Language of document : ECLI:EU:C:2022:475

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 16. Juni 2022(1)

Rechtssache C459/20

X

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht [Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers ist, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieses Kind besitzt – Kind, das sich außerhalb des Unionsgebiets aufhält – Verweigerung des Aufenthalts, die dem Kind die Möglichkeit nehmen kann, sich in das Hoheitsgebiet der Union zu begeben – Kindeswohl – Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und seinem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist“






I.      Einleitung

1.        Inwieweit kann ein Drittstaatsangehöriger als Elternteil eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sein Kind besitzt, über ein auf Art. 20 AEUV gestütztes abgeleitetes Aufenthaltsrecht verfügen, wenn das Kind seit seiner Geburt außerhalb des Hoheitsgebiets der Union wohnt?

2.        Dies ist im Wesentlichen die Frage, die die vorliegende Rechtssache aufwirft.

3.        Zur Beantwortung dieser Frage wird es erforderlich sein, zu klären, inwieweit die Grundsätze, die der Gerichtshof in den Urteilen vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano(2), vom 15. November 2011, Dereci u. a.(3), vom 6. Dezember 2012, O u. a.(4), und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a.(5) aufgestellt und im Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien)(6), erneut bekräftigt hat, auf einen Fall anwendbar sind, in dem zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts in einem Mitgliedstaat zum einen der drittstaatsangehörige Elternteil und sein Kind, das Unionsbürger ist und die Staatsangehörigkeit dieses Staates besitzt, nicht zusammen wohnen und zum anderen dieses Kind sich noch nie im Hoheitsgebiet der Union aufgehalten hat.

4.        Im Rahmen dieser Analyse müssen zwei Fallgestaltungen unterschieden werden. Im ersten Fall handelt es sich bei diesem Antrag um einen „Alleingang“ des drittstaatsangehörigen Elternteils, der mit der Einreise des Kindes, das Unionsbürger ist, in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, oder mit seinem Aufenthalt dort in keinem Zusammenhang steht. Im zweiten Fall ist dieser Antrag hingegen Teil eines „gemeinsamen“ Vorgehens des Elternteils und seines Kindes, das sein Recht auf Freizügigkeit, das ihm sein Status als Unionsbürger verleiht, ausüben will, indem es das Drittland, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, verlässt, um sich in den Mitgliedstaat zu begeben, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt.

5.        Die Antwort auf diese Frage wird auch einige Klarstellungen dazu erfordern, wie zum einen das Kindeswohl zu beurteilen ist und welche Kriterien zum anderen für die Beurteilung des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses gelten, das in einer solchen Situation ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen kann.

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

A.      Sachverhalt

6.        Die Klägerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerin), eine thailändische Staatsangehörige, hielt sich rechtmäßig in den Niederlanden auf, wo sie mit A, einem niederländischen Staatsangehörigen, verheiratet war. Aus dieser Ehe ging am 28. März 2012 ein Kind hervor, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt. Dieses Kind, das heute zehn Jahre alt ist, wurde in Thailand geboren, wo es von seiner Großmutter mütterlicherseits aufgezogen wurde, weil die Klägerin nach der Geburt des Kindes in die Niederlande zurückgekehrt war. Das Kind hat stets in diesem Drittland gewohnt und sich nie in den Niederlanden oder einem anderen EU-Mitgliedstaat aufgehalten. Die Klägerin besuchte es einige Male in Thailand. Dieses Kind spricht weder Niederländisch noch Englisch(7).

7.        Mit Bescheid vom 22. Mai 2017 wurde das Aufenthaltsrecht der Klägerin rückwirkend zum 1. Juni 2016 mit der Begründung widerrufen, dass ihre Beziehung zu A zu diesem Zeitpunkt de facto geendet habe. Die Ehe wurde am 17. Mai 2018 geschieden und die Eltern erhielten von Rechts wegen das gemeinsame Sorgerecht für das Kind.

8.        Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass die Klägerin am 14. März 2018 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen stellte, der am 26. Juni 2018 abgelehnt wurde. Auch die gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde mit Urteil vom 18. Dezember 2018 abgewiesen.

9.        Am 6. Mai 2019 teilte der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, im Folgenden: Staatssekretär) der Klägerin mit, dass sie am 8. Mai 2019 nach Bangkok (Thailand) abgeschoben werden solle.

10.      Am 7. Mai 2019 stellte B, ein niederländischer Staatsangehöriger, einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels („Aanvrag voor het verblijfsdoel ‚familie en gezin‘ [Antrag auf Aufenthalt als Familienangehöriger]“) zum Zweck der Familienzusammenführung mit der Klägerin als Familienangehöriger im weiteren Sinne. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 8. Mai 2019 mit der Begründung abgelehnt, dass zwischen der Klägerin und B keine dauerhafte und ausschließliche Beziehung bestehe und B nicht über ausreichende Mittel für diesen Zweck verfüge. In diesem Bescheid stellte der Staatssekretär außerdem klar, dass die Klägerin sich nicht auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV berufen könne, wie es vom Gerichtshof im Urteil Chavez-Vilchez u. a. anerkannt worden sei.

11.      Am 8. Mai 2019 wurde die Klägerin nach Bangkok (Thailand) abgeschoben.

12.      Mit Bescheid vom 2. Juli 2019 hielt der Staatssekretär die Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aufrecht.

B.      Verfahren vor dem vorlegenden Gericht und Vorlagefragen

13.      Gegen den Bescheid vom 2. Juli 2019 erhob die Klägerin Klage mit der Begründung, dass ihrem Kind durch diesen Bescheid die Möglichkeit genommen werde, sich innerhalb der Union aufzuhalten, was die praktische Wirksamkeit der Rechte, die ihm aufgrund seines Status als Unionsbürger zustünden, in Frage stelle.

