Language of document :

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

30. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen – Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden – Voraussetzungen für den Erlass – Dienst zur Verschlüsselung von Telekommunikation – EncroChat – Erforderlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung – Verwertung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlangten Beweismitteln“

In der Rechtssache C‑670/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Berlin (Deutschland) mit Beschluss vom 19. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2022, in der Strafsache gegen


M. N.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, T. von Danwitz und Z. Csehi, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, I. Jarukaitis, A. Kumin und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,


Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, und K. Hötzel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Staatsanwaltschaft Berlin, vertreten durch R. Pützhoven und J. Raupach als Bevollmächtigte,

–        von M. N., vertreten durch Rechtsanwalt S. Conen,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und T. Suchá als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte,

–        von Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, M. A. Joyce und D. O’Reilly als Bevollmächtigte im Beistand von D. Fennelly, BL,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis und A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain und R. Bénard, B. Dourthe, B. Fodda und T. Stéhelin als Bevollmächtigte,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch F.‑L. Göransson und H. Shev als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold, M. Wasmeier und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. Oktober 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. c, Art. 6 Abs. 1 und Art. 31 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) sowie der Grundsätze der Äquivalenz und der Effizienz.

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen M. N. und betrifft die Rechtmäßigkeit dreier von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main (Deutschland) (im Folgenden: Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt) erlassener Europäischer Ermittlungsanordnungen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2002/58/EG

3        Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)] für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. … Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 [EUV] niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“

 Richtlinie 2014/41

4        In den Erwägungsgründen 2, 5 bis 8, 19 und 30 der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„(2)      Nach Artikel 82 Absatz 1 [AEUV] beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der [Europäischen] Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, der seit der Tagung des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere allgemein als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union bezeichnet wird.

(5)      Seit Annahme der Rahmenbeschlüsse [2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl. 2003, L 196, S. 45)] und [2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (ABl. 2008, L 350, S. 72)] ist deutlich geworden, dass der bestehende Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln zu fragmentiert und zu kompliziert ist. Daher ist ein neuer Ansatz erforderlich.

(6)      In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiterverfolgt werden sollte. Dem Europäischen Rat zufolge stellten die bestehenden Rechtsinstrumente auf diesem Gebiet eine lückenhafte Regelung dar und bedurfte es eines neuen Ansatzes, der auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht, aber auch der Flexibilität des traditionellen Systems der Rechtshilfe Rechnung trägt. Der Europäische Rat hat daher ein umfassendes System gefordert, das sämtliche bestehenden Instrumente in diesem Bereich ersetzen soll, unter anderem auch den Rahmenbeschluss 2008/978/JI, und das so weit wie möglich alle Arten von Beweismitteln erfasst, Vollstreckungsfristen enthält und das die Versagungsgründe so weit wie möglich beschränkt.

(7)      Diesem neuen Ansatz liegt ein einheitliches Instrument zugrunde, das als Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden [auch:] ,EEA‘) bezeichnet wird. Die EEA sollte zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahmen im Staat, in dem die EEA vollstreckt wird (im Folgenden ‚Vollstreckungsstaat‘) im Hinblick auf die Erhebung von Beweismitteln erlassen werden. Dies schließt auch die Erlangung von Beweismitteln ein, die sich bereits im Besitz der Vollstreckungsbehörde befinden.

(8)      Die EEA sollte übergreifenden Charakter haben und sollte daher für alle Ermittlungsmaßnahmen gelten, die der Beweiserhebung dienen. Allerdings erfordern die Bildung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe und die Beweiserhebung im Rahmen einer solchen Gruppe spezifische Vorschriften, die besser getrennt geregelt werden. Unbeschadet der Anwendung dieser Richtlinie sollten die bestehenden Instrumente daher weiterhin auf diese Arten von Ermittlungsmaßnahmen Anwendung finden.

(19)      Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme einen Verstoß gegen ein Grundrecht der betreffenden Person zur Folge hätte und der Vollstreckungsstaat seine Verpflichtungen zum Schutz der in der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)] anerkannten Grundrechte nicht achten würde, so sollte die Vollstreckung der EEA verweigert werden.

(30)      Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Rahmen dieser Richtlinie über die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs sollten nicht auf den Inhalt des Telekommunikationsverkehrs beschränkt sein, sondern könnten sich auch auf die Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit diesem Telekommunikationsverkehr erstrecken und es den zuständigen Behörden erlauben, eine EEA zu erlassen, um Telekommunikationsdaten zu erlangen, die mit einem geringeren Eingriff in die Privatsphäre verbunden sind. Eine EEA, die erlassen wurde, um historische Verkehrs- und Standortdaten zum Telekommunikationsverkehr zu erlangen, sollte im Rahmen der allgemeinen Regelung zur Vollstreckung einer EEA behandelt werden und kann gemäß dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaats als invasive Ermittlungsmaßnahme betrachtet werden.“

5        Art. 1 („Die Europäische Ermittlungsanordnung und die Verpflichtung zu ihrer Vollstreckung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Eine Europäische Ermittlungsanordnung … ist eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats (‚Anordnungsstaat‘) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat (‚Vollstreckungsstaat‘) zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.

Die Europäische Ermittlungsanordnung kann auch in Bezug auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, erlassen werden.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jede EEA nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß dieser Richtlinie.“

6        In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

c)      ‚Anordnungsbehörde‘

i)      einen Richter, ein Gericht, einen Ermittlungsrichter oder einen Staatsanwalt, der/das in dem betreffenden Fall zuständig ist, oder

ii)      jede andere vom Anordnungsstaat bezeichnete zuständige Behörde, die in dem betreffenden Fall in ihrer Eigenschaft als Ermittlungsbehörde in einem Strafverfahren nach nationalem Recht für die Anordnung der Erhebung von Beweismitteln zuständig ist. Zudem wird die EEA vor ihrer Übermittlung an die Vollstreckungsbehörde von einem Richter, einem Gericht, einem Ermittlungsrichter oder einem Staatsanwalt im Anordnungsstaat validiert, nachdem dieser bzw. dieses überprüft hat, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer EEA nach dieser Richtlinie, insbesondere die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1, eingehalten sind. Ist die EEA von einer Justizbehörde validiert worden, so kann auch diese Behörde als Anordnungsbehörde für die Zwecke der Übermittlung einer EEA betrachtet werden;

d)      ‚Vollstreckungsbehörde‘ eine Behörde, die für die Anerkennung einer EEA und für die Sicherstellung ihrer Vollstreckung gemäß dieser Richtlinie und den in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen anzuwendenden Verfahren zuständig ist. Gegebenenfalls erfordern derartige Verfahren eine richterliche Genehmigung im Vollstreckungsstaat, sofern das nationale Recht dieses Staates dies vorsieht.“

7        Art. 4 („Verfahren, für die die EEA erlassen werden kann“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Eine EEA kann erlassen werden:

a)      in Bezug auf Strafverfahren, die eine Justizbehörde wegen einer nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats strafbaren Handlung eingeleitet hat oder mit denen sie befasst werden kann;

…“

8        Art. 6 („Bedingungen für den Erlass und die Übermittlung einer EEA“) der Richtlinie 2014/41 bestimmt:

„(1)      Die Anordnungsbehörde darf nur dann eine EEA erlassen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

a)      Der Erlass der EEA ist für die Zwecke der Verfahren nach Artikel 4 unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig und

b)      die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) hätte(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können.

(2)      Die in Absatz 1 genannten Bedingungen werden von der Anordnungsbehörde in jedem einzelnen Fall geprüft.

(3)      Hat eine Vollstreckungsbehörde Grund zu der Annahme, dass die in Absatz 1 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind, so kann sie die Anordnungsbehörde zu der Frage konsultieren, wie wichtig die Durchführung der EEA ist. Nach dieser Konsultation kann die Anordnungsbehörde entscheiden, die EEA zurückzuziehen.“

9        Art. 14 („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass gegen die in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen.

(7)      Der Anordnungsstaat berücksichtigt eine erfolgreiche Anfechtung der Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA im Einklang mit seinem nationalen Recht. Unbeschadet der nationalen Verfahrensvorschriften stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer EEA erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden.“

10      In Art. 30 („Überwachung des Telekommunikationsverkehrs mit technischer Hilfe eines anderen Mitgliedstaats“) der Richtlinie heißt es:

„(1)      Eine EEA kann zur Überwachung des Telekommunikationsverkehrs in dem Mitgliedstaat, dessen technische Unterstützung erforderlich ist, erlassen werden.

