Language of document : ECLI:EU:T:2023:871

BESCHLUSS DES GERICHTS (Zehnte Kammer)

15. Dezember 2023(*)

„Nichtigkeitsklage – Art. 42 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2017/1939 – Beschluss der Ständigen Kammer der Europäischen Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben – Verfahrenshandlung der Europäischen Staatsanwaltschaft – Unzuständigkeit“

In der Rechtssache T‑103/23,

Victor-Constantin Stan, wohnhaft in Bukarest (Rumänien), vertreten durch Rechtsanwälte A. Şandru und V. Costa Ramos,

Kläger,

gegen

Europäische Staatsanwaltschaft, vertreten durch L. De Matteis, F.‑R. Radu und E. Farhat als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DAS GERICHT (Zehnte Kammer),

unter Mitwirkung der Präsidentin O. Porchia (Berichterstatterin) sowie der Richter M. Jaeger und P. Nihoul,

Kanzler: V. Di Bucci,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere

–        der am 23. Februar 2023 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Klage,

–        der Einrede der Unzulässigkeit, die von der Europäischen Staatsanwaltschaft mit gesondertem, am 31. Mai 2023 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Schriftsatz erhoben wurde,

–        den am 17. Juli 2023 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Erklärungen des Klägers zur Einrede der Unzulässigkeit,

–        den am 3., 14. und 22. Juni 2023 bei der Kanzlei des Gerichts jeweils eingereichten Anträgen des Rates der Europäischen Union, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments auf Zulassung zur Streithilfe

folgenden

Beschluss

1        Mit seiner auf Art. 263 AEUV gestützten Klage beantragt der Kläger, Herr Victor-Constantin Stan, die Nichtigerklärung des Beschlusses der Ständigen Kammer Nr. 4 der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 9. Dezember 2022, mit dem diese in der ihn betreffenden Rechtssache Anklage erhoben hat (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

2        Am 22. Dezember 2021 nahm die Direcția Națională Anticorupție – Serviciul Teritorial Timişoara (Nationale Antikorruptionsdirektion, Regionale Dienststelle Timişoara, Rumänien) die Strafanzeigen von zwei Personen betreffend eine mögliche Begehung von Straftaten auf.

3        Mit Beschluss vom 20. Januar 2021 beantragte der mit der Rechtssache in Rumänien betraute Delegierte Europäische Staatsanwalt die Erörterung der bei der nationalen Antikorruptionsdirektion, Regionale Dienststelle Timişoara, registrierten Rechtssache.

4        Am 27. Januar 2022 leitete der mit der Rechtssache in Rumänien betraute Delegierte Europäische Staatsanwalt eine Untersuchung ein. Er war der Ansicht, dass ab dem Jahr 2018 mehrere Personen Straftaten begangen hätten, die ihnen ermöglicht hätten, rechtswidrig Mittel aus dem Haushalt der Europäischen Union und aus dem Staatshaushalt Rumäniens zu erlangen.

5        Nach einer Anordnung vom 27. Juni 2022 des mit der Rechtssache in Rumänien betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts wurde der Kläger am 28. Juni 2022 beschuldigt, als Mittäter rumänische Haushaltsmittel rechtswidrig erlangt zu haben, strafbar nach Art. 306 des rumänischen Strafgesetzbuchs. Nach den Ausführungen des mit der Rechtssache in Rumänien betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts soll der Kläger im Zeitraum vom 27. Dezember 2018 bis 31. August 2021 der Agenția pentru Întreprinderi Mici și Mijlocii, Atragere de Investiții și Promovarea Exportului Timișoara (Agentur Timişoara für kleine und mittlere Unternehmen, die Attraktivität von Investitionen und die Förderung von Ausfuhren, Rumänien) falsche, ungenaue und unvollständige Unterlagen zu Projekten von sechs Gesellschaften vorgelegt haben, um Gelder aus dem nationalen rumänischen Haushalt zu erhalten.

6        Am 9. Dezember 2022 erließ die Ständige Kammer Nr. 4 der Europäischen Staatsanwaltschaft den angefochtenen Beschluss, mit dem sie in der Rechtssache u. a. gegen den Kläger Anklage erhob und das Verfahren hinsichtlich des Teils, der sich auf den Kläger nicht betreffende Taten der Korruption und der Fälschung bezog, einstellte.