14.      Insoweit macht sie geltend, dass ihr Kind aufgrund seiner niederländischen Staatsangehörigkeit das Recht habe, sich im Hoheitsgebiet der Union aufzuhalten. Sie weist ferner darauf hin, dass sie stets eine affektive Beziehung zu dem Kind unterhalten und die rechtliche und finanzielle Verantwortung für das Kind getragen habe. Während sie in der Zeit vor ihrer Rückkehr nach Thailand gezwungen gewesen sei, die Betreuung und Erziehung des Kindes aus der Ferne über die sozialen Medien wahrzunehmen, kümmere sie sich seit ihrer Rückkehr nach Thailand am 8. Mai 2019 täglich um das Kind. Sie fügt hinzu, dass ihr durch ein Urteil des Gerichts in Surin (Thailand) vom 5. Februar 2020 das alleinige Sorgerecht zugesprochen worden sei. Sie weist darauf hin, dass ihre Mutter aus medizinischen Gründen nicht mehr in der Lage sei, das Kind zu betreuen. Außerdem trägt sie vor, dass der Vater des Kindes nie die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für sein Kind ausgeübt habe.

15.      Der Staatssekretär macht im Wesentlichen geltend, dass die im Urteil Chavez-Vilchez u. a. aufgestellten Grundsätze auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar seien, weil die Ablehnung des von der Klägerin gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht zur Folge habe, dass das Kind, das sich ja seit seiner Geburt in Thailand aufhalte, das Hoheitsgebiet der Union verlassen müsse. Er trägt vor, es gebe weder einen objektiven Beweis dafür, dass die Klägerin tatsächlich die rechtliche, finanzielle und affektive Sorge für ihr Kind ausübe oder dass ein solches Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihr und dem Kind bestehe, noch dafür, dass das Kind gezwungen sei, sich außerhalb des Hoheitsgebiets der Union aufzuhalten. Seiner Ansicht nach sind die Angaben der Klägerin zur Rolle des Vaters ihres Kindes subjektiv. Da das Urteil des Gerichts in Surin (Thailand) nicht legalisiert worden sei, könne außerdem nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass die Klägerin das alleinige Sorgerecht für ihr Kind habe. Der Staatssekretär fügt hinzu, dass die Klägerin auch nicht nachgewiesen habe, dass ihr Sohn selbst in die Niederlande kommen und dort leben wolle oder dass es in seinem Interesse sei, ihr eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

16.      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen mit einem unterhaltsberechtigten minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist und sich in einem tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Drittstaatsangehörigen befindet, das Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat verweigert, dessen Staatsangehörigkeit der minderjährige Unionsbürger besitzt, während sich der minderjährige Unionsbürger sowohl außerhalb dieses Mitgliedstaats als auch außerhalb der Union befindet und/oder sich noch nie im Gebiet der Union aufgehalten hat, so dass dem minderjährigen Unionsbürger der Zugang zum Gebiet der Union faktisch verweigert wird?

2.      a)      Müssen (minderjährige) Unionsbürger ein Interesse an der Ausübung der ihnen aufgrund ihrer Unionsbürgerschaft zustehenden Rechte behaupten oder glaubhaft machen?

b)      Kann es in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, dass minderjährige Unionsbürger ihre Rechte normalerweise nicht selbständig geltend machen können und nicht selbst über ihren Aufenthaltsort entscheiden dürfen, sondern dabei von ihren Eltern(teilen) abhängig sind, was zur Folge haben kann, dass im Namen eines minderjährigen Unionsbürgers die Ausübung seiner Rechte als Unionsbürger in Anspruch genommen wird, obwohl dies seinen sonstigen Interessen, wie sie u. a. im Urteil Chavez-Vilchez u. a. genannt werden, zuwiderlaufen könnte?

c)      Handelt es sich dabei um absolute Rechte in dem Sinne, dass hierfür keine Hindernisse geschaffen werden dürfen oder dass für den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der (minderjährige) Unionsbürger besitzt, sogar eine positive Verpflichtung dahin besteht, die Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen?

3.      a)      Ist bei der Beurteilung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Frage 1 vorliegt, von entscheidender Bedeutung, ob der drittstaatsangehörige Elternteil vor der Antragstellung oder vor dem Erlass des ihm ein Aufenthaltsrecht verweigernden Bescheids oder vor dem Zeitpunkt, zu dem ein (nationales) Gericht in einem diese Verweigerung betreffenden rechtlichen Verfahren entscheidet, sich im Alltag um den minderjährigen Unionsbürger gekümmert hat und ob bisher andere diese Aufgabe übernommen haben und/oder (weiterhin) übernehmen können?

b)      Kann in diesem Zusammenhang vom minderjährigen Unionsbürger verlangt werden, dass er sich, um seine sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche tatsächlich ausüben zu können, im Gebiet der Union bei seinem anderen Elternteil niederlässt, der Unionsbürger, aber möglicherweise nicht mehr sorgeberechtigt für den Minderjährigen ist?

c)      Sollte dies der Fall sein: Macht es dabei einen Unterschied, ob dieser Elternteil das Sorgerecht und/oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für den Minderjährigen ausübt bzw. ausgeübt hat und ob er bereit ist, diese Sorge zu übernehmen und/oder sich um den Minderjährigen zu kümmern?

d)      Falls sich herausstellen sollte, dass der drittstaatsangehörige Elternteil das alleinige Sorgerecht für den minderjährigen Unionsbürger hat, bedeutet dies dann, dass der Frage nach der rechtlichen, finanziellen und/oder affektiven Sorge weniger Gewicht beizumessen ist?

17.      Die niederländische, die dänische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

18.      Die Beteiligten wurden darüber hinaus aufgefordert, auf die vom Gerichtshof zur mündlichen Beantwortung gestellten Fragen zu antworten. Sie haben in der Sitzung vom 23. Februar 2022 mündlich verhandelt.

III. Würdigung

19.      Die Fragen, die das vorlegende Gericht an den Gerichtshof richtet, betreffen die Art und Weise der Beurteilung, ob in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ein auf Art. 20 AEUV gestütztes abgeleitetes Aufenthaltsrecht besteht, auf das sich eine Drittstaatsangehörige, die die Mutter eines minderjährigen Unionsbürgers ist, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt, auch dann berufen kann, wenn dieses Kind seit seiner Geburt seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat hat(8).