(7)      Die Anordnungsbehörde kann, vorbehaltlich der Zustimmung der Vollstreckungsbehörde, bei Erlass einer EEA gemäß Absatz 1 oder während der Überwachung auch um eine Transkription, eine Dekodierung oder eine Entschlüsselung der Aufzeichnung ersuchen, wenn sie besondere Gründe für ein solches Ersuchen hat.

(8)      Die mit der Anwendung dieses Artikels verbundenen Kosten werden gemäß Artikel 21 getragen, mit Ausnahme der Kosten der Transkription, Dekodierung und Entschlüsselung des überwachten Fernmeldeverkehrs, die der Anordnungsstaat trägt.“

11      Art. 31 („Unterrichtung des Mitgliedstaats, in dem sich die Zielperson der Überwachung befindet und dessen technische Hilfe nicht erforderlich ist“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Wenn zum Zwecke der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats (‚überwachender Mitgliedstaat‘) genehmigt wurde und der in der Überwachungsanordnung bezeichnete Kommunikationsanschluss der Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (‚unterrichteter Mitgliedstaat‘) genutzt wird, von dem für die Durchführung der Überwachung keine technische Hilfe benötigt wird, so hat der überwachende Mitgliedstaat die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats von der Überwachung wie folgt zu unterrichten:

a)      vor der Überwachung in Fällen, in denen die zuständige Behörde des überwachenden Mitgliedstaats bereits zum Zeitpunkt der Anordnung der Überwachung davon Kenntnis hat, dass sich die Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befindet oder befinden wird;

b)      während oder nach der Überwachung, und zwar unmittelbar nachdem sie davon Kenntnis erhält, dass sich die Zielperson der Überwachung während der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befindet oder befunden hat.

(2)      Für die Unterrichtung gemäß Absatz 1 wird das in Anhang C festgelegte Formblatt verwendet.

(3)      Die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats kann in dem Fall, dass die Überwachung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde, der zuständigen Behörde des überwachenden Mitgliedstaats unverzüglich und spätestens innerhalb von 96 Stunden nach Erhalt der Unterrichtung gemäß Absatz 1 mitteilen,

a)      dass die Überwachung nicht durchgeführt werden kann oder zu beenden ist und

b)      erforderlichenfalls, dass das Material, das bereits gesammelt wurde, während sich die Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befand, nicht oder nur unter den von ihm festzulegenden Bedingungen verwendet werden darf. Die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats setzt die zuständige Behörde des überwachenden Mitgliedstaats von den Gründen für diese Bedingungen in Kenntnis.

…“

12      In Art. 33 („Mitteilungen“) Abs. 1 der Richtlinie sind die Angaben aufgeführt, die mitgeteilt und allen Mitgliedstaaten und dem durch die Gemeinsame Maßnahme 98/428/JI vom 29. Juni 1998 – vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen – zur Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes (ABl. 1998, L 191, S. 4) eingerichteten Europäischen Justiziellen Netz (EJN) zugänglich gemacht werden müssen.

 Deutsches Recht

13      Die Telekommunikationsüberwachung zum Zweck der Strafverfolgung ist in der Strafprozessordnung (StPO) geregelt.

14      § 100a Abs. 1 StPO erlaubt die Überwachung der laufenden Kommunikation in Form einer „klassischen“ Überwachung der Telekommunikation (Satz 1), der Überwachung der laufenden Kommunikationen mittels Installation einer Spähsoftware auf den Endgeräten („Quellen-TKÜ“) (Satz 2) sowie die Erfassung der im Zeitpunkt der Anordnung der betreffenden Maßnahme durch das Landgericht abgeschlossenen und bereits auf einem Gerät gespeicherten Kommunikationsvorgänge („kleine Online-Durchsuchung“) (Satz 3). Nach § 100b StPO ist es möglich, sämtliche auf einem Endgerät gespeicherten Daten auszulesen („Online-Durchsuchung“).

15      Alle diese Maßnahmen setzen einen konkreten Verdacht einer Straftat voraus, wobei die Kategorie der betreffenden Straftaten auf bestimmte in § 100a Abs. 2 und § 100b Abs. 2 StPO aufgeführte Straftaten begrenzt ist.

16      Zudem dürfen diese Maßnahmen nach § 100e Abs. 1 und 2 StPO nur auf Antrag der betreffenden Staatsanwaltschaft durch das zuständige Landgericht angeordnet werden. Gemäß § 100e Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 74a Abs. 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) vom 12. September 1950 (BGBl. I S. 455) fällt eine Online-Durchsuchung in die ausschließliche Zuständigkeit einer Spezialkammer dieses Landgerichts.

17      Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) vom 23. Dezember 1982 (BGBl. I S. 2071) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: IRG) bestimmt nicht ausdrücklich, welche Stelle für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung zuständig ist. So kann eine Europäische Ermittlungsanordnung, mit der eine Telekommunikationsüberwachung im Ausland begehrt wird, im Ermittlungsverfahren vor Anklageerhebung nach § 161 StPO von der ermittelnden Staatsanwaltschaft erlassen werden.

18      § 91g Abs. 6 IRG, durch den Art. 31 der Richtlinie 2014/41 in deutsches Recht umgesetzt wird, sieht vor, dass die zuständige Stelle, die von einem Mitgliedstaat über eine von ihm beabsichtigte Überwachungsmaßnahme auf deutschem Hoheitsgebiet unterrichtet wird, die Durchführung dieser Maßnahme oder die Verwendung der gesammelten Daten spätestens innerhalb von 96 Stunden verbieten oder die Verwendung dieser Daten Bedingungen unterwerfen muss, wenn diese Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde. Das IRG gibt allerdings nicht an, ob das zuständige Landgericht oder die betreffende Staatsanwaltschaft von dieser Maßnahme zu unterrichten ist. § 92d IRG regelt nur die örtliche Zuständigkeit der zuständigen Stelle.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19      Im Rahmen einer von den französischen Behörden geführten Untersuchung wurde festgestellt, dass Beschuldigte bei der Begehung von Straftaten überwiegend aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität Kryptohandys nutzten, die unter einer Lizenz namens „EncroChat“ liefen. Diese Mobiltelefone ermöglichten mit einer speziellen Software und einer modifizierten Hardware über einen in Roubaix (Frankreich) stationierten Server eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation, die mit herkömmlichen Ermittlungsmethoden nicht zu überwachen war (im Folgenden: EncroChat-Dienst).

20      Mit richterlicher Genehmigung gelang es der französischen Polizei in den Jahren 2018 und 2019, Daten von diesem Server zu sichern. Diese Daten ermöglichten die Entwicklung einer Trojaner-Software durch eine gemeinsame Ermittlungsgruppe in Zusammenarbeit mit niederländischen Experten. Diese Software wurde mit Genehmigung des Tribunal correctionnel de Lille (Strafgericht Lille, Frankreich) auf den genannten Server aufgespielt und von dort aus über ein simuliertes Update auf den Mobiltelefonen installiert. Insgesamt sollen 32 477 Nutzer (von insgesamt 66 134 eingetragenen Nutzern) in 122 Ländern von dieser Software betroffen gewesen sein, darunter etwa 4 600 Nutzer in Deutschland.

21      Am 9. März 2020 nahmen Vertreter des Bundeskriminalamts (Deutschland) (im Folgenden: BKA) und der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt sowie Vertreter u. a. der französischen Behörden, der niederländischen Behörden und der Behörden des Vereinigten Königreichs an einer von der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) organisierten Videokonferenz teil. Auf dieser Konferenz informierten die Vertreter der französischen und der niederländischen Behörden die Vertreter der Behörden der anderen Mitgliedstaaten über die von den erstgenannten Behörden geführten Ermittlungen gegen eine Betreiberfirma von Kryptohandys und die geplante Überwachungsmaßnahme, die auch Daten von Mobiltelefonen betraf, die sich außerhalb des französischen Hoheitsgebiets befanden. Die deutschen Behördenvertreter signalisierten ihr Interesse an den Daten der deutschen Nutzer.

22      In einem Vermerk vom 13. März 2020 regte das BKA ein Ermittlungsverfahren gegen sämtliche unbekannten Nutzer des EncroChat-Diensts wegen des Verdachts des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und der Bildung einer kriminellen Vereinigung an. Das BKA begründete die Einleitung dieses Ermittlungsverfahrens damit, dass bereits die Nutzung des EncroChat-Diensts als solche einen Anfangsverdacht für die Begehung erheblicher Straftaten insbesondere des Betäubungsmittelhandels begründe.

