Language of document : ECLI:EU:T:2016:485

Rechtssache T-219/13

Pietro Ferracci

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Kommunale Immobiliensteuer –Befreiung für nichtgewerbliche Einrichtungen, die besondere Tätigkeiten ausüben – Einheitstext über die Einkommensteuern – Befreiung von der einheitlichen Kommunalsteuer – Beschluss, mit dem teilweise das Nichtvorliegen einer staatlichen Beihilfe festgestellt und teilweise die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Nichtigkeitsklage – Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht – Unmittelbare Betroffenheit – Zulässigkeit – Absolute Unmöglichkeit der Rückforderung – Art. 14 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Begründungspflicht“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 15. September 2016

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Unmittelbare Betroffenheit – Entscheidung der Kommission, mit der ein Verfahren betreffend Beihilfen eingestellt wird – Mit dem durch die Beihilfe begünstigten Unternehmen konkurrierendes Unternehmen – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Voraussetzungen

(Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV und 263 Abs. 4 AEUV)

2.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Begriff des Rechtsakts mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV – Jeder Rechtsakt mit allgemeiner Geltung mit Ausnahme der Gesetzgebungsakte – Beschluss der Kommission, mit dem eine staatliche Beihilfe in Form einer Steuerbefreiung, die in einer nationalen Regelung mit allgemeiner Geltung vorgesehen ist, für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Rechtswirkungen gegenüber einer allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppe – Einbeziehung

(Art. 107 AEUV und 263 Abs. 4 AEUV)

3.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen oder nicht – Begriff – Gegen diese Rechtsakte zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe – Voraussetzungen für die Erhebung einer Einrede der Rechtswidrigkeit oder für die Veranlassung eines Vorabentscheidungsersuchens zur Prüfung der Gültigkeit

(Art. 263 Abs. 4 AEUV und 267 AEUV)

4.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsakte mit Verordnungscharakter – Rechtsakte, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen und den Kläger unmittelbar betreffen – Begriff der Durchführungsmaßnahmen – Kriterien – Beschluss der Kommission, mit dem eine staatliche Beihilfe in Form einer Steuerbefreiung, die in einer nationalen Regelung mit allgemeiner Geltung vorgesehen ist, für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Beschluss, der nicht dazu führt, dass der Adressat Durchführungsmaßnahmen erlässt – Rechtsakt, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht

(Art. 107 Abs. 1 AEUV und 263 Abs. 4 AEUV)

5.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Völlige Unmöglichkeit der Durchführung – Möglichkeit, diese Unmöglichkeit im Stadium des dem Erlass des Beschlusses vorausgehenden Verwaltungsverfahrens festzustellen – Verpflichtung der Kommission und des Mitgliedstaats, bei der Suche nach einer Lösung, bei der der Vertrag beachtet wird, zusammenzuarbeiten

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 107 Abs. 1 AEUV und 108 Abs. 2 AEUV; Verordnung Nr. 659/1999, 13. Erwägungsgrund und Art. 14 Abs. 1)

6.      Staatliche Beihilfen – Nichteinhaltung der Pflicht zur Rückforderung der rechtswidrigen Beihilfen – Völlige Unmöglichkeit der Durchführung – Beurteilungskriterien

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 108 Abs. 2 AEUV)

7.      Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – In Form einer Steuerbefreiung gewährte Beihilfe – Völlige Unmöglichkeit der Durchführung – Gründe – Unmöglichkeit für den Staat, die Informationen zu erhalten, die zur Bestimmung der Begünstigten der Beihilfe erforderlich sind

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

8.      Staatliche Beihilfen – Beschluss der Kommission, mit dem die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Möglichkeit für die Kommission, ihre Entscheidung auf die verfügbaren Informationen zu stützen – Grenzen – Pflicht der Kommission, ihre Beschlüsse auf einigermaßen tragfähige und schlüssige Anhaltspunkte zu stützen

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

9.      Staatliche Beihilfen – Bestimmungen des Vertrags – Geltungsbereich – Einrichtungen, die wirtschaftliche Tätigkeiten auf nichtgewerblicher Basis ausüben – Ausschluss

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

10.    Wettbewerb – Regeln der Union – Unternehmen – Begriff – Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit

(Art. 107 Abs. 1 AEUV)

11.    Staatliche Beihilfen – Beschluss der Kommission, mit dem die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt festgestellt wird, ohne ihre Rückforderung anzuordnen, und mit dem das Nichtvorliegen einer Beihilfe festgestellt wird – Begründungspflicht – Umfang – Kein Verstoß

(Art. 296 AEUV)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 40, 44, 46-48)

2.      Rechtsakte mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV sind Handlungen mit allgemeiner Geltung, mit Ausnahme der Gesetzgebungsakte. In diesem Zusammenhang besitzt ein Beschluss der Kommission über eine nationale Steuerregelung, die für objektiv bestimmte Situationen gilt und Rechtswirkungen gegenüber einer allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppe erzeugt, allgemeine Geltung.