20.      Wie bereits erwähnt, sind bei der Beantwortung dieser Fragen zwei Fälle zu unterscheiden.

21.      Im ersten Fall, der meines Erachtens im Mittelpunkt der ersten Vorlagefrage steht, fügt sich der Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV in ein Vorgehen des drittstaatsangehörigen Elternteils ein, das mit der Einreise des minderjährigen Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder seinem Aufenthalt dort in keinem Zusammenhang steht. In Anbetracht des Zwecks und des Inhalts des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels dürfte die vorliegende Situation dieser Fallgruppe zuzurechnen sein.

22.      Im zweiten Fall fügt sich der Antrag hingegen in ein Vorgehen des Kindes ein, das von der Freizügigkeit, die ihm sein Status als Unionsbürger verleiht, Gebrauch machen möchte, indem es das Drittland, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, verlässt, um sich in den Mitgliedstaat zu begeben, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt. Meines Erachtens zielt das vorlegende Gericht mit seiner zweiten und dritten Vorlagefrage im Wesentlichen auf diesen Fall ab, weil es den Gerichtshof ersucht, zu präzisieren, in welcher Weise zum einen das Kindeswohl (zweite Vorlagefrage) und zum anderen das Bestehen oder Nichtbestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Kind und seinem drittstaatsangehörigen Elternteil oder seinem anderen Elternteil, der Unionsbürger ist (dritte Vorlagefrage), zu beurteilen sind.

A.      Erste Vorlagefrage

23.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen vom Gerichtshof wissen, ob Art. 20 AEUV einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der für den Unterhalt seines minderjährigen Kindes, eines Unionsbürgers, sorgt, das Aufenthaltsrecht mit der Begründung versagt wird, dass dieses Kind, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, seit seiner Geburt außerhalb des Unionsgebiets lebt.

24.      Diese Frage muss auf der Grundlage der klassischen Prüfung der Grundsätze beantwortet werden, die der Gerichtshof in den Urteilen vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano(9), vom 15. November 2011, Dereci u. a.(10), vom 6. Dezember 2012, O u. a.(11), und Chavez-Vilchez u. a. aufgestellt hat.

25.      Nach diesen Grundsätzen, die der Gerichtshof in den Rn. 47 bis 52 des Urteils K.A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien) zusammengefasst hat, verleiht Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird.

26.      Dagegen verleihen die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte. Die etwaigen Rechte, die sie den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Die Gewährung dieser Rechte soll sicherstellen, dass ein Unionsbürger, der sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf der Grundlage von Art. 20 AEUV mit einem drittstaatsangehörigen Familienmitglied zusammenleben kann, und so die Familienzusammenführung gewährleisten.

27.      Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen – obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger des Unionsbürgers ist, dennoch ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde.

28.      Wie der Gerichtshof festgestellt hat, sind solche Fälle dadurch gekennzeichnet, dass sie, auch wenn sie durch Rechtsvorschriften geregelt sind, die a priori in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, und zwar durch die Rechtsvorschriften über das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen außerhalb des Anwendungsbereichs des Sekundärrechts, die unter bestimmten Voraussetzungen die Verleihung eines Einreise- und Aufenthaltsrechts vorsehen, dennoch in einem inneren Zusammenhang mit der Freizügigkeit und dem Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers stehen, die beeinträchtigt würden, wenn den Drittstaatsangehörigen das Recht verweigert würde, in den Mitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt, einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die daher der Versagung dieses Rechts entgegenstehen(12).

29.      Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.

30.      Ich stelle jedoch fest, dass der Wortlaut und der Zweck dieser Rechtsprechung zeigen, dass sie keine Anwendung auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens findet, in der zum einen der Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts von einem drittstaatsangehörigen Elternteil gestellt wird, während das minderjährige Kind, das Unionsbürger ist, nicht bei diesem drittstaatsangehörigen Elternteil in dem Mitgliedstaat wohnt, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, und dort auch nie gewohnt hat, und zum anderen dieser Antrag nichts erkennen lässt, was auf den Willen des Kindes hindeutet, die ihm aufgrund seines Status als Unionsbürger zustehenden Rechte auszuüben, indem es zusammen mit diesem Elternteil in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreist und sich dort aufhält.

31.      Wie der Gerichtshof im Urteil vom 27. Juni 2018, Altiner und Ravn(13), festgestellt hat, ist „der Unionsbürger die Referenzperson dafür …, dass einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden kann“(14).

32.      Im vorliegenden Fall stelle ich fest, dass die Mutter des Kindes zum Zeitpunkt der Einreichung des in Rede stehenden Antrags immer in dem betreffenden Mitgliedstaat gewohnt hat, während ihr minderjähriges Kind, ein Unionsbürger, immer in Thailand gelebt hat. Da die Mutter und ihr Kind immer getrennt in zwei verschiedenen Ländern gelebt haben, konnten sie kein wirkliches Familienleben führen. Unter diesen Umständen verstößt die Weigerung, der Mutter des Kindes ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, offenbar nicht gegen das Recht der betroffenen Personen auf Familienzusammenführung.

33.      Darüber hinaus lagen am Tag der Einreichung des Antrags auf ein Aufenthaltsrecht bestimmte Anhaltspunkte vor, die Zweifel an der Absicht der Mutter des Kindes aufkommen ließen, sich mit ihm in den Niederlanden niederzulassen, dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt. Nach der Scheidung der Eltern und dem Widerruf des Aufenthaltstitels „Familienzusammenführung“, über den die Mutter dieses Kindes verfügte, stellte diese am 14. März 2018 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, der abgelehnt wurde, bevor sie am 7. Mai 2019 den in Rede stehenden Antrag stellte. Bei diesem Antrag, der der nationalen Verfahrensakte beigefügt ist und die Überschrift „Aanvrag voor het verblijfsdoel ‚familie en gezin‘ [Antrag auf Aufenthalt als Familienangehöriger]“ trägt, soll es sich zunächst und vor allem um einen Antrag auf Familienzusammenführung handeln, der von B, dem Lebensgefährten der Klägerin, zugunsten der Mutter des Kindes gestellt worden sei. Aus den Unterlagen in der nationalen Verfahrensakte geht hervor, dass dieser Antrag keine Hinweise darauf enthielt, dass die Mutter konkrete Schritte unternommen hätte, damit das Kind mit ihr in die Niederlande einreist und sich dort mit ihr aufhält.