23      Auf der Grundlage dieses Vermerks leitete die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am 20. März 2020 unter „Eilt“ ein entsprechendes Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt (im Folgenden: UJs-Verfahren) ein.

24      Am 27. März 2020 erhielt das BKA über die „Secure Information Exchange Network Application“ (SIENA) der Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol) eine Nachricht der gemeinsamen Ermittlungsgruppe an die Polizeibehörden der an den Daten des EncroChat-Diensts interessierten Mitgliedstaaten. Die zuständigen Behörden dieser Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, schriftlich zu bestätigen, dass sie über die zur Datengewinnung von Mobiltelefonen auf ihrem Staatsgebiet angewandten Methoden informiert worden seien. Sie sollten ferner zusichern, dass die übermittelten Daten grundsätzlich zunächst nur zu Auswertezwecken übermittelt und für laufende Ermittlungsverfahren nur nach Genehmigung durch die an der gemeinsamen Ermittlungsgruppe beteiligten Mitgliedstaaten verwendet würden. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts erteilte das BKA die erbetenen Bestätigungen in Absprache mit der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt.

25      In der Zeit vom 3. April 2020 bis zum 28. Juni 2020 rief das BKA die täglich auf dem Europol-Server bereitgestellten Daten der in Deutschland genutzten Mobiltelefone ab.

26      Am 2. Juni 2020 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt im Rahmen des UJs-Verfahrens die französischen Behörden mittels einer ersten Europäischen Ermittlungsanordnung um die Genehmigung, die Daten aus dem EncroChat-Dienst unbeschränkt in Strafverfahren verwenden zu können. Zur Begründung wurde ausgeführt, das BKA sei über Europol informiert worden, dass in Deutschland eine Vielzahl schwerster Straftaten – insbesondere Einfuhr und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen – unter Nutzung von mit dem EncroChat-Dienst ausgerüsteten Mobiltelefonen begangen würden; es bestehe der Verdacht, dass bisher nicht identifizierte Personen in Deutschland unter Nutzung verschlüsselter Kommunikation schwerste Straftaten planten und begingen.

27      Auf dieses Ersuchen hin genehmigte das Tribunal correctionnel de Lille (Strafgericht Lille) die Übermittlung und Verwendung der Daten von mit dem EncroChat-Dienst ausgerüsteten Mobiltelefonen in Gerichtsverfahren. Auf der Grundlage zweier ergänzender Europäischer Ermittlungsanordnungen vom 9. September 2020 bzw. vom 2. Juli 2021 (im Folgenden zusammen mit der Europäischen Ermittlungsanordnung vom 2. Juni 2020: die Europäischen Ermittlungsanordnungen) wurden in der Folge zusätzliche Daten übermittelt.

28      In der Folge trennte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt die Ermittlungsverfahren gegen einige Nutzer, darunter M. N., aus dem UJs-Verfahren ab und gab sie an lokale Staatsanwaltschaften ab. Vor diesem Hintergrund stellt sich das vorlegende Gericht, das Landgericht Berlin (Deutschland), Fragen nach der Rechtmäßigkeit der Europäischen Ermittlungsanordnungen im Hinblick auf die Richtlinie 2014/41.

29      Mit einer ersten Reihe von drei Fragen möchte dieses Gericht klären, welche Stelle für den Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnungen zuständig war.

30      Insoweit sei der Bundesgerichtshof (Deutschland) in dem in der Rechtssache 5 StR 457/21 (DE:BGH:2022:020322B5STRT457.21.0) ergangenen Beschluss vom 2. März 2022 von der Zuständigkeit der in dem UJs-Verfahren ermittelnden Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt für den Erlass der auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichteten Europäischen Ermittlungsanordnungen ausgegangen (im Folgenden: Beschluss vom 2. März 2022). Das vorlegende Gericht teilt diese Auslegung nicht. Es neigt zu der Auffassung, dass nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41 nur ein Gericht die Europäischen Ermittlungsanordnungen hätte erlassen dürfen.

31      Das vorlegende Gericht beruft sich insoweit auf die Urteile vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152), und vom 16. Dezember 2021, Spetsializirana prokuratura (Verkehrs- und Standortdaten) (C‑724/19, EU:C:2021:1020). Konkret stützt es sich auf die Ausführungen, die der Gerichtshof in der aus diesen Urteilen hervorgegangenen Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Grundrechte aus Art. 7, 8 und 11 der Charta gemacht habe. Diese Rechtsprechung könne auf die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41 übertragen werden.

32      Der Zugang der deutschen Strafverfolgungsbehörden zu den Daten des EncroChat-Diensts im Wege der Europäischen Ermittlungsanordnungen sei vergleichbaren Kriterien zu unterwerfen wie der Zugang zu Vorratsdaten nach Maßgabe von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58. Dass die Daten des EncroChat-Diensts nicht auf behördliche Anordnung durch den Kommunikationsdienstleister gespeichert, sondern unmittelbar von den französischen Strafverfolgungsbehörden ausgeleitet worden seien, rechtfertige keine andere Beurteilung. Vielmehr verstärke dieser Umstand noch den Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen.

33      Außerdem ergebe sich aus Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung zum Zweck der Strafverfolgung – unabhängig von den nationalen Zuständigkeitsregeln in einer vergleichbaren innerstaatlichen Situation – immer von einem nicht mit den konkreten Ermittlungsmaßnahmen befassten Richter erlassen werden müsse, wenn die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie eine komplexe Abwägung der vorliegenden Interessen erfordere und schwerwiegende Eingriffe in hochrangige Grundrechte betreffe.

34      Die zweite und dritte Reihe von Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen die materiellen Anforderungen, denen der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung unterliegt.

35      Das vorlegende Gericht ist erstens der Ansicht, eine Europäische Ermittlungsanordnung, mit der der Zugriff auf Daten aus einer Telekommunikationsüberwachung zum Zweck der Strafverfolgung begehrt werde, erfülle die in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41 genannten Voraussetzungen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit nur, wenn gegen jede betroffene Person ein auf konkrete Tatsachen gestützter Verdacht der Beteiligung an einer schweren Straftat bestehe.

36      Das vorlegende Gericht teilt insoweit nicht die Auffassung des Bundesgerichtshofs im Beschluss vom 2. März 2022, wonach die nicht spezifizierte Verdachtslage hinsichtlich vielfältiger Straftaten ausreichend gewesen sei, um Europäische Ermittlungsanordnungen zu erlassen. Es stützt seine Zweifel auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung, insbesondere die Wertungen zur Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58, und beruft sich insoweit auf die Urteile vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 39, 40 und 50), sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a. (C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 44). Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass der Grundrechtsschutz der Betroffenen ausreichend im Rahmen des nationalen Strafverfahrens durch das nationale Strafprozessrecht gewährleistet werde.

37      Die Frage der Verhältnismäßigkeit einer Europäischen Ermittlungsanordnung wirft beim vorlegenden Gericht auch Fragen im Hinblick auf das in Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierte Recht auf ein faires Verfahren auf. Dieses Recht fordere, dass ein Beteiligter eines Gerichtsverfahrens eine echte Möglichkeit haben müsse, zu einem Beweismittel Stellung zu nehmen. Dies gelte besonders, wenn das Beweismittel aus einem technischen Bereich stamme, in dem das Gericht und der Verfahrensbeteiligte nicht über Sachkenntnis verfügten.

38      Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 die Anordnungsbehörde die in der Europäischen Ermittlungsanordnung angegebene Maßnahme am Maßstab des innerstaatlichen Rechts überprüfen müsse.

39      Der Bundesgerichtshof habe im Beschluss vom 2. März 2022 allerdings die Ansicht vertreten, dass diese Bestimmung im Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei. Diese Bestimmung erfasse nur eine Europäische Ermittlungsanordnung, mit der eine noch zu vollstreckende Beweiserhebung begehrt werde. Sie sei nicht auf eine Europäische Ermittlungsanordnung anwendbar, die sich nur auf den Transfer schon vorhandener Beweise richte. Die Überprüfung der Maßnahme am Maßstab des innerstaatlichen Rechts sei daher entbehrlich.

40      Das vorlegende Gericht ist hingegen der Auffassung, dass die Anordnungsbehörde einer Europäischen Ermittlungsanordnung in diesem Fall die der Datenerhebung zugrundeliegende Ermittlungsmaßnahme am Maßstab des innerstaatlichen Rechts prüfen müsse. Mit anderen Worten dürfe diese Behörde im Vollstreckungsstaat bereits vorhandene Beweismittel nur dann durch eine Europäische Ermittlungsanordnung anfordern, wenn die Ermittlungsmaßnahme, durch die diese Beweismittel gewonnen worden seien, im Anordnungsstaat in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zulässig gewesen wäre.

