkeiten Fernsehgeräte installiert, zu denen er ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen seinen Patienten wahrnehmbar macht.

IV – Ergebnis

73.      Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Landgerichts Köln wie folgt zu beantworten:

1.      Der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ ist in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft und in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums nach denselben Kriterien zu bestimmen.

2.      Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens können Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 beide angewandt werden.

3.      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2006/115 sind dahin auszulegen, dass es eine „öffentliche Wiedergabe“ darstellt, wenn – wie im Ausgangsverfahren – der Betreiber eines Rehabilitationszentrums in seinen Räumlichkeiten Fernsehgeräte installiert, zu denen er ein Sendesignal übermittelt und so die Fernsehsendungen für seine Patienten wahrnehmbar macht.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 167, S. 10.


3 – ABl. L 376, S. 28.


4 –      ABl. L 346, S. 61.


5 –      ABl. L 290, S. 9, im Folgenden: Richtlinie 92/100.


6 – BGBl. 1965 I S. 1273.


7 – Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 74).


8 – Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 75).


9 – Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 76).


10 – Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 77).


11 – Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 79).


12 – Vgl. u. a. Urteil Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 187 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13 – Vgl. u. a. Urteil Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 188).


14 – Vgl. Urteile SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 81 bis 92) und Phonographic Performance (Ireland) (C‑162/10, EU:C:2012:141, Rn. 31 bis 38).


15 – Vgl. Nr. 19 der Erklärungen der GEMA.


16 – Vgl. u. a. Urteil Luksan (C‑277/10, EU:C:2012:65, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17 – Vgl. u. a. Urteil SGAE (C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18 – Vgl. u. a. Urteil SBS Belgium (C‑325/14, EU:C:2015:764, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19 – Vgl. u. a. Urteil OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20 – Vgl. u. a. Urteil Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 194 und 195 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteile SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 82) und Phonographic Performance (Ireland) (C‑162/10, EU:C:2012:141, Rn. 31).


21 – Vgl. u. a. Urteil OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22 – Vgl. Urteile Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 196), Phonographic Performance (Ireland) (C‑162/10, EU:C:2012:141, Rn. 40) und OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110, Rn. 26).


23 – Vgl. u. a. Urteil OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24 – Vgl. u. a. Urteil OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25 – Vgl. u. a. Urteile Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 200) und Circul Globus Bucureşti (C‑283/10, EU:C:2011:772, Rn. 36, 37 und 40).


26 – Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 95 und 96).


27 – Vgl. Nr. 52 der vorliegenden Schlussanträge.


28 – Vgl. Nr. 5 der Erklärungen von Reha Training.


29 – Der Gerichtshof hat jedoch in seinen Urteilen SGAE (C‑306/05, EU:C:2006:764), Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631) und OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110) entschieden, dass die Gäste eines Hotels, einer Gastwirtschaft und einer Kureinrichtung sehr wohl eine „Öffentlichkeit“ darstellen (vgl. Rn. 42 bzw. 199 und 32).


30 – Vgl. u. a. Urteil SGAE (C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 40).


31 – Vgl. u. a. Urteil Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32 – Vgl. u. a. Urteil Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33 – Vgl. u. a. Urteil Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 204 und die dort angeführte Rechtsprechung).


34 – Vgl. u. a. Urteil ITV Broadcasting u. a. (C‑607/11, EU:C:2013:147, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35 – Vgl. u. a. Urteile SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 91) und Phonographic Performance (Ireland) (C‑162/10, EU:C:2012:141, Rn. 37).


36 – Vgl. insbesondere Rn. 50 bis 56 der Erklärungen der deutschen Regierung.


37 – Vgl. Urteil SGAE (C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 43). Hervorhebung nur hier. Vgl. in diesem Sinne auch Urteil Padawan (C‑467/08, EU:C:2010:620, Rn. 58).


38 – Urteil SCF (C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 98).