In Anbetracht der Natur der Zuständigkeit, die die Kommission gemäß den Vorschriften des Vertrags über staatliche Beihilfen besitzt, spiegelt ein solcher Beschluss, auch wenn er nur einen einzigen Adressaten hat, die Tragweite der nationalen Rechtsinstrumente wider, die Gegenstand der Prüfung durch dieses Organ sind, sei es, um die nötige Genehmigung für das Ergreifen der Beihilfemaßnahme zu erteilen, oder sei es, um die Folgen festzulegen, die sich aus ihrer möglichen Rechtswidrigkeit oder Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt ergeben. Die fraglichen Rechtsinstrumente besitzen dann allgemeine Geltung, wenn die Marktteilnehmer, auf die sie anwendbar sind, allgemein und abstrakt definiert sind.

Angesichts dieser Erwägungen besitzt der Beschluss der Kommission, mit dem in Bezug auf eine Steuerbefreiungsregelung zum einen hinsichtlich eines Teils der Regelung die Unvereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt und zum anderen hinsichtlich eines anderen Teils derselben Regelung das Nichtvorliegen einer Beihilfe festgestellt wird, allgemeine Geltung zum einen hinsichtlich der Tatsache, dass die Kommission nicht die Rückforderung der von ihr als rechtswidrig und unvereinbar befundenen staatlichen Beihilfen im Zusammenhang mit der fraglichen Steuerbefreiung verfügt hat, und zum anderen hinsichtlich ihrer Annahme, dass ein Teil dieser Regelung keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 AEUV darstellt. Folglich stellt ein solcher Beschluss, der ein Rechtsakt mit allgemeiner Geltung ist, ohne ein Gesetzgebungsakt zu sein, einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinn von Art. 263 Abs. 4 AEUV dar.

(vgl. Rn. 50, 52-55)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 56-59)

4.      Die im Rahmen der Untersuchung der Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage vorgenommene Prüfung, ob der angegriffene Rechtsakt Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV, muss sich ausschließlich am Klagegegenstand orientieren.

In dem Fall, dass die Kommission in einem Beschluss im Bereich staatlicher Beihilfen angesichts der Besonderheiten dieses Falles die Ansicht vertritt, dass es dem betreffenden Mitgliedstaat absolut unmöglich wäre, die im Rahmen einer Steuerbefreiungsregelung gewährten rechtswidrigen Beihilfen zurückzufordern, und daher entscheidet, davon abzusehen, dem Mitgliedstaat die Rückforderung der im Rahmen dieser Regelung bewilligten Beträge von jedem Begünstigten aufzutragen, sind die nationalen Behörden nicht verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere in Bezug auf den Kläger, um den angefochtenen Beschluss umzusetzen.

Der angefochtene Beschluss zieht keine Durchführungsmaßnahmen in Bezug auf den Kläger nach sich, und folglich ist die Klage nach Art. 263 Abs. 4 letzter Satzteil AEUV für zulässig zu erklären.

(vgl. Rn. 60, 61, 64, 70)

5.      Die absolute Unmöglichkeit der Rückforderung rechtswidriger Beihilfen bezieht sich zwar im Allgemeinen auf Fälle, bei denen der fragliche Mitgliedstaat eine solche Unmöglichkeit nach dem Erlass eines Rückforderungsbeschlusses und im Zusammenhang mit dessen Durchführung geltend macht, doch geht weder aus der anwendbaren Regelung noch aus der Rechtsprechung hervor, dass während der Phase der Durchführung eines Beschlusses der Kommission im Bereich staatlicher Beihilfen, vor allem zur Verteidigung im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eine absolute Unmöglichkeit nicht im Stadium des Verwaltungsverfahrens festgestellt werden kann, das zu dem Beschluss der Kommission führt.