41      Die vierte Reihe von Fragen des vorlegenden Gerichts richtet sich auf die Auslegung von Art. 31 der Richtlinie 2014/41.

42      Dieses Gericht ist der Auffassung, dass ein Mitgliedstaat, wenn er den Telekommunikationsverkehr von Personen auf deutschem Hoheitsgebiet überwachen wolle, gemäß diesem Artikel die zuständige deutsche Stelle vor Beginn der Durchführung der Maßnahme – bzw. sobald ihm der Aufenthalt dieser Personen bekannt werde – von der geplanten Überwachungsmaßnahme unterrichten müsse.

43      Der Bundesgerichtshof habe im Beschluss vom 2. März 2022 in Zweifel gezogen, ob es sich bei der französischen Datenabschöpfungsmaßnahme um eine „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 gehandelt habe. Das vorlegende Gericht ist anderer Auffassung. Seiner Ansicht nach hätten die französischen Behörden die zuständige deutsche Behörde über die Infiltrierung der deutschen, mit dem EncroChat-Dienst ausgerüsteten Mobiltelefone vor der Durchführung der Maßnahme unterrichten müssen.

44      Das deutsche Recht regele zwar die örtliche Zuständigkeit dieser Behörde, sage aber nicht ausdrücklich, ob diese Unterrichtung an ein Landgericht oder an die betreffende Staatsanwaltschaft zu richten sei. Dies werde in der deutschen Rechtsprechung und im deutschen Schrifttum unterschiedlich gesehen. Das vorlegende Gericht neige dazu, den Begriff „zuständige Behörde“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen, dass er nur eine weisungsunabhängige und nicht zu Ermittlungszwecken an den Daten interessierte Stelle, namentlich ein Gericht, bezeichnen könne.

45      Bei grenzüberschreitenden Maßnahmen, die auf Unionsebene angesiedelt seien und im gleichzeitigen Interesse mehrerer Mitgliedstaaten durchgeführt würden, könnten nämlich die Begriffe „Europäische Ermittlungsanordnung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41 und „Unterrichtung“ nach Art. 31 dieser Richtlinie weitgehend austauschbar sein. Dies spreche daher für eine Angleichung hinsichtlich der für diese Maßnahmen zuständigen Stellen.

46      Das vorlegende Gericht stellt sich auch Fragen zum Ziel des Schutzes der Souveränität der Mitgliedstaaten, das mit Art. 31 der Richtlinie 2014/41 verfolgt werde, unter Berücksichtigung der besonders hohen Grundrechtssensibilität eines heimlichen Zugriffs auf die Kommunikation.

47      Die fünfte Reihe von Fragen bezieht sich auf die Rechtsfolgen eines etwaigen Verstoßes gegen das Unionsrecht im Hinblick auf die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität.

48      Die nationalen Entscheidungen, die zu den Daten aus dem EncroChat-Dienst ergangen seien, gingen zum einen von der Verwertbarkeit dieser Daten aus und zum anderen davon, dass, soweit Verstöße gegen Unionsrecht in Betracht gezogen würden, unter Hinweis auf die Schwere der anhand dieser Daten ermittelten Straftaten den Strafverfolgungsinteressen der Vorrang eingeräumt werden müsse.

49      Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob dieser Ansatz mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsgrundsatz, vereinbar sei.

50      Zum Äquivalenzgrundsatz führt es aus, dass Daten, die durch eine unter Verstoß gegen den Richtervorbehalt und ohne konkreten Verdacht einer Katalogtat vorgenommene Abhörmaßnahme erlangt würden, nach dem deutschen Strafprozessrecht nicht verwertbar wären.

51      Was den Effektivitätsgrundsatz betrifft, gehe aus dem Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 43), hervor, dass das Ziel, dafür Sorge zu tragen, dass der Beschuldigte in einem Strafverfahren durch rechtswidrig erlangte Informationen und Beweise keine unangemessenen Nachteile erleide, nicht nur durch ein Verbot der Verwertung solcher Informationen und Beweise erreicht werden könne, sondern auch durch eine Berücksichtigung der Rechtsverstöße bei der Beweiswürdigung oder im Rahmen der Strafzumessung.

52      Das Verbot der Verwertung dieser Beweise ergebe sich unmittelbar aus dem Effektivitätsgrundsatz des Unionsrechts. Dieses Verbot greife im Ausgangsverfahren, weil der allgemeine Rechtsgrundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt worden sei, insbesondere durch den Umstand, dass die mit den Europäischen Ermittlungsanordnungen angeforderten Daten wegen der Einstufung als „Militärgeheimnis“ durch die französischen Stellen nicht durch einen technischen Sachverständigen überprüft werden könnten.

53      Außerdem schließt das vorlegende Gericht aus den Urteilen vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a.(C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 141), vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 50), sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a. (C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 65), dass das Ziel, schwere Straftaten zu bekämpfen, eine allgemeine unterschiedslose Vorratsspeicherung personenbezogener Daten nicht rechtfertigen könne. Solche rechtswidrig anlasslos gespeicherten Vorratsdaten seien dem anschließenden Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auch dann entzogen, wenn sie im konkreten Fall der Aufklärung schwerer Taten dienen sollten.

54      Unter diesen Umständen hat das Landgericht Berlin das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Zur Auslegung des Merkmals „Anordnungsbehörde“ nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41:

a)      Muss eine Europäische Ermittlungsanordnung zur Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Vollstreckungsstaat (hier: Frankreich) befinden, von einem Richter erlassen werden, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats (hier: Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall die zugrunde liegende Beweiserhebung durch den Richter hätte angeordnet werden müssen?

b)      Gilt dies hilfsweise zumindest dann, wenn der Vollstreckungsstaat die zugrunde liegende Maßnahme auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführt hat mit dem Ziel, die abgeschöpften Daten anschließend den an den Daten interessierten Ermittlungsbehörden im Anordnungsstaat zum Zweck der Strafverfolgung zur Verfügung zu stellen?

c)      Muss eine Europäische Ermittlungsanordnung zur Erlangung von Beweismitteln unabhängig von den nationalen Zuständigkeitsregelungen des Anordnungsstaats immer dann von einem Richter (bzw. einer unabhängigen, nicht mit strafrechtlichen Ermittlungen befassten Stelle) erlassen werden, wenn die Maßnahme schwerwiegende Eingriffe in hochrangige Grundrechte betrifft?

2.      Zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41:

a)      Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41 einer Europäischen Ermittlungsanordnung zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (Frankreich) schon vorhandenen Daten aus einer Telekommunikationsüberwachung – insbesondere Verkehrs- und Standortdaten sowie Aufzeichnungen von Kommunikationsinhalten – entgegen, wenn die vom Vollstreckungsstaat durchgeführte Überwachung sich auf sämtliche Anschlussnutzer eines Kommunikationsdiensts erstreckte, mit der Europäischen Ermittlungsanordnung die Übermittlung der Daten sämtlicher auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats genutzten Anschlüsse begehrt wird und weder bei der Anordnung und Durchführung der Überwachungsmaßnahme noch bei Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von schweren Straftaten durch diese individuellen Nutzer bestanden?

b)      Steht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 einer solchen Europäischen Ermittlungsanordnung entgegen, wenn die Integrität der durch die Überwachungsmaßnahme abgeschöpften Daten wegen umfassender Geheimhaltung durch die Behörden im Vollstreckungsstaat nicht überprüft werden kann?

3.      Zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41:

a)      Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 einer Europäischen Ermittlungsanordnung zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (Frankreich) schon vorhandenen Telekommunikationsdaten entgegen, wenn die der Datenerhebung zugrunde liegende Überwachungsmaßnahme des Vollstreckungsstaats nach dem Recht des Anordnungsstaats (Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unzulässig gewesen wäre?

b)      Hilfsweise: Gilt dies jedenfalls dann, wenn der Vollstreckungsstaat die Überwachung auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats und in dessen Interesse durchgeführt hat?

4.      Zur Auslegung von Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2014/41:

a)      Handelt es sich bei einer mit der Infiltration von Endgeräten verbundenen Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs‑, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts um eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im Sinne von Art. 31 der Richtlinie 2014/41?

b)      Muss die Unterrichtung nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 stets an einen Richter gerichtet werden oder gilt dies zumindest dann, wenn die vom überwachenden Staat (Frankreich) geplante Maßnahme nach dem Recht des unterrichteten Staats (Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nur durch einen Richter angeordnet werden könnte?

c)      Soweit Art. 31 der Richtlinie 2014/41 auch dem Individualschutz der betroffenen Telekommunikationsnutzer dient, erstreckt sich dieser auch auf die Verwendung der Daten zur Strafverfolgung im unterrichteten Staat (Deutschland) und ist gegebenenfalls dieser Zweck gleichwertig mit dem weiteren Zweck, die Souveränität des unterrichteten Mitgliedstaats zu schützen?