7        Am 19. Dezember 2022 hielt der mit der Rechtssache in Rumänien betraute Delegierte Europäische Staatsanwalt sein Plädoyer, und der Kläger wurde vom Tribunalul Bucureşti (Regionalgericht Bukarest, Rumänien) wegen der Straftat der rechtswidrigen Erlangung von Haushaltsmitteln verurteilt.

 Anträge der Parteien

8        Der Kläger beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss und die nachfolgenden Handlungen für nichtig zu erklären,

–        gegebenenfalls die Bestimmungen der Geschäftsordnung der Europäischen Staatsanwaltschaft, die der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (ABl. 2017, L 283, S. 1) widersprechen, für unanwendbar zu erklären.

9        Mit ihrer Einrede der Unzulässigkeit beantragt die Europäische Staatsanwaltschaft,

–        die Klage als unzulässig abzuweisen,

–        dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

10      In Beantwortung der Einrede der Unzulässigkeit beantragt der Kläger,

–        die von der Europäischen Staatsanwaltschaft erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen,

–        hilfsweise, die Entscheidung bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorzubehalten.

 Rechtliche Würdigung

11      Gemäß Art. 130 Abs. 1 und 7 seiner Verfahrensordnung kann das Gericht auf Antrag des Beklagten über die Unzulässigkeit der Klage oder über seine Zuständigkeit vorab entscheiden. Da die Europäische Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall eine Entscheidung über die Unzulässigkeit der Klage beantragt hat, beschließt das Gericht, das sich aufgrund der Aktenlage für hinreichend informiert hält, ohne Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden.

12      Die Europäische Staatsanwaltschaft erhebt drei Einreden der Unzulässigkeit. Erstens macht sie geltend, dass das Gericht für die Entscheidung über den gegen den angefochtenen Beschluss gerichteten Nichtigkeitsantrag nicht zuständig sei, da Art. 263 AEUV im vorliegenden Fall auf ihre Verfahrenshandlungen nicht anwendbar sei. Zweitens macht sie geltend, der Kläger sei nicht klagebefugt. Drittens ist sie der Ansicht, dass, da die Klage unzulässig sei, die vom Kläger gemäß Art. 277 AEUV erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit als unzulässig zurückzuweisen sei.

13      Zum ersten Unzulässigkeitsgrund macht die Europäische Staatsanwaltschaft geltend, dass die vorliegende, nach Art. 263 AEUV eingereichte Klage unzulässig sei, da der angefochtene Beschluss nur unter den in Art. 42 der Verordnung 2017/1939 vorgesehenen Voraussetzungen, die hier nicht gegeben seien, gerichtlich überprüft werden könne.

14      Hierzu trägt die Europäische Staatsanwaltschaft vor, dass Art. 263 AEUV nicht auf ihre Verfahrenshandlungen anwendbar sei. Gemäß Art. 86 Abs. 3 AEUV sei Art. 42 der Verordnung 2017/1939 eine lex specialis zu Art. 263 AEUV. Der Rahmen der in diesem Art. 42 vorgesehenen gerichtlichen Überprüfung von Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft ruhe auf mehreren Pfeilern, die zusammen ein System bildeten, das die vollständige Einhaltung der Verfahrensgarantien gewährleiste, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert seien.

15      Den ersten Pfeiler bilde Art. 42 Abs. 1 der Verordnung 2017/1939, wonach die gerichtliche Kontrolle der Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft mit Rechtswirkung gegenüber Dritten im Einklang mit den Anforderungen und Verfahren des nationalen Rechts in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte falle. Nach Ansicht der Europäischen Staatsanwaltschaft ist die Zuweisung der Zuständigkeit an die nationalen Gerichte eine unmittelbare und natürliche Folge des Umstands, dass die von der Europäischen Staatsanwaltschaft untersuchten Rechtssachen vor dem zuständigen nationalen Gericht verhandelt würden. Außerdem seien zum einen nach den geltenden Vorschriften allein die nationalen Gerichte zuständig, gleichzeitig nationales Recht und Unionsrecht anzuwenden. Zum anderen wende die Europäische Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit der Untersuchung und Strafverfolgung sowohl Unionsrecht als auch nationales Recht an. Dadurch, dass mit der gerichtlichen Kontrolle der Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft ein nationales Gericht betraut werde, das sowohl nationales Recht als auch Unionsrecht anwenden könne, werde das Recht der Personen, gegen die die Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft gerichtet seien, auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleistet. Somit erlaube die Verordnung 2017/1939 eine teilweise Abweichung von den unionsrechtlichen Grundsätzen über die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union, die Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, die u. a. im Urteil vom 19. Dezember 2018, Berlusconi und Fininvest (C‑219/17, EU:C:2018:1023), verankert sei, da die Verordnung den nationalen Gerichten ermögliche, die Handlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft zu überprüfen und sie für ungültig zu erklären, wenn sie gegen nationales Recht verstießen.