34.      Unter diesen Umständen hat die Weigerung, der Mutter des Kindes ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, nicht zur Folge, dass dem Kind der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm aufgrund seines Status als Unionsbürger zustehen, vorenthalten wird, weil es weder gezwungen ist, das Hoheitsgebiet der Union – in dem es sich nicht aufhält – zu verlassen, noch darauf zu verzichten, sich dorthin zu begeben und dort aufzuhalten, weil nämlich keine Schritte in diese Richtung unternommen wurden.

35.      Da eine solche Situation in keinem Zusammenhang mit der Freizügigkeit und der Aufenthaltsfreiheit steht, die das minderjährige Kind aufgrund seines Status als Unionsbürger genießt, kann sie kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen(15).

36.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das die Staatsangehörigkeit dieses Staates besitzt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet dieses Staates versagt wird, wenn dieses Kind sich noch nie im Gebiet der Union aufgehalten hat, seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb dieses Gebiets hat und nicht beabsichtigt, die mit seinem Status als Unionsbürger verbundenen Rechte auszuüben, indem es beantragt, in Begleitung dieses Elternteils, von dem es abhängig ist, in diesen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten.

37.      Nunmehr ist der zweite Fall zu prüfen, in dem der Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts im Gegenteil darauf abzielt, sicherzustellen, dass das Kind die ihm als Unionsbürger zustehenden Rechte ausüben kann, indem es ihm ermöglicht wird, in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit einzureisen und sich dort aufzuhalten. Der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein kleines Kind setzt nämlich notwendigerweise voraus, dass es von der Person begleitet wird, die das Sorgerecht oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind tatsächlich ausübt. So bringt das vorlegende Gericht die Befürchtung zum Ausdruck, dass die Verweigerung eines solchen Aufenthaltsrechts hier dazu führen könnte, dass diesem Kind die Möglichkeit genommen wird, in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, zu reisen und sich dort aufzuhalten, und zwar aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem es zu seiner Mutter steht.

38.      In einem solchen Fall muss sichergestellt werden, dass die Ausübung der mit dem Status eines Unionsbürgers verbundenen Rechte und die Wahrnehmung der damit verbundenen abgeleiteten Rechte den Interessen des Kindes entsprechen und angesichts des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem das Kind zu seinem drittstaatsangehörigen Elternteil steht, gerechtfertigt sind.

39.      Diese Aspekte werden im Rahmen der Prüfung der zweiten und der dritten Vorlagefrage analysiert.

B.      Zweite Vorlagefrage: Art und Weise der Beurteilung des Kindeswohls

40.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen darum, zu klären, in welcher Art und Weise das Kindeswohl in einem Fall zu beurteilen ist, in dem der Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV im Rahmen der Verbringung des Kindes aus dem Drittstaat, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, gestellt wird.

41.      Insbesondere fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob nachgewiesen werden muss, dass diese Verbringung im tatsächlichen oder plausiblen Interesse des Kindes liegt, und ob die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte absolute Rechte in dem Sinne sind, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, positiv verpflichtet ist, die Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen und sie nicht zu behindern.

42.      Diese Fragen gehen offenbar auf die vom vorlegenden Gericht geäußerte Besorgnis zurück, dass das Verbringen des Kindes hier im Wesentlichen durch den Wunsch der drittstaatsangehörigen Mutter motiviert sein könnte, in die Niederlande zurückzukehren und auf diese Weise ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat zu behalten. In Anbetracht dieser Gesichtspunkte halte ich es daher für wichtig, im Rahmen der zu erteilenden Antwort die besonderen Umstände dieser Rechtssache im Auge zu behalten, ohne sich jedoch bei der dem vorlegenden Gericht oder der zuständigen nationalen Behörde zukommenden Aufgabe, sich zu den möglichen Begleitumständen des von der Mutter dieses Kindes gestellten Antrags auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu äußern, an deren Stelle zu setzen.

43.      Erstens bin ich der Auffassung, dass die Ausübung der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte und der Genuss der damit verbundenen abgeleiteten Rechte nur insoweit in Betracht kommen, als sie dem Wohl des Kindes dienen und die Achtung seiner Grundrechte gemäß Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gewährleisten(16).

44.      Bei der Prüfung eines Antrags auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts, der im Zusammenhang mit der Einreise eines Kindes, das Unionsbürger ist, in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, und seinem Aufenthalt dort gestellt wird, hat die Beurteilung daher aus der Perspektive des Kindes zu erfolgen und nicht aus der Perspektive des drittstaatsangehörigen Elternteils(17).

45.      So verlangt Art. 24 Abs. 1 der Charta, dass die zuständige nationale Behörde alle geeigneten Maßnahmen ergreift, um dem betroffenen Kind eine echte und wirksame Möglichkeit zu geben, gehört zu werden.

46.      Darüber hinaus verpflichtet Art. 24 Abs. 2 der Charta die zuständige nationale Behörde, das Wohl dieses Kindes zu berücksichtigen. Diese Behörde muss daher anhand aller aktuellen und relevanten Umstände des Einzelfalls überprüfen, ob das Verbringen des Kindes unter Berücksichtigung seiner Interessen erfolgt(18). Das bedeutet, dass diese Behörde sich vergewissern muss, dass das Verbringen des Kindes nicht die Gefahr nachteiliger Auswirkungen auf seine Situation birgt und dass es in seinem Interesse liegt, indem es sich in einen greifbaren Plan für ein Familienleben oder – um den von der Kommission in der mündlichen Verhandlung verwendeten Ausdruck zu übernehmen – in einen „glaubwürdigen Plan“ einfügt.

47.      Besondere Aufmerksamkeit ist in diesem Zusammenhang dem sozialen und familiären Umfeld des Kindes zu widmen sowie – unter den Umständen des Ausgangsverfahrens – dem Plan, in den sich das Verbringen dieses Kindes einfügt, und den Absichten, die die Mutter des Kindes insoweit hegt.