5.      Rechtsfolgen einer unionsrechtswidrigen Beweiserlangung

a)      Kann sich bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige Europäische Ermittlungsanordnung unmittelbar aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ein Beweisverwertungsverbot ergeben?

b)      Führt bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige Europäische Ermittlungsanordnung der unionsrechtliche Äquivalenzgrundsatz zu einem Beweisverwertungsverbot, wenn die der Beweisgewinnung im Vollstreckungsstaat zugrunde liegende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall im Anordnungsstaat nicht hätte angeordnet werden dürfen und die durch eine solche rechtswidrige innerstaatliche Maßnahme gewonnenen Beweise nach dem Recht des Anordnungsstaats nicht verwertbar wären?

c)      Verstößt es gegen Unionsrecht, insbesondere den Grundsatz der Effektivität, wenn die strafprozessuale Verwertung von Beweismitteln, deren Erlangung gerade wegen eines fehlenden Tatverdachts unionsrechtswidrig war, im Rahmen einer Interessenabwägung mit der Schwere der erstmals durch die Auswertung der Beweismittel bekannt gewordenen Taten gerechtfertigt wird?

d)      Hilfsweise: Ergibt sich aus dem Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz der Effektivität, dass Unionsrechtsverstöße bei der Beweismittelerlangung in einem nationalen Strafverfahren auch bei schweren Straftaten nicht vollständig ohne Folge bleiben dürfen und daher zumindest auf der Ebene der Beweiswürdigung oder der Strafzumessung zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

55      Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

56      Zur Begründung seines Antrags macht es geltend, dass das Ausgangsverfahren einem besonderen Beschleunigungsgebot unterliege. Auch wenn der nationale Haftbefehl gegen M. N. aktuell nicht vollzogen werde, könne eine dem Staat zuzurechnende vermeidbare Verfahrensverzögerung dazu führen, dass dieser Haftbefehl aufzuheben wäre. Die Entscheidung des Gerichtshofs sei zudem für eine große Vielzahl noch offener gleichgelagerter Verfahren von Bedeutung.

57      Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

58      Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Der Präsident des Gerichtshofs hat im vorliegenden Fall am 16. November 2022 nach Anhörung der Berichterstatterin und der Generalanwältin entschieden, den in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannten Antrag zurückzuweisen.

60      Erstens ist nämlich, da gegen M. N. derzeit keine freiheitsentziehende Maßnahme vollzogen wird, der Umstand, dass das vorlegende Gericht alles für eine zügige Beilegung des Ausgangsverfahrens tun muss, nicht ausreichend, um die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 7. Oktober 2013, Rabal Cañas, C‑392/13, EU:C:2013:877, Rn. 15, und vom 20. September 2018, Minister for Justice and Equality, C‑508/18 und C‑509/18, EU:C:2018:766, Rn. 13, sowie Urteil vom 13. Juli 2023, Ferrovienord, C‑363/21 und C‑364/21, EU:C:2023:563, Rn. 46).

61      Zweitens können die Bedeutung der Fragen oder die Tatsache, dass möglicherweise eine beträchtliche Anzahl von Personen oder Rechtsverhältnissen von diesen Fragen betroffen ist, als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der jedoch erforderlich ist, um die Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. September 2004, Parlament/Rat, C‑317/04, EU:C:2004:834, Rn. 11, und Urteil vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 30).

62      Der Präsident des Gerichtshofs hat jedoch entschieden, dass die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang behandelt wird.

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

63      Die Staatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) und mehrere Regierungen, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, machen geltend, dass bestimmte Fragen unzulässig seien, da sie im Wesentlichen entweder hypothetisch oder zu allgemein seien oder eine Tatsachenwürdigung oder Würdigung nationaler Rechtsvorschriften beträfen.

64      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Richters, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, EU:C:1981:302, Rn. 15). Solange diese Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, über sie zu befinden (Urteil vom 20. September 2022, VD und SR, C‑339/20 und C‑397/20, EU:C:2022:703, Rn. 56).

65      Die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts kann nur dann abgelehnt werden, wenn die Auslegung des Unionsrechts, um die der Gerichtshof ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 61, sowie vom 20. September 2022, VD und SR, C‑339/20 und C‑397/20, EU:C:2022:703, Rn. 57).

66      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung zwar hervor, dass bestimmte Bedenken des vorlegenden Gerichts ihren Ursprung tatsächlich im nationalen Recht haben und dass das vorlegende Gericht bestimmte Tatsachenwürdigungen noch vorzunehmen hat.

67      Zum einen steht es jedoch den nationalen Gerichten nach ständiger Rechtsprechung frei, die Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, wahrzunehmen. Es ist nämlich allein ihre Sache, den geeignetsten Zeitpunkt für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Zum anderen ist festzustellen, dass die Vorlagefragen die Auslegung klar bezeichneter Bestimmungen des Unionsrechts betreffen, von denen nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt. Unter diesen Umständen erscheint eine Beantwortung der Vorlagefragen durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich, da das Vorbringen der Staatsanwaltschaft Berlin und der in Rn. 63 des vorliegenden Urteils genannten Regierungen nicht ausreicht, um darzutun, dass diese Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

69      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen sind, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, notwendigerweise von einem Richter erlassen werden muss, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats die originäre Erhebung dieser Beweismittel in einem rein innerstaatlichen Verfahren des Anordnungsstaats von einem Richter hätte angeordnet werden müssen.

70      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 zwar zur Festlegung der Voraussetzungen für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung beiträgt, aber nicht die Art der Behörde bestimmt, die eine solche Anordnung erlassen kann.

71      Insoweit ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung in zwei Fällen erlassen werden kann. So kann eine solche Anordnung zum einen auf die Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat zur Erlangung von Beweisen gerichtet sein oder, zum anderen, auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, d. h. auf die Übermittlung dieser Beweismittel an die zuständigen Behörden des Anordnungsstaats. In jedem Fall ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung von einer „Justizbehörde“ erlassen oder validiert werden muss.

72      Der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Justizbehörde“ wird dort allerdings nicht definiert. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit deren Art. 2 Buchst. c zu lesen, der den Begriff „Anordnungsbehörde“ für die Zwecke dieser Richtlinie definiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2023, Staatsanwaltschaft Graz [Finanzamt für Steuerstrafsachen Düsseldorf], C‑16/22, EU:C:2023:148, Rn. 27 und 28).

73      Insoweit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie, dass diese Bestimmung ausdrücklich vorsieht, dass der Staatsanwalt zu den Behörden zählt, die wie ein Richter, ein Gericht oder ein Ermittlungsrichter als „Anordnungsbehörde“ zu verstehen sind. Nach dieser Bestimmung ist die einzige Voraussetzung für die Einstufung als „Anordnungsbehörde“, dass das Gericht und die Personen, die die Funktion eines Richters, eines Ermittlungsrichters oder eines Staatsanwalts ausüben, in der betreffenden Sache zuständig sind (Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 50 und 51).

74      Soweit also nach dem Recht des Anordnungsstaats bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt ein Staatsanwalt dafür zuständig ist, Ermittlungsmaßnahmen anzuordnen, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet sind, die sich bereits im Besitz der zuständigen nationalen Behörden befinden, fällt dieser Staatsanwalt für die Zwecke des Erlasses einer Europäischen Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, unter den Begriff „Anordnungsbehörde“ im Sinne von Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/41 (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 52).

75      Ist dagegen ein Staatsanwalt nach dem Recht des Anordnungsstaats nicht befugt, eine solche Maßnahme zur Übermittlung von Beweismitteln anzuordnen, die sich bereits im Besitz der zuständigen nationalen Behörden befinden – also insbesondere dann, wenn eine solche Übermittlung bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt von einem Richter genehmigt werden müsste, weil sie mit schwerwiegenden Eingriffen in die Grundrechte der betroffenen Person verbunden ist –, kann der Staatsanwalt nicht als zuständige Anordnungsbehörde im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Dezember 2021, Spetsializirana prokuratura [Verkehrs- und Standortdaten], C‑724/19, EU:C:2021:1020, Rn. 39).