16      Die Europäische Staatsanwaltschaft fügt hinzu, dass, wenn eine Verfahrenshandlung der Europäischen Staatsanwaltschaft, die von einem nationalen Gericht geprüft werde, als gegen eine Bestimmung des Unionsrechts verstoßend angesehen werde, die nationalen Gerichte nach Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung 2017/1939 verpflichtet seien, hinsichtlich der Gültigkeit dieser Handlung gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung zu ersuchen. Außerdem enthalte Art. 42 Abs. 3 der Verordnung 2017/1939 eine Ausnahme von der in Abs. 1 dieses Artikels verankerten Regel, um die übrigen Fälle zu erfassen, in denen gegen einen Beschluss der Europäischen Staatsanwaltschaft über die Einstellung eines Verfahrens nicht auf die nationale Ebene zurückgegriffen werden könne, und sei nur anwendbar, wenn die gerichtliche Kontrolle auf der Grundlage des Unionsrechts beantragt werde.

17      Ferner führt die Europäische Staatsanwaltschaft aus, dass in dem in Art. 42 Abs. 8 der Verordnung 2017/1939 genannten Fall in Bezug auf Rechtsakte der Europäischen Staatsanwaltschaft, die nicht als Verfahrenshandlungen mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten einzustufen seien, alle Voraussetzungen für die Erhebung einer Klage gemäß Art. 263 AEUV erfüllt sein müssten, damit die Klage zulässig sei.

18      Schließlich betont die Europäische Staatsanwaltschaft die Folgen sowohl für ihre Arbeitsweise als auch für die des Gerichtshofs der Europäischen Union, wenn gegen ihre Verfahrenshandlungen, bei denen es sich nicht um solche handele, die in Art. 42 Abs. 3 der Verordnung 2017/1939 ausnahmsweise vorgesehen seien, Nichtigkeitsklagen zulässig wären. Zum einen würden Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft verzögert, während der Gerichtshof der Europäischen Union für eine große Anzahl von Strafsachen zu einem Berufungsgericht in Strafsachen würde. Zum anderen verstieße es gegen Art. 86 AEUV und die Verordnung 2017/1939, wenn diese Nichtigkeitsklagen für zulässig erklärt würden.

19      Der Kläger trägt vor, seine Klage sei zulässig. Der Ansatz der Europäischen Staatsanwaltschaft verstoße gegen das Unionsrecht. Art. 42 der Verordnung 2017/1939 genüge nicht den Anforderungen des in Art. 47 der Charta vorgesehenen Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren und beeinträchtige die in Art. 19 EUV geregelte Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge der Union zu sichern und die Achtung der Autonomie des Rechtssystems der Union zu gewährleisten.

20      Als Erstes führt der Kläger aus, dass die gerichtliche Kontrolle ein Mechanismus sei, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren garantiere. Der Effektivitätsgrundsatz, der eng mit der Beachtung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, verbunden sei, gebiete, dass die Rechtsunterworfenen zum Schutz ihrer Rechte und Freiheiten nach dem Unionsrecht Zugang zu adäquaten und effektiven Rechtsbehelfen hätten. Dies könne nur verwirklicht werden, indem Art. 42 der Verordnung 2017/1939 dahin ausgelegt werde, dass er natürlichen Personen erlaube, gegen Entscheidungen der Europäischen Staatsanwaltschaft beim Gerichtshof eine Nichtigkeitsklage einzureichen. Desgleichen hätten die nationalen Gerichte weder die Befugnis noch die Fähigkeit, festzustellen, dass eine Entscheidung der Ständigen Kammer der Europäischen Staatsanwaltschaft gegen das Unionsrecht verstoße, so dass die Wahrung des Rechts der Rechtsunterworfenen auf einen wirksamen Rechtsbehelf davon abhänge, ob diese Gerichte gewillt seien, den Mechanismus des Vorabentscheidungsverfahrens in Anspruch zu nehmen. Die Zuständigkeit der nationalen Gerichte sei darauf beschränkt, zu beurteilen, ob die Klagegründe des Klägers in hinreichendem Umfang Zweifel an der Gültigkeit der in Rede stehenden Maßnahme begründeten, um einem Antrag des Klägers, ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen, stattzugeben. Die Rechtsunterworfenen könnten somit das Vorabentscheidungsverfahren nicht frei in Anspruch nehmen. Lehne ein nationales Gericht es ab, einem Antrag des Angeklagten auf Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens stattzugeben, begründe dies ein erhöhtes Risiko, dass das Unionsrecht nicht oder falsch angewandt werde.