Zudem besteht die einzige Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats und der Kommission darin, im Fall einer eventuellen absoluten Unmöglichkeit der Rückforderung der staatlichen Beihilfe eine loyale Zusammenarbeit zu ermöglichen, in deren Rahmen der Mitgliedstaat der Kommission seine Gründe für diese Unmöglichkeit zur Beurteilung unterbreiten und die Kommission eine detaillierte Prüfung dieser Gründe durchführen muss. Daher kann die Zusammenarbeit zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission vor Erlass des endgültigen Beschlusses der Kommission erfolgen, wenn die absolute Unmöglichkeit bereits im Stadium des förmlichen Prüfverfahrens festgestellt werden kann. Zudem gibt es keinen Grund, warum die Kommission die absolute Unmöglichkeit nicht anerkennen sollte, bevor sie die Rückforderung dieser Beihilfen anordnet, wenn sie bei dieser Prüfung feststellt, dass es keine anderen Methoden für die Rückforderung der rechtswidrigen Beihilfe gibt oder dass eine teilweise Rückforderung auch nicht durchführbar ist. Im Bereich der staatlichen Beihilfen kann die Kommission nämlich keine Verpflichtungen auferlegen, deren Erfüllung von Anfang an objektiv und absolut unmöglich wäre.

(vgl. Rn. 80, 84-86, 90)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 94-96)

7.      Die Kommission begeht keinen Beurteilungsfehler, wenn sie in einem Beschluss im Bereich staatlicher Beihilfen annimmt, dass die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe durch die betreffenden nationalen Behörden in absoluter und objektiver Hinsicht unmöglich sei, da die Bestimmung der wirtschaftlichen oder nichtwirtschaftlichen Natur der Tätigkeiten, die die begünstigten Einrichtungen in den der Steuerbefreiung unterliegenden Immobilien ausübten, und von der es abhänge, ob die Befreiung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe darstelle, nicht feststellbar sei, weil es zum einen die Katasterdatenbanken und zum anderen die Steuerdatenbanken weder erlaubten, die Art der in den Immobilien dieser Einrichtungen ausgeübten Tätigkeiten zu registrieren, noch den Betrag der zurückzufordernden Steuer objektiv zu berechnen.

Da die Katastersysteme die Immobilien nämlich auf der Grundlage ihrer objektiven Eigenschaften, insbesondere ihrer physikalischen Elemente und ihrer Struktur, registrieren, ist es nicht möglich, die Art von wirtschaftlichen oder nichtwirtschaftlichen Tätigkeiten aufzuspüren, für die die Immobilien von den nichtgewerblichen Einrichtungen genutzt werden, um feststellen zu können, ob diese Einrichtungen rechtswidrig von der Steuerbefreiung profitiert haben und, falls ja, den Betrag zu berechnen, der den betreffenden Behörden zurückzuerstatten ist.

Gleiches gilt, wenn es auch mit Hilfe der Steuerdatenbanken weder möglich ist, rückwirkend die Tätigkeiten aufzuspüren, die von den Begünstigen der Steuerbefreiung in ihren Immobilien ausgeübt werden, noch den Betrag der rechtswidrig erlangten Befreiungen zu errechnen.

(vgl. Rn. 98, 101, 106)

8.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 109)

9.      Im Rahmen der Prüfung, ob eine staatliche Beihilfe und ein Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegen, beschränkt eine nationale Regelung über eine Befreiung von einer kommunalen Immobiliensteuer, die Tätigkeiten, die aufgrund ihrer Natur im Wettbewerb mit denen anderer Marktteilnehmer stehen, die gewinnorientiert sind, ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Befreiung ausschließt, die Befreiung daher auf Einrichtungen, die wirtschaftliche Tätigkeiten auf nichtgewerblicher Basis ausüben, und damit auf Einrichtungen, die nicht als Unternehmen im Sinn des Unionsrechts angesehen werden können.

Im Übrigen ist es Sache der nationalen Behörden, die Umsetzung dieser Regelung im Einzelfall und insbesondere das Vorhandensein eines Konkurrenzverhältnisses zwischen einem konkreten Begünstigten der Befreiung und dem Rest der Marktteilnehmer des betreffenden Bereichs festzustellen, wobei die Betroffenen die Rechtsschutzmöglichkeiten des nationalen Rechts ausschöpfen können, wenn die Regelungen in der Form, wie sie von der Kommission genehmigt sind, nicht richtig angewandt werden.

Unter diesen Umständen fällt die Regelung nicht in den Anwendungsbereich des Art. 107 AEUV.

(vgl. Rn. 132, 140, 145, 149)

10.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 134-136)

11.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 153-157)