76      Im vorliegenden Fall macht die deutsche Regierung geltend, dass nach § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO auf nationaler Ebene Beweismittel von einer nationalen Ermittlungsbehörde an eine andere übermittelt werden dürften. Außerdem verlange diese Rechtsgrundlage, die eine andere als die für die originäre Datenerhebung vorgesehene sei, keine richterliche Genehmigung für eine solche Übermittlung. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, festzustellen, ob dies der Fall ist.

77      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen sind, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, nicht notwendigerweise von einem Richter erlassen werden muss, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats in einem rein innerstaatlichen Verfahren dieses Staates die originäre Erhebung dieser Beweismittel von einem Richter hätte angeordnet werden müssen, ein Staatsanwalt aber dafür zuständig ist, die Übermittlung dieser Beweise anzuordnen.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

78      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Er hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen. (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 1984, Haug-Adrion, 251/83, EU:C:1984:397, Rn. 9, und vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 131).

79      Hierzu ist zu bemerken, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Ermittlungsanordnungen darauf gerichtet sind, dass die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt von den französischen Ermittlungsbehörden Daten erlangt, die von mit dem EncroChat-Dienst ausgerüsteten Mobiltelefonen erhoben wurden, deren sich deutsche Nutzer bedienten. Diese Daten waren von diesen Behörden nach Genehmigung durch einen französischen Richter erhoben worden.

80      Die Situation, auf die sich die zweite und die dritte Vorlagefrage beziehen, betrifft somit, wie sich auch aus dem Wortlaut dieser Fragen ergibt, ausschließlich den zweiten der in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 genannten Fälle, nämlich den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung zur Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden.

81      Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten und seiner dritten Frage nach den in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2014/41 genannten materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Europäischen Ermittlungsanordnung in dem spezifischen Kontext fragt, in dem die Behörden eines Mitgliedstaats Daten von Mobiltelefonen erhoben haben, die mittels spezieller Software und modifizierter Geräte eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglichen.

82      Das vorlegende Gericht möchte demnach mit Frage 2 a) wissen, ob der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, um die in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41 aufgestellten Erfordernisse der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit zu erfüllen, u. a. davon abhängig gemacht werden muss, dass gegen jede betroffene Person zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Europäischen Ermittlungsanordnung konkrete Anhaltspunkte für schwere Straftaten vorliegen, oder ob insoweit Hinweise auf das Vorliegen mehrerer, durch noch nicht identifizierte Personen begangener Straftaten ausreichen können.

83      Mit Frage 2 b) möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren dem Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung entgegensteht, wenn die Integrität der durch die Abhörmaßnahme erlangten Daten aufgrund der Vertraulichkeit der technischen Grundlagen, die diese Maßnahme ermöglicht haben, nicht überprüft werden kann und der Beschuldigte aus diesem Grund möglicherweise nicht in der Lage ist, sich im späteren Strafverfahren wirksam zu diesen Daten zu äußern.

84      Was Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 betrifft, möchte das vorlegende Gericht mit Frage 3 a) und b) wissen, ob – allgemein oder zumindest dann, wenn diese Daten von den zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats und im Interesse dieses Staates erhoben wurden – der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, denselben materiellen Voraussetzungen unterliegt, wie sie im Anordnungsstaat für die Erhebung solcher Beweismittel bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt gelten.

85      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit den Fragen 2 und 3, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 es verbietet, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung zur Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, von einem Staatsanwalt erlassen wird, wenn diese Beweismittel aufgrund der durch diese Behörden im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführte Überwachung des Telekommunikationsverkehrs sämtlicher Nutzer von Mobiltelefonen, die mittels spezieller Software und modifizierter Geräte eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglichen, erlangt wurden.

86      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2014/41, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 5 bis 8 ergibt, den fragmentierten und komplizierten Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln in Strafverfahren mit grenzüberschreitenden Bezügen ersetzen und durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems, das auf einem einheitlichen Instrument beruht, das als Europäische Ermittlungsanordnung bezeichnet wird, die justizielle Zusammenarbeit erleichtern und beschleunigen soll, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt (Urteil vom 8. Dezember 2020. Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 39).

87      Nach Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2014/41 ist der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung an zwei kumulative Bedingungen geknüpft, die von der Anordnungsbehörde geprüft werden. Zum einen muss diese Behörde nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a sicherstellen, dass der Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung für die Zwecke der Verfahren nach Art. 4 dieser Richtlinie unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig ist. Zum anderen muss nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b die Anordnungsbehörde prüfen, ob die in der Europäischen Ermittlungsanordnung angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen hätte(n) angeordnet werden können.

88      Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41 verlangt somit eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des Erlasses der Europäischen Ermittlungsanordnung unter Bezugnahme auf die Zwecke der in Art. 4 dieser Richtlinie genannten Verfahren. Der letztgenannte Artikel, der die Verfahren festlegt, für die die Europäische Ermittlungsanordnung erlassen werden kann, bestimmt unter Buchst. a, dass eine solche Anordnung „in Bezug auf Strafverfahren [erlassen werden kann], die eine Justizbehörde wegen einer nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats strafbaren Handlung eingeleitet hat oder mit denen sie befasst werden kann“. Da diese Bestimmung auf das Recht des Anordnungsstaats verweist, ist die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des Erlasses einer solchen Entscheidung allein anhand dieses Rechts zu beurteilen.

89      Insoweit ist in Anbetracht der in den Rn. 82 und 83 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Fragen des vorlegenden Gerichts zum einen klarzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41 nicht verlangt, dass der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung zur Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, zwingend vom Vorliegen eines auf konkrete Tatsachen gestützten Verdachts einer schweren Straftat gegen jede betroffene Person zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Europäischen Ermittlungsanordnung abhängt, wenn sich ein solches Erfordernis nicht aus dem Recht des Anordnungsstaats ergibt.

90      Zum anderen steht diese Bestimmung auch nicht dem Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung entgegen, wenn die Integrität der durch die Überwachungsmaßnahme erlangten Daten wegen der Vertraulichkeit der technischen Grundlagen, die diese Maßnahme ermöglicht haben, nicht überprüft werden kann, sofern das Recht auf ein faires Verfahren im späteren Strafverfahren gewährleistet ist. Die Integrität der übermittelten Beweismittel kann nämlich grundsätzlich nur zu dem Zeitpunkt beurteilt werden, zu dem die zuständigen Behörden tatsächlich über die fraglichen Beweismittel verfügen, und nicht im früheren Stadium des Erlasses der Europäischen Ermittlungsanordnung.

91      Sodann ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 sowie aus der Unterscheidung in Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie, auf die in Rn. 71 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, dass, wenn „die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme“ in der Erlangung von Beweismitteln besteht, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, d. h. der Übermittlung dieser Beweismittel an die zuständigen Behörden des Anordnungsstaats, eine solche Anordnung nur unter der Voraussetzung erlassen werden kann, dass diese Übermittlung „in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen [hätte] angeordnet werden können“.

92      Durch die Verwendung der Formulierungen „unter denselben Bedingungen“ und „in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall“ macht Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 die Bestimmung der genauen Voraussetzungen für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung allein vom Recht des Anordnungsstaats abhängig.

93      Daraus folgt, dass eine Anordnungsbehörde, wenn sie Beweismittel erlangen möchte, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, eine Europäische Ermittlungsanordnung davon abhängig machen muss, dass alle im Recht ihres eigenen Mitgliedstaats für einen vergleichbaren innerstaatlichen Fall vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind.

94      Dies bedeutet, dass die Rechtmäßigkeit einer Europäischen Ermittlungsanordnung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die auf die Übermittlung von im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befindlichen Daten gerichtet ist, die möglicherweise Informationen über die Kommunikation eines Nutzers eines Mobiltelefons, das mittels spezieller Software und modifizierter Geräte eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglicht, liefern, denselben Bedingungen unterliegt, wie sie gegebenenfalls für die Übermittlung solcher Daten bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt des Anordnungsstaats gelten.

95      Setzt die Übermittlung nach dem Recht des Anordnungsstaats voraus, dass konkrete Anhaltspunkte für schwere Straftaten der beschuldigten Person vorliegen oder dass die Beweismittel, die in den fraglichen Daten bestehen, verwertbar sind, unterliegt folglich der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung all diesen Voraussetzungen.

96      Dagegen verlangt Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 auch in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die betreffenden Daten von den zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats und im Interesse dieses Staates erhoben wurden, nicht, dass der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, denselben materiell-rechtlichen Voraussetzungen unterliegt, wie sie im Anordnungsstaat für die Erhebung dieser Beweise gelten.