21      Darüber hinaus gebe es Unterschiede in dem Umfang, in dem die nationalen Gerichte der verschiedenen Mitgliedstaaten von der Möglichkeit, den Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens anzurufen, tatsächlich Gebrauch machten, was zu einer Diskriminierung zwischen den Staatsangehörigen der verschiedenen Mitgliedstaaten führen könne. Nach Ansicht des Klägers kann man davon ausgehen, dass die Handlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft während der von den Delegierten Europäischen Staatsanwälten in Rumänien durchgeführten strafrechtlichen Ermittlungen keiner echten gerichtlichen Kontrolle unterzogen würden.

22      Art. 42 Abs. 1 der Verordnung 2017/1939 teile die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union ungebührlich auf. Der Gerichtshof habe darauf hingewiesen, dass „die gerichtliche Kontrolle in den Mitgliedstaaten … im Einklang mit dem Unionsrecht erfolgen [müsse und dass seine] Zuständigkeit … nicht durch sekundärrechtliche Regelungen umgangen werden [dürfe]“. Im Übrigen könne es zu einer inkohärenten Auslegung führen und die harmonisierten Grundsätze des Unionrechts könnten beeinträchtigen werden, wenn nur die nationalen Gerichte angerufen würden, um den gerichtlichen Rechtsschutz des Unionsrechts zu erlangen. Nehme man die Handlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft von der Zuständigkeit der Unionsgerichte aus, bewirke dies, dass dem Kläger der Rechtsbehelf entzogen werde, der ihm nach Art. 47 der Charta zustehe.

23      Als Zweites macht der Kläger geltend, dass die Bezugnahme auf die Strafverfolgung vor den nationalen Gerichten in Art. 86 Abs. 2 AEUV eine der Europäischen Staatsanwaltschaft zugutekommende Ausnahme sei, die nur das Stadium des Urteils betreffe, die aber nicht weit ausgelegt werden dürfe und die nicht als so weitreichend angesehen werden könne, dass sie der besonderen Zuständigkeit der Unionsgerichte entgegenstehe. Des Weiteren ergebe sich aus der grammatikalischen und der teleologischen Auslegung von Art. 86 Abs. 3 AEUV, dass diese Vorschrift es weder ausdrücklich ermögliche, Handlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft von der Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union im Bereich der gerichtlichen Kontrolle auszunehmen, noch implizit zulasse, diese Zuständigkeit zu beschränken. Art. 42 der Verordnung 2017/1939 sei in Verbindung und in Kombination mit den anderen Regeln und Grundsätzen der Union im Bereich der Rechtsprechung auszulegen, die dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren Rechnung trügen.

24      Als Drittes trägt der Kläger vor, dass die in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Nichtigkeitsklage hier erfüllt seien. Erstens habe nämlich der angefochtene Beschluss seiner Art nach unmittelbare Wirkung auf die Rechtsstellung des Klägers, zweitens betreffe dieser Beschluss den Kläger unmittelbar und berühre konkret seine Rechtsstellung, drittens habe der Kläger ein berechtigtes Interesse daran, dass dieser Beschluss für nichtig erklärt werde, und viertens sei die Frist von zwei Monaten für die Einreichung der Klage gegen den angefochtenen Beschluss eingehalten.

25      Vorab ist daran zu erinnern, dass das Verfahren, das vom Gesetzgeber vorgesehen wurde, um die Kontrolle der Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft sicherzustellen, ein Verfahren sui generis ist (vgl. entsprechend Beschlüsse vom13. Juni 2022, Mendes de Almeida/Rat, T‑334/21, EU:T:2022:375, Rn. 40, und vom 25. Oktober 2022, WO/Europäische Staatsanwaltschaft, T‑603/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:683, Rn. 36). Gemäß dem 88. Erwägungsgrund der Verordnung 2017/1939 soll dieser Mechanismus für wirksame Rechtsbehelfe im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sorgen.