48.      Zweitens sind daher diese verschiedenen Kriterien zu prüfen.

1.      Soziales und familiäres Umfeld des Kindes

49.      Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, ist das Umfeld eines Kindes von geringem Alter im Allgemeinen weitgehend ein familiäres Umfeld, das durch die Bezugsperson oder ‑personen bestimmt wird, mit denen das Kind zusammenlebt, die das Kind tatsächlich betreuen und die für es sorgen(19). In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der das Kind zehn Jahre alt und somit im schulpflichtigen Alter ist, hat die zuständige nationale Behörde daher zu würdigen, welche etwaigen negativen Auswirkungen das Verbringen des Kindes auf sein körperliches und seelisches Wohlbefinden sowie auf seine affektiven, familiären und sozialen Beziehungen oder auch auf seine materielle Lage haben könnte(20).

50.      Im vorliegenden Fall geht aus der nationalen Verfahrensakte hervor, dass das Kind seit seiner Geburt in Thailand von seiner Großmutter mütterlicherseits aufgezogen wurde, so dass es zweifellos eine sehr starke affektive Beziehung zu ihr aufgebaut hat. Es geht auch in Thailand zur Schule, was die Bindungen zum sprachlichen und kulturellen Umfeld dieses Landes belegt, in dem auch andere Mitglieder seiner Familie leben. Dagegen ergibt sich aus der nationalen Verfahrensakte, dass dieses Kind nie in die Niederlande gereist ist und weder die niederländische noch die englische Sprache beherrscht.

51.      Die zuständige nationale Behörde muss jedoch auch neueren Entwicklungen im Familienleben des Kindes Rechnung tragen. So sollte sie die Art und Intensität der Beziehungen berücksichtigen, die sich (möglicherweise) zwischen diesem Kind und seiner Mutter seit deren Rückkehr nach Thailand entwickelt haben. Auch wenn die Angaben in der nationalen Verfahrensakte weder die Art der Beziehung von A zu seinem Kind noch den aktuellen Umfang seines Beitrags zu dessen Unterhaltskosten erkennen lassen, sollte darüber hinaus festgestellt werden, ob der Vater des Kindes außerstande oder unfähig ist, sich jemals um das Kind zu kümmern, und ob das Kind persönliche Beziehungen und direkten Kontakt zu seinem Vater haben möchte und somit das Recht aus Art. 24 Abs. 3 der Charta beansprucht.

2.      Vorhandensein eines glaubwürdigen Lebensplans

52.      Die zuständige nationale Behörde muss auch berücksichtigen, unter welchen Umständen und aus welchen Beweggründen das Kind aus dem Drittland, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in den Mitgliedstaat verbracht werden soll, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, in dem es aber nie gelebt hat(21). Es muss nämlich die mögliche Gefahr in Betracht gezogen werden, dass dieses Kind als Mittel des Drittstaatsangehörigen zu dessen eigenem Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Union anzusehen ist, was einen Missbrauch des nach Art. 20 AEUV gewährten abgeleiteten Aufenthaltsrechts darstellen würde(22).

53.      Eine solche Prüfung ist umso mehr in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens geboten, in der die geografischen und familiären Wurzeln der Mutter des Kindes in dem Drittland liegen, in dem dieses Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, und der Vater und das Kind nach den eigenen Angaben der Mutter nur wenige oder keine Beziehungen unterhalten.

54.      Im vorliegenden Fall sind daher die Absichten der Mutter des Kindes, die offenbar die alleinige Inhaberin der elterlichen Sorge für das Kind ist, ein besonders erheblicher Faktor.

55.      Zum Zeitpunkt der Einreichung des in Rede stehenden Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bestanden nämlich kaum Zweifel an der Absicht der Mutter, in den Niederlanden zu bleiben. Darüber hinaus ließen zu diesem Zeitpunkt andere, in Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge genannte Anhaltspunkte Zweifel an ihrer festen Absicht aufkommen, sich mit ihrem Kind in diesem Staat niederzulassen. Soweit die Mutter schließlich behauptet, seit ihrer Rückkehr nach Thailand ein tatsächliches Familienleben mit ihrem Kind entwickelt zu haben, ist dies offenbar nicht das Ergebnis einer wohlüberlegten Entscheidung, mit dem Kind zu leben, sondern das Ergebnis der am 8. Mai 2019 gegen sie vollstreckten Rückkehrentscheidung.

56.      Allerdings darf die Gefahr eines Missbrauchs auch nicht allein aufgrund der Tatsache vermutet werden, dass die Drittstaatsangehörige mehrere Jahre lang in großer Entfernung von ihrem Kind gelebt hat. Somit kann die Gesamtheit dieser Umstände nicht als unwiderrufliche Festlegung des Aufenthaltsortes des Kindes in Thailand angesehen werden. Dem Kind darf nicht die Möglichkeit genommen werden, in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, zu reisen und sich dort aufzuhalten, und auch der Mutter dieses Kindes darf nicht die Möglichkeit genommen werden, das Familienleben, das sie möglicherweise 2019 mit ihrem Sohn in Thailand begonnen hat, in den Niederlanden fortzusetzen.

57.      Unter diesen Umständen muss die Absicht der Mutter, sich mit dem Kind in dem Mitgliedstaat niederzulassen, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt, in objektiven oder greifbaren Anhaltspunkten gesucht und gefunden werden können, die belegen, dass das Kind tatsächlich in den Mitgliedstaat verbracht werden soll, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, dass sein Aufenthalt dort nicht vorübergehender oder gelegentlicher Natur sein wird und dass dies unter Berücksichtigung seines Wohls beschlossen wurde. So könnten zum Beispiel der Erwerb oder die Anmietung einer Wohnung(23) in diesem Mitgliedstaat oder die Anmeldung in einer Schule relativ starke Indizien sein.

58.      Diese Anhaltspunkte sind zwar wichtig, aber sicherlich nicht die einzigen, die zu berücksichtigen sind. Die Prüfung, zu der die nationalen Behörden verpflichtet sind, muss nämlich stets nach einer Gesamtbewertung der Situation und nach Abwägung aller relevanten Faktoren sowie mit dem Ziel erfolgen, das familiäre und soziale Umfeld des Kindes zu ermitteln und seine Interessen zu wahren.