97      Zwar soll Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 eine Umgehung der im Recht des Anordnungsstaats vorgesehenen Regeln und Garantien verhindern. Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht ersichtlich, dass diese Erhebung und die Übermittlung der auf diese Weise erhobenen Beweismittel mittels einer Europäischen Ermittlungsanordnung eine solche Umgehung bezweckt oder bewirkt hätte, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

98      Da die Richtlinie 2014/41 keine Bestimmung enthält, die die Regelung für eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, in Abhängigkeit von dem Ort der Erhebung dieser Beweismittel unterschiedlich ausgestalten würde, ist der Umstand, dass im vorliegenden Fall der Vollstreckungsstaat diese Erhebung im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats und im Interesse dieses Staates durchgeführt hat, insoweit unerheblich.

99      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass insbesondere aus den Erwägungsgründen 2, 6 und 19 der Richtlinie 2014/41 hervorgeht, dass die Europäische Ermittlungsanordnung ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AEUV ist, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruht. Dieser Grundsatz, der den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bildet, beruht seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der widerlegbaren Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten (Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 40).

100    Daraus folgt, dass die Anordnungsbehörde, wenn sie mittels einer Europäischen Ermittlungsanordnung um Übermittlung von Beweismitteln ersucht, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, nicht befugt ist, die Ordnungsmäßigkeit des gesonderten Verfahrens zu überprüfen, mit dem der Vollstreckungsmitgliedstaat die Beweise, um deren Übermittlung sie ersucht, erhoben hat. Insbesondere würde eine gegenteilige Auslegung von Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie in der Praxis zu einem komplexeren und weniger effizienten System führen, das dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel abträglich wäre.

101    Außerdem ist hervorzuheben, dass die Richtlinie 2014/41 eine gerichtliche Überprüfung der Wahrung der Grundrechte der betroffenen Personen gewährleistet.

102    Zum einen verpflichtet Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 die Mitgliedstaaten dazu, dafür zu sorgen, dass gegen die in der Europäischen Ermittlungsanordnung angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen. In diesem Rahmen ist es Sache des zuständigen Gerichts, die Einhaltung der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten und in den Rn. 87 bis 95 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Anordnung zu prüfen.

103    Sollte daher die Übermittlung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats befinden, entweder für die Zwecke der gegen die betroffene Person im Anordnungsstaat eingeleiteten Strafverfahren unverhältnismäßig sein, z. B. wegen der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte dieser Person, oder unter Verstoß gegen die für ein ähnliches nationales Verfahren geltende gesetzliche Regelung angeordnet worden sein, müsste das Gericht, das mit dem Rechtsbehelf gegen die Europäische Ermittlungsanordnung befasst ist, mit der diese Übermittlung angeordnet wird, daraus die nach nationalem Recht gebotenen Konsequenzen ziehen.

104    Zum anderen verpflichtet Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2014/41 die Mitgliedstaaten dazu, sicherzustellen, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer Europäischen Ermittlungsanordnung erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden.

105    Was konkret das Recht auf ein faires Verfahren betrifft, ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass ein Gericht, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass eine Partei nicht in der Lage ist, sachgerecht zu einem Beweismittel Stellung zu nehmen, das geeignet ist, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen, eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren feststellen und dieses Beweismittel ausschließen muss, um eine solche Rechtsverletzung zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur [Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation], C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 44).

106    Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass er es nicht verbietet, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, von einem Staatsanwalt erlassen wird, wenn diese Beweismittel aufgrund der durch diese Behörden im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführte Überwachung des Telekommunikationsverkehrs sämtlicher Nutzer von Mobiltelefonen, die mittels spezieller Software und modifizierter Geräte eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglichen, erlangt wurden, sofern eine solche Anordnung alle Voraussetzungen erfüllt, die gegebenenfalls nach dem Recht des Anordnungsstaats für die Übermittlung solcher Beweismittel bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt vorgesehen sind.

 Zu Frage 4 a) und b)

107    Mit Frage 4 a) und b), möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass eine mit der Infiltration von Endgeräten verbundene Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs‑, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts eine „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels darstellt, von der ein Richter des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich die Zielperson der Überwachung befindet, zu unterrichten ist.

108    Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 betrifft den Fall, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats zum Zweck der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs einer Zielperson genehmigt hat, deren Kommunikationsanschluss im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats genutzt wird, von dem für die Durchführung der Überwachung keine technische Hilfe benötigt wird. In diesem Fall muss der als „überwachender Mitgliedstaat“ bezeichnete erstgenannte Mitgliedstaat die zuständige Behörde des zweitgenannten Mitgliedstaats, der als „unterrichteter Mitgliedstaat“ bezeichnet wird, von dieser Überwachung unterrichten.

109    Was als Erstes den in dieser Bestimmung verwendeten Begriff „Telekommunikationsverkehr“ betrifft, verlangen nach ständiger Rechtsprechung die einheitliche Anwendung des Unionsrechts und der Gleichheitssatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Vorschrift, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei bei dieser Auslegung nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Januar 1984, Ekro, 327/82, EU:C:1984:11, Rn. 11, und vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 49).

110    Da keine Bestimmung der Richtlinie 2014/41 eine Definition des in Art. 31 Abs. 1 dieser Richtlinie verwendeten Begriffs „Telekommunikationsverkehr“ enthält oder für die Ermittlung seines Sinns und seiner Tragweite ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, ist dieser Begriff nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Methodik im Unionsrecht autonom und einheitlich auszulegen.

111    Was erstens den Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 betrifft, bezieht sich der Begriff „Telekommunikationsverkehr“ in seiner herkömmlichen Bedeutung auf alle Verfahren zur Fernübermittlung von Informationen.

112    Zweitens ist zum Kontext von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 festzustellen, dass Abs. 2 dieses Artikels vorsieht, dass für die Unterrichtung gemäß Abs. 1 das in Anhang C dieser Richtlinie festgelegte Formblatt verwendet wird. Unter der Überschrift „Ziel der Überwachung“ sieht Punkt (B) (III) dieses Anhangs die Angabe sowohl einer Telefonnummer als auch einer Internetprotokoll-Adresse („IP-Adresse“) oder einer E‑Mail-Adresse vor. Das weite Verständnis des Begriffs „Telekommunikationsverkehr“ wird darüber hinaus durch Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2014/41 bestätigt, der ohne zu differenzieren auf „das Material“ abstellt, das bereits gesammelt wurde.

113    Was drittens das Ziel von Art. 31 der Richtlinie 2014/41 betrifft, geht aus deren 30. Erwägungsgrund hervor, dass die Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Rahmen dieser Richtlinie über die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs nicht auf den Inhalt des Telekommunikationsverkehrs beschränkt sein sollten, sondern sich auch auf die Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit diesem Telekommunikationsverkehr erstrecken könnten.

114    Folglich handelt es sich bei einer Infiltration von Endgeräten, die auf die Abschöpfung von Kommunikationsdaten, aber auch von Verkehrs- oder Standortdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts abzielt, um eine „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41.

115    Als Zweites geht, was die Behörde betrifft, an die die in diesem Artikel vorgesehene Unterrichtung zu richten ist, erstens, aus dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 hervor, dass sich der Unionsgesetzgeber damit begnügt hat, auf die „zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats“ zu verweisen, ohne die Art dieser Behörde – Verwaltungsbehörde oder Gericht – oder deren Aufgaben näher darzulegen.

116    Zweitens ist außerdem zum einen festzustellen, dass diese Behörde nicht zu den in Art. 33 der Richtlinie 2014/41 aufgeführten Informationen zählt, die die Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission mitteilen mussten. Zum anderen ergibt sich aus dem Formblatt in Anhang C dieser Richtlinie – das, wie in Rn. 112 des vorliegenden Urteils ausgeführt, für die Unterrichtung über eine „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie zu verwenden ist –, dass insoweit auf diesem Formblatt nur der „unterrichtete Mitgliedstaat“ anzugeben ist.

117    Folglich ist es Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats, die Behörde zu bestimmen, die für die Entgegennahme der in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 genannten Unterrichtung zuständig ist. Sollte der überwachende Mitgliedstaat nicht in der Lage sein, die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats zu ermitteln, so kann diese Unterrichtung an jede Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats gerichtet werden, die der überwachende Mitgliedstaat für geeignet hält.