26      Was die Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft betrifft, so ist ihre gerichtliche Kontrolle in Art. 42 der Verordnung 2017/1939 vorgesehen. Konkret bestimmt Abs. 1 dieses Artikels unter anderem, dass Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft mit Rechtswirkung gegenüber Dritten im Einklang mit den Anforderungen und Verfahren des nationalen Rechts der Kontrolle durch die zuständigen nationalen Gerichte unterliegen. Nach Abs. 2 dieses Artikels entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV über die Gültigkeit einer Verfahrenshandlung der Europäischen Staatsanwaltschaft, sofern einem Gericht eines Mitgliedstaats die Frage der Gültigkeit unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts gestellt wird, über die Auslegung oder die Gültigkeit der Bestimmungen des Unionsrechts, einschließlich der Verordnung 2017/1939, und über die Auslegung der Art. 22 und 25 dieser Verordnung in Bezug auf etwaige Zuständigkeitskonflikte zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den zuständigen nationalen Behörden.

27      Art. 42 der Verordnung 2017/1939 sieht die Zuständigkeit des Unionsrichters nach Art. 263 AEUV ausdrücklich nur für Beschlüsse der Europäischen Staatsanwaltschaft über die Einstellung eines Verfahrens vor, sofern diese unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts angefochten werden, sowie für Entscheidungen der Europäischen Staatsanwaltschaft, die die Rechte der betroffenen Person nach Kapitel VIII der Verordnung 2017/1939 berühren, und für Entscheidungen der Europäischen Staatsanwaltschaft, bei denen es sich nicht um Verfahrenshandlungen handelt, wie etwa Entscheidungen, die das Recht auf Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten betreffen, oder für Entscheidungen gemäß Art. 17 Abs. 3 dieser Verordnung über die Entlassung eines Delegierten Europäischen Staatsanwalts oder sonstige administrative Entscheidungen.

28      Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss, soweit er den Kläger betrifft, eine Verfahrenshandlung der Europäischen Staatsanwaltschaft ist, die nicht unter die in Art. 42 Abs. 3 und Abs. 8 der Verordnung 2017/1939 genannten Beschlüsse bzw. Entscheidungen fällt. Dagegen betrifft der Teil des angefochtenen Beschlusses, der sich auf Taten der Korruption und der Fälschung bezieht und mit dem das Verfahren eingestellt wird, nicht den Kläger.

29      Der Kläger ist aber der Ansicht, dass sich das Gericht auf der Grundlage einer Auslegung von Art. 42 der Verordnung 2017/1939 für zuständig erklären müsse, um den Anforderungen insbesondere des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren nachzukommen und um die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern und die Achtung der Autonomie des Rechtssystems der Union zu gewährleisten, nicht zu beeinträchtigen.

30      Hinsichtlich der Auslegung von Art. 42 der Verordnung 2017/1939 ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung der Rückgriff auf eine weite Auslegung nur möglich ist, wenn sie mit dem Wortlaut der in Rede stehenden Vorschrift vereinbar ist, und dass selbst der Grundsatz, dass die Auslegung im Einklang mit einer verbindlichen höherrangigen Rechtsnorm zu erfolgen hat, nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem dienen darf (vgl. entsprechend Urteile vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom, C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 61, und vom 5. Oktober 2020, Brown/Kommission, T‑18/19, EU:T:2020:465, Rn. 111).

31      Was Art. 42 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2017/1939 betrifft, lässt sich nicht bestreiten, dass der Wortlaut dieser Bestimmungen keinerlei Unklarheit aufweist, da sie den nationalen Gerichten die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten übertragen, wobei die Fälle in Abs. 3 dieses Artikels und bestimmte in Abs. 8 dieses Artikels genannte Entscheidungen der Europäischen Staatsanwaltschaft ausgenommen sind, und dass der Gerichtshof über die Gültigkeit dieser Handlungen im Hinblick auf die Bestimmungen des Unionsrechts sowie über die Auslegung oder die Gültigkeit der Bestimmungen der Verordnung 2017/1939 nur im Wege der Vorabentscheidung befindet.

32      Indem der Kläger beantragt, dass das Gericht den angefochtenen Beschluss für nichtig erklärt und sich folglich aufgrund einer Auslegung von Art. 42 der Verordnung 2017/1939 im Hinblick auf ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf für zuständig erklärt, schlägt der Kläger eine Auslegung contra legem vor, der nicht gefolgt werden kann.