3.      Gespräch mit dem Kind und dem drittstaatsangehörigen Elternteil

59.      Meines Erachtens kann die Situation des Kindes nicht beurteilt werden, ohne dass das Kind gemäß Art. 24 der Charta die Möglichkeit hatte, sich zu der Frage zu äußern, ob es sich in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, begeben und sich dort mit seiner Mutter niederlassen möchte. Im vorliegenden Fall ist das Kind zwar noch von seiner Mutter abhängig, aber heute immerhin zehn Jahre alt und damit im schulpflichtigen Alter, so dass es – im Gegensatz zu einem sehr kleinen Kind – angehört werden kann, wenn es dies wünscht. Darüber hinaus muss die zuständige nationale Behörde meines Erachtens auch der Person, die allein zur elterlichen Sorge berechtigt ist und das Verbringen dieses Kindes beschlossen hat, Gelegenheit geben, sich zu den Gründen für dieses Verbringen zu äußern.

60.      In Anbetracht dieser Erwägungen bin ich folglich der Auffassung, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem ein Drittstaatsangehöriger, der Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers ist, einen Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts in dem Mitgliedstaat stellt, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt und in den es zu reisen beabsichtigt, um sich dort aufzuhalten, die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta festzustellen hat, ob das Verbringen dieses Kindes unter Berücksichtigung seines Wohls erfolgt. Eine solche Feststellung muss in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls erkennen lassen, wie sich dieses Verbringen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden des Kindes, seine materielle Lage und die affektiven, familiären und sozialen Beziehungen, die es unterhält, auswirken könnte. Diese Feststellung muss auch auf Anhaltspunkten beruhen, mit denen sich belegen lässt, dass das Kind tatsächlich in den betreffenden Mitgliedstaat verbracht werden soll, und dass sein Aufenthalt dort keineswegs vorübergehender oder gelegentlicher Natur sein wird und nicht allein dem Zweck dient, einen auf Art. 20 AEUV gestützten abgeleiteten Aufenthaltstitel zugunsten eines Elternteils zu erlangen.

C.      Dritte Vorlagefrage: Beurteilung des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses, das ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen kann

61.      Mit seiner dritten Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, die verschiedenen Kriterien für die Beurteilung des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses, das ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen kann, für den Fall zu klären, dass das minderjährige Kind, das Unionsbürger ist, sein Recht ausübt, sich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, frei zu bewegen und aufzuhalten.

62.      Erstens möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, welche Bedeutung dem Zeitpunkt beizumessen ist, zu dem der drittstaatsangehörige Elternteil es übernommen hat, sich im Alltag um sein Kind, das Unionsbürger ist, zu kümmern oder nicht, sowie dem Umstand, dass andere Personen diese Aufgabe in der Vergangenheit übernommen haben und/oder in der Lage sind, sie künftig zu übernehmen.

63.      Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht, inwieweit von dem Kind, das Unionsbürger ist, verlangt werden kann, sich im Hoheitsgebiet der Union bei seinem Vater, der ebenfalls Unionsbürger ist, niederzulassen. Zum einen bittet es den Gerichtshof um Klärung, welche Bedeutung dem Umstand beizumessen ist, dass der Vater dieses Kindes das Sorgerecht oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für dieses Kind ausgeübt hat (oder nicht) und bereit wäre (oder nicht), diese Sorge in Zukunft auszuüben. Zum anderen fragt sich das vorlegende Gericht, welche Bedeutung dem Kriterium der von dem Elternteil, der Unionsbürger ist, ausgeübten rechtlichen, finanziellen oder affektiven Sorge für das Kind zukommt, falls sich herausstellen sollte, dass der andere, drittstaatsangehörige Elternteil das alleinige Sorgerecht für das Kind ausübt.

64.      Was als Erstes die Beurteilung betrifft, ob ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Bestimmungen von Art. 20 AEUV zu gewähren ist, hat die zuständige nationale Behörde zu prüfen, ob zwischen dem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, und dem drittstaatsangehörigen Elternteil ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass sich der Gerichtshof auf ganz bestimmte Fälle bezieht, in denen der Unionsbürger keine andere Wahl hat, als dem Drittstaatsangehörigen zu folgen, weil er diesem gegenüber unterhaltsberechtigt ist und somit in Bezug auf die Bestreitung seines Lebensunterhalts und seine eigenen Bedürfnisse völlig von diesem abhängig ist. Diese Fälle betreffen in erster Linie Eltern, die Drittstaatsangehörige sind und tatsächlich das Sorgerecht für ein minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist, wahrnehmen oder tatsächlich die rechtliche, finanzielle oder affektive Verantwortung für das Kind tragen. So hat der Gerichtshof im Rahmen der Rechtssache, in der das Urteil Chavez-Vilchez u. a. ergangen ist, entschieden, dass „der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, einen Gesichtspunkt von Bedeutung [bildet], der aber allein nicht für die Feststellung genügt, dass zwischen dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde“(24). Der Gerichtshof hat nämlich darauf hingewiesen, dass „einer solchen Feststellung … die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zugrunde liegen [muss], so insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre“(25).

65.      Diese Grundsätze gelten meines Erachtens in gleichem Maße für eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens, in der die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft verlangt, dass dem Kind die Ausübung seines Rechts, sich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht verwehrt wird, wenn seinem drittstaatsangehörigen Elternteil ein Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Mitgliedstaat verweigert wird.