118    Insoweit ist jedoch klarzustellen, dass die zuständige Behörde im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 nach Art. 31 Abs. 3 dieser Richtlinie u. a. mitteilen kann, dass die Überwachung nicht durchgeführt werden kann oder zu beenden ist, wenn die Überwachung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde. Daraus folgt, dass die Behörde, die die Mitteilung erhält, dann, wenn sie nicht die nach dem Recht des unterrichteten Mitgliedstaats zuständige Behörde ist, die Mitteilung von Amts wegen an die zuständige Behörde weiterleiten muss, um die praktische Wirksamkeit von Art. 31 der Richtlinie 2014/41 sicherzustellen.

119    Nach alledem ist auf Frage 4 a) und b) zu antworten, dass Art. 31 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass eine mit der Infiltration von Endgeräten verbundene Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs‑, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts eine „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels darstellt, von der die Behörde zu unterrichten ist, die von dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die Zielperson der Überwachung befindet, zu diesem Zweck bestimmt wurde. Sollte der überwachende Mitgliedstaat nicht in der Lage sein, die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats zu ermitteln, so kann diese Unterrichtung an jede Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats gerichtet werden, die der überwachende Mitgliedstaat für geeignet hält.

 Zu Frage 4 c)

120    Mit Frage 4 c) möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass er bezweckt, die Rechte der von einer Maßnahme der „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels betroffenen Nutzer zu schützen, und dass sich dieser Schutz auch auf die Verwendung der so gesammelten Daten zur Strafverfolgung im unterrichteten Mitgliedstaat erstreckt.

121    Zunächst ist festzustellen, dass im Gegensatz zu der in Art. 30 der Richtlinie 2014/41 geregelten „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs mit technischer Hilfe eines anderen Mitgliedstaats“ die „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne von Art. 31 dieser Richtlinie, d. h. die Überwachung, bei der keine technische Hilfe des Mitgliedstaats erforderlich ist, in dessen Hoheitsgebiet sich die Zielperson der Überwachung befindet, nicht Gegenstand einer Europäischen Ermittlungsanordnung ist. Daraus folgt, dass die verschiedenen Voraussetzungen und Garantien, die für eine solche Anordnung gelten, auf diese Überwachung nicht anwendbar sind.

122    Sodann ergibt sich, wie in Rn. 118 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, aus dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2014/41, dass die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats in dem Fall, dass die Überwachung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde, der zuständigen Behörde des überwachenden Mitgliedstaats mitteilen kann, dass diese Überwachung nicht durchgeführt werden kann oder zu beenden ist, oder gegebenenfalls sogar, dass das Material, das bereits gesammelt wurde, nicht oder nur unter den von ihr festzulegenden Bedingungen verwendet werden darf.

123    Die Verwendung des Verbs „können“ in dieser Bestimmung impliziert, dass der unterrichtete Mitgliedstaat über eine im Ermessen der zuständigen Behörde dieses Staates stehende Befugnis verfügt, wobei die Ausübung dieser Befugnis dadurch begründet sein muss, dass eine solche Überwachung im Rahmen eines ähnlichen nationalen Verfahrens nicht zulässig wäre.

124    Art. 31 der Richtlinie 2014/41 soll somit nicht nur die Achtung der Souveränität des unterrichteten Mitgliedstaats gewährleisten, sondern auch sicherstellen, dass das in diesem Mitgliedstaat im Bereich der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs garantierte Schutzniveau nicht unterlaufen wird. Da eine Maßnahme der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs einen Eingriff in das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Privatleben und Kommunikation der Zielperson darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 36), ist daher davon auszugehen, dass Art. 31 der Richtlinie 2014/41 auch den Schutz der Rechte der von einer solchen Maßnahme betroffenen Personen bezweckt und dass sich dieser Zweck auf die Verwendung der Daten zu Strafverfolgungszwecken im unterrichteten Mitgliedstaat erstreckt.

125    Nach alledem ist auf Frage 4 c) zu antworten, dass Art. 31 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass er auch bezweckt, die Rechte der von einer Maßnahme der „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels betroffenen Nutzer zu schützen.

 Zur fünften Frage

126    Mit der fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Effektivitätsgrundsatz dem nationalen Strafgericht gebietet, im Rahmen eines Strafverfahrens gegen eine Person, die im Verdacht steht, Straftaten begangen zu haben, Informationen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen, die unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts erlangt wurden.

127    Zunächst ist zum einen darauf hinzuweisen, dass diese Frage nur zu beantworten ist, wenn das vorlegende Gericht auf der Grundlage der Antworten auf die Vorlagefragen 1 bis 4 zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die Europäischen Ermittlungsanordnungen rechtswidrig erlassen worden sind.

128    Zum anderen ist es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts grundsätzlich allein Sache des nationalen Rechts, die Vorschriften für die Zulässigkeit und die Würdigung der in unionsrechtswidriger Weise erlangten Informationen und Beweise im Rahmen eines Strafverfahrens festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 222).

129    Nach ständiger Rechtsprechung ist es nämlich mangels einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu regeln, wobei sie jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, sowie vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 223).

130    Allerdings darf, wie sich aus den Rn. 104 und 105 des vorliegenden Urteils ergibt, nicht außer Acht werden, dass Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2014/41 den Mitgliedstaaten ausdrücklich vorschreibt, unbeschadet der nationalen Verfahrensvorschriften sicherzustellen, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer Europäischen Ermittlungsanordnung erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden, was impliziert, dass ein Beweismittel, zu dem eine Partei nicht sachgerecht Stellung nehmen kann, vom Strafverfahren auszuschließen ist.

131    Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass er dem nationalen Strafgericht gebietet, im Rahmen eines Strafverfahrens gegen eine Person, die im Verdacht steht, Straftaten begangen zu haben, Informationen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen, wenn diese Person nicht in der Lage ist, sachgerecht zu diesen Informationen und Beweismitteln Stellung zu nehmen, und diese geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen.

 Kosten

132    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen

sind dahin auszulegen, dass

eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, nicht notwendigerweise von einem Richter erlassen werden muss, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats in einem rein innerstaatlichen Verfahren dieses Staates die originäre Erhebung dieser Beweismittel von einem Richter hätte angeordnet werden müssen, ein Staatsanwalt aber dafür zuständig ist, die Übermittlung dieser Beweise anzuordnen.

2.      Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41

ist dahin auszulegen, dass

er es nicht verbietet, dass eine Europäische Ermittlungsanordnung, die auf die Übermittlung von Beweismitteln gerichtet ist, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, von einem Staatsanwalt erlassen wird, wenn diese Beweismittel aufgrund der durch diese Behörden im Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführte Überwachung des Telekommunikationsverkehrs sämtlicher Nutzer von Mobiltelefonen, die mittels spezieller Software und modifizierter Geräte eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglichen, erlangt wurden, sofern eine solche Anordnung alle Voraussetzungen erfüllt, die gegebenenfalls nach dem Recht des Anordnungsstaats für die Übermittlung solcher Beweismittel bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt vorgesehen sind.

3.      Art. 31 der Richtlinie 2014/41

ist dahin auszulegen, dass

eine mit der Infiltration von Endgeräten verbundene Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts eine „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels darstellt, von der die Behörde zu unterrichten ist, die von dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die Zielperson der Überwachung befindet, zu diesem Zweck bestimmt wurde. Sollte der überwachende Mitgliedstaat nicht in der Lage sein, die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats zu ermitteln, so kann diese Unterrichtung an jede Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats gerichtet werden, die der überwachende Mitgliedstaat für geeignet hält.

4.      Art. 31 der Richtlinie 2014/41

ist dahin auszulegen, dass

er auch bezweckt, die Rechte der von einer Maßnahme der „Überwachung des Telekommunikationsverkehrs“ im Sinne dieses Artikels betroffenen Nutzer zu schützen.

5.      Art. 14 Abs. 7 der Richtlinie 2014/41

ist dahin auszulegen, dass

er dem nationalen Strafgericht gebietet, im Rahmen eines Strafverfahrens gegen eine Person, die im Verdacht steht, Straftaten begangen zu haben, Informationen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen, wenn diese Person nicht in der Lage ist, sachgerecht zu diesen Informationen und Beweismitteln Stellung zu nehmen, und diese geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen.

Lenaerts

Bay Larsen

Prechal

Jürimäe

Lycourgos

von Danwitz

Csehi

Spineanu-Matei

Ilešič

Bonichot

Jarukaitis

Kumin

Gratsias

Arastey Sahún

Gavalec

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. April 2024.

Der Kanzler

 

Der Präsident

A. Calot Escobar

 

K. Lenaerts


*      Verfahrenssprache: Deutsch.