33      In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass, auch wenn man annimmt, dass der Kläger sich nicht darauf beschränkt, eine weite Auslegung von Art. 42 der Verordnung 2017/1939 zu verlangen, um geltend zu machen, dass das Gericht hier zuständig sei, und beabsichtigt, den angefochtenen Beschluss anzufechten, indem er mit einer Einrede der Unzulässigkeit die Gültigkeit dieses Artikels im Hinblick auf Art. 19 EUV in Frage stellt, darauf hinzuweisen ist, dass aufgrund der Unzuständigkeit des Gerichts, über die Klage zu entscheiden, eine solche Anfechtung nicht zulässig ist.

34      Was ganz allgemein die Voraussetzungen für einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz betrifft, ist es nützlich, darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen der in der Verordnung 2017/1939 vorgesehenen gerichtlichen Kontrolle, nach Art. 267 AEUV u. a. für die Entscheidung über Fragen der Auslegung und der Gültigkeit von Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft und von Bestimmungen des Unionsrechts, einschließlich der genannten Verordnung, zuständig ist, wie dies in Art. 42 Abs. 2 der genannten Verordnung bestätigt wird.

35      Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger grundsätzlich vor den zuständigen nationalen Gerichten die in Art. 42 Abs. 1 der Verordnung 2017/1939 genannten Verfahrenshandlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft anfechten und in diesem Zusammenhang die Einrede der Rechtswidrigkeit dieser Vorschrift erheben kann. Sofern er vom nationalen Gericht angerufen wird, wird der Gerichtshof dann über die Gültigkeit des genannten Art. 42 sowie gegebenenfalls über die der Geschäftsordnung im Hinblick auf die Verordnung 2017/1939 und die übrigen Bestimmungen des Unionsrechts, die der Kläger in seiner Klageschrift anführt, entscheiden.

36      Nach alledem ist dem ersten von der Europäischen Staatsanwaltschaft geltend gemachten Unzulässigkeitsgrund und mithin der von dieser erhobenen Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben, und ist folglich die vorliegende Klage, da das Gericht nicht zuständig ist, über sie zu entscheiden, abzuweisen, ohne dass im Übrigen über die Anträge, die die Vorschriften der Geschäftsordnung der Europäischen Staatsanwaltschaft und die Begründetheit des Rechtsstreits betreffen, zu entscheiden wäre.

37      Erhebt der Beklagte nach Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit oder der Unzuständigkeit, so wird gemäß Art. 144 Abs. 3 der Verfahrensordnung über den Antrag auf Zulassung zur Streithilfe erst entschieden, nachdem die Einrede zurückgewiesen wurde oder die Entscheidung darüber dem Endurteil vorbehalten wurde. Außerdem wird die Streithilfe gemäß Art. 142 Abs. 2 dieser Verfahrensordnung u. a. dann gegenstandslos, wenn die Klage für unzulässig erklärt wird. Da im vorliegenden Fall die Klage insgesamt wegen Unzuständigkeit des Gerichts abgewiesen wird, ist über die Streithilfeanträge des Rates der Europäischen Union, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments nicht zu entscheiden.

 Kosten

38      Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, hat er gemäß dem Antrag der Europäischen Staatsanwaltschaft seine eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Staatsanwaltschaft mit Ausnahme der Kosten im Zusammenhang mit den Streithilfeanträgen zu tragen.

39      Wird das Verfahren in der Hauptsache beendet, bevor über den Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entschieden wurde, so tragen gemäß Art. 144 Abs. 10 der Verfahrensordnung der Antragsteller und die Hauptparteien jeweils ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten. Somit tragen der Kläger, die Europäische Staatsanwaltschaft, der Rat, die Kommission und das Parlament jeweils ihre eigenen mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Zehnte Kammer)

beschlossen:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Über die Anträge des Rates der Europäischen Union, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments auf Zulassung zur Streithilfe ist nicht zu entscheiden.

3.      Herr Victor-Constantin Stan trägt seine eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Staatsanwaltschaft mit Ausnahme der im Zusammenhang mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.

4.      Herr Stan, die Europäische Staatsanwaltschaft, der Rat, die Kommission und das Parlament tragen jeweils ihre eigenen im Zusammenhang mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.

Luxemburg, den 15. Dezember 2023

Der Kanzler

 

Die Präsidentin

V. Di Bucci

 

O. Porchia


*      Verfahrenssprache: Rumänisch.