66.      Daraus folgt, dass die vom vorlegenden Gericht angeführten Umstände in Bezug auf die Rolle und die Beteiligung des anderen Elternteils, eines Unionsbürgers, einerseits und der Großmutter mütterlicherseits des Kindes, einer Drittstaatsangehörigen, andererseits, zwar starke Indizien für die familiäre Situation dieses Kindes darstellen können, aber nicht für die Feststellung ausreichen, dass zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und dem Kind, das Unionsbürger ist, kein Abhängigkeitsverhältnis dergestalt bestehe, dass dem Kind im Fall einer solchen Verweigerung die Möglichkeit genommen würde, die mit seinem Status als Unionsbürger verbundenen Rechte auszuüben. Eine solche Feststellung muss sich auf die vorstehend wiedergegebenen Kriterien stützen, die der Gerichtshof im Urteil Chavez-Vilchez u. a. aufgestellt hat. In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind während seiner ersten zehn Lebensjahre offenbar von seiner Großmutter mütterlicherseits ausgeübt wurde, sind auch der Grad der affektiven Beziehung des Kindes zu dieser sowie die Gefahr zu berücksichtigen, die eine Trennung des Kindes von seiner Großmutter mütterlicherseits für sein Gleichgewicht mit sich bringen könnte.

67.      Als Zweites ist der Zeitpunkt, zu dem das Abhängigkeitsverhältnis entstanden ist, und insbesondere der Zeitpunkt, zu dem der drittstaatsangehörige Elternteil die tägliche Betreuung seines Kindes, das Unionsbürger ist, übernommen hat, ein entscheidender Faktor. Meiner Ansicht nach besteht nämlich kein Zweifel daran, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis in dem Land bestehen muss, in dem sich das Kind, das Unionsbürger ist, aufhält, und zwar zumindest zu dem Zeitpunkt, zu dem der drittstaatsangehörige Elternteil ein von diesem Kind abgeleitetes Aufenthaltsrecht beantragt.

68.      Im vorliegenden Fall unterscheidet das vorlegende Gericht zwischen der Situation vor der Einreichung des Antrags auf ein Aufenthaltsrecht, der Situation vor dem Bescheid, mit dem dieser Antrag abgelehnt wurde, und schließlich der Situation vor der Entscheidung über die Klage gegen diese ablehnende Entscheidung. Damit bringt dieses Gericht sein Anliegen zum Ausdruck, sicherzustellen, dass das Abhängigkeitsverhältnis des Kindes, das Unionsbürger ist, zu seinem drittstaatsangehörigen Elternteil tatsächlich besteht und nicht zu dem alleinigen Zweck herbeigeführt wurde, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Bestimmungen von Art. 20 AEUV zu erlangen.

69.      Hierzu ist festzustellen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens sowohl der Zeitraum vor der Einreichung des Antrags auf ein Aufenthaltsrecht als auch der Zeitraum vor dem Erlass des ablehnenden Bescheids Zeiträumen entsprechen, in denen das Kind, das Unionsbürger ist, und sein drittstaatsangehöriger Elternteil weder zusammenlebten noch sich gemeinsam in demselben Staat aufhielten, weil dieses Kind in Thailand von seiner Großmutter mütterlicherseits aufgezogen wurde, während seine Mutter in den Niederlanden wohnte. Auch wenn der Gerichtshof in seinem Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a.(26), und im Urteil K.A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien) entschieden hat, dass es nicht erforderlich ist, dass der drittstaatsangehörige Elternteil mit dem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, zusammenlebt, um das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihnen zu bejahen, bleibt dieses Zusammenleben jedoch ein besonders wichtiger Gesichtspunkt, vor allem in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der dieser Elternteil nicht nur mit seinem Kind nicht zusammenlebt, sondern sich darüber hinaus in einem anderen Land auf einem anderen Kontinent aufhält, so dass er während dieser Zeiträume naturgemäß nicht die tägliche und tatsächliche Sorge für sein Kind ausüben konnte.

70.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann das Bestehen einer familiären Bindung zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, nicht ausreichen, um es zu rechtfertigen, dass diesem Elternteil nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuerkannt wird, dessen Staatsangehörigkeit das minderjährige Kind besitzt(27).

71.      Dagegen entspricht die Situation vor der Entscheidung über die Klage gegen den ablehnenden Bescheid einem Zeitraum, in dem im Familienleben des Kindes – insbesondere durch die Rückkehr des drittstaatsangehörigen Elternteils – Veränderungen eingetreten sein können, die berücksichtigt werden müssen. In Anbetracht der Zeitspanne, die mit einem Klageverfahren einhergeht, ist das zuständige nationale Gericht meines Erachtens verpflichtet, zu dem Zeitpunkt, zu dem es über den von dem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf Aufenthalt zu entscheiden beabsichtigt, zu untersuchen, ob sich die tatsächlichen Umstände seit der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung nicht derart verändert haben, dass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und seiner Mutter entstehen konnte. Um in diesem Zusammenhang jede Art von Missbrauch zu vermeiden, halte ich es auch für erforderlich, dass sich das nationale Gericht anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls vergewissert, dass der Drittstaatsangehörige das Sorgerecht oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind tatsächlich im Rahmen eines echten und stabilen Familienlebens ausübt.

72.      In Anbetracht dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem ein Drittstaatsangehöriger, der Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers ist, einen Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts in dem Mitgliedstaat stellt, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt und in den es zu reisen beabsichtigt, um sich dort aufzuhalten, der Zeitpunkt, zu dem der drittstaatsangehörige Elternteil die tägliche Betreuung des Kindes übernommen hat, ein entscheidender Umstand für die Beurteilung des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen diesem Elternteil und dem Kind ist. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörde, auf der Grundlage aller konkreten Umstände des Falles festzustellen, in welchem Umfang dieser Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Antrag entschieden wird, das Sorgerecht oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind ausübt, und sich zu vergewissern, dass diese Sorge im Rahmen eines echten und stabilen Familienlebens ausgeübt wird.

73.      Dagegen lässt die Tatsache, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, und ein weiteres Familienmitglied, das Drittstaatsangehöriger ist, das Sorgerecht oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind in der Vergangenheit ausgeübt haben oder in der Lage wären, dies in Zukunft zu tun, nicht den Schluss zu, dass zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und diesem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis der Art besteht, die dem Kind die Ausübung seines Rechts verwehren würde, sich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn dem drittstaatsangehörigen Elternteil die Anerkennung des Aufenthaltsrechts in dem betreffenden Mitgliedstaat verweigert würde.

IV.    Ergebnis

74.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet dieses Staates versagt wird, wenn dieses Kind sich noch nie im Gebiet der Union aufgehalten hat, seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb dieses Gebiets hat und nicht beabsichtigt, die mit seinem Status als Unionsbürger verbundenen Rechte auszuüben, indem es beantragt, in Begleitung dieses Elternteils, von dem es abhängig ist, in diesen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten.

2.      Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Drittstaatsangehöriger, der Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers ist, einen Antrag auf Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts in dem Mitgliedstaat stellt, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitzt und in den es zu reisen beabsichtigt, um sich dort aufzuhalten, die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta festzustellen hat, ob das Verbringen dieses Kindes unter Berücksichtigung seines Wohls erfolgt. Eine solche Feststellung muss in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls erkennen lassen, wie sich dieses Verbringen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden des Kindes, seine materielle Lage und die affektiven, familiären und sozialen Beziehungen, die es unterhält, auswirken könnte. Diese Feststellung muss auch auf Anhaltspunkten beruhen, mit denen sich belegen lässt, dass das Kind tatsächlich in den betreffenden Mitgliedstaat verbracht werden soll, und dass sein Aufenthalt dort keineswegs vorübergehender oder gelegentlicher Natur sein wird und nicht allein dem Zweck dient, einen auf Art. 20 AEUV gestützten abgeleiteten Aufenthaltstitel zugunsten eines Elternteils zu erlangen.

Bei der Beurteilung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen kann, ist der Zeitpunkt, zu dem der drittstaatsangehörige Elternteil die tägliche Betreuung seines Kindes, das Unionsbürger ist, übernommen hat, ein entscheidender Faktor. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörde, auf der Grundlage aller konkreten Umstände des Falles festzustellen, in welchem Umfang dieser Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Antrag entschieden wird, das Sorgerecht oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind ausübt, und sich zu vergewissern, dass diese Sorge im Rahmen eines echten und stabilen Familienlebens ausgeübt wird.

Dagegen lässt die Tatsache, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, und ein weiteres Familienmitglied, das Drittstaatsangehöriger ist, das Sorgerecht oder die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind in der Vergangenheit ausgeübt haben oder in der Lage wären, dies in Zukunft zu tun, nicht den Schluss zu, dass zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und diesem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis der Art besteht, dass dem Kind die Ausübung seines Rechts verwehrt würde, sich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn dem drittstaatsangehörigen Elternteil die Anerkennung des Aufenthaltsrechts in dem betreffenden Mitgliedstaat verweigert würde.


1      Originalsprache: Französisch.


2      C‑34/09, EU:C:2011:124.


3      C‑256/11, EU:C:2011:734.


4      C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776.


5      C‑133/15, im Folgenden: Urteil Chavez-Vilchez u. a., EU:C:2017:354.


6      C‑82/16, im Folgenden: Urteil K.A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien), EU:C:2018:308.


7      Englisch ist auch in den Niederlanden eine weit verbreitete Sprache.


8      Zur Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ vgl. im Rahmen der Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) Urteile vom 28. Juni 2018, HR (C‑512/17, EU:C:2018:513), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass „unter dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Sinne [dieser Verordnung] der Ort seines tatsächlichen Lebensmittelpunkts zu verstehen ist“ (Rn. 42), und vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, im Folgenden: Urteil Mercredi, EU:C:2010:829), in dem der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass unter dem Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist (Rn. 47).


9      C‑34/09, EU:C:2011:124.


10      C‑256/11, EU:C:2011:734.


11      C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776.


12      Vgl. Urteil Chavez-Vilchez u. a. (Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      C‑230/17, EU:C:2018:497.


14      Rn. 27 dieses Urteils und die dort angeführte Rechtsprechung.


15      Vgl. hierzu Urteil vom 27. Juni 2018, Altiner und Ravn (C‑230/17, EU:C:2018:497), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel, der nicht ‚in der natürlichen Verlängerung‘ zu der Rückkehr des Unionsbürgers gestellt wird, ein relevanter Gesichtspunkt [ist], der zwar für sich genommen nicht entscheidend ist, aber dazu führen kann, dass der Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers im Rahmen einer umfassenden Beurteilung feststellt, dass zwischen dem Antrag und der vorherigen Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit durch den Unionsbürger kein Zusammenhang besteht, und es daher ablehnt, einen solchen Aufenthaltstitel auszustellen“ (Rn. 34).


16      Vgl. zuletzt Urteile vom 11. März 2021, Belgischer Staat (Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen) (C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayon „Pancharevo“ (C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 59 und 63).


17      Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der Rechtssache Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:738, Nr. 93). In diesem Zusammenhang unterscheidet sich diese Beurteilung nämlich meines Erachtens nicht von derjenigen, die die zuständigen nationalen Behörden bei der Entscheidung über die elterliche Verantwortung im Fall des Verbringens des Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen vornehmen müssen.


18      Vgl. Urteil vom 26. März 2019, SM (Unter algerische Kafala gestelltes Kind) (C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Vgl. Urteil Mercredi (Rn. 53 und 54).


20      Vgl. in Fortführung der vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze Urteil vom 27. Oktober 2016, D. (C‑428/15, EU:C:2016:819, Rn. 59).


21      Vgl. entsprechend Urteil vom 2. April 2009, A (C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 44), und Urteil Mercredi (Rn. 44).


22      Ich weise darauf hin, dass der Drittstaatsangehörige, wie in der Lehre betont wird, „letztlich nur insofern berücksichtigt wird, als er es dem [minderjährigen und von seinem Elternteil abhängigen] Bürger ermöglicht, sich im Hoheitsgebiet der Union aufzuhalten“. Vgl. Réveillère, V., „La protection statutaire du citoyen: demeurer sur le territoire de l’Union (dans son État de nationalité)“, Revue trimestrielle de droit européen, 11/2020, Nr. 3, S. 721.


23      Vgl. entsprechend Urteil vom 2. April 2009, A (C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 40), und Urteil Mercredi (Rn. 50).


24      Rn. 71 dieses Urteils. Hervorhebung nur hier.


25      Vgl. auch Urteil K.A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien) (Rn. 72).


26      C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776.


27      Vgl. Urteil K.A. u. a. (Familienzusammenführung in Belgien) (Rn. 75).