Language of document : ECLI:EU:C:2013:50

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 31. Januar 2012(1)

Rechtssache C‑418/11

TEXDATA Software GmbH

(Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Innsbruck [Österreich])

„Gesellschaftsrecht – Niederlassungsfreiheit – Art. 49 AEUV und Art. 54 AEUV – Richtlinie 2009/101/EG, Vierte Richtlinie 78/660/EWG, Elfte Richtlinie 89/666/EWG – Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen von Kapitalgesellschaften und ihren Zweigniederlassungen – Sanktionen im Fall der Nichtoffenlegung – Verhältnismäßigkeit der Sanktion – Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte – Grundsatz ne bis in idem“





1.        Steht das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegen, die vorsieht, dass nach Ablauf der Fristen für die Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen von Gesellschaften – ohne Aufforderung und ohne Möglichkeit zur vorherigen Stellungnahme – sofort eine Geldstrafe sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegen ihre Organe verhängt wird, und die im Fall der weiteren Säumnis die sofortige Verhängung weiterer Strafen vorsieht? Das ist im Wesentlichen die Frage, die das Oberlandesgericht Innsbruck (Österreich) mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen stellt.

2.        Das vorlegende Gericht bittet den Gerichtshof insbesondere um Prüfung der Vereinbarkeit einer solchen jüngst in Österreich eingeführten Regelung zum einen mit der Niederlassungsfreiheit nach den Art. 49 AEUV und 54 AEUV und den Vorgaben für Sanktionen für die fehlende Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen nach den gesellschaftsrechtlichen Richtlinien der Union und zum anderen mit den Grundsätzen des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der Wahrung der Verteidigungsrechte und ne bis in idem, die in verschiedenen Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankert sind.

3.        Trotz des relativ geringen Streitwerts im Ausgangsverfahren wird der Gerichtshof im vorliegenden Verfahren ersucht, zu Fragen des Unionsrechts Stellung zu nehmen, die alles andere als unerheblich sind.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Art. 6 der Ersten Gesellschaftsrechtsrichtlinie 68/151/EWG(2), der nach Aufhebung dieser Richtlinie zu Art. 7 der Richtlinie 2009/101/EG(3) wurde, bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten drohen geeignete Maßregeln zumindest für den Fall an,

a)      dass die in Artikel 2 Buchstabe f vorgeschriebene Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen unterbleibt; …“

5.        Nach Art. 60a der Vierten Gesellschaftsrechtsrichtlinie 78/660/EWG(4) legen „[d]ie Mitgliedstaaten … Sanktionen für Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften fest und treffen alle zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein“.

6.        Die Elfte Gesellschaftsrechtsrichtlinie 89/666/EWG(5) sieht in Art. 1 Abs. 1 vor:

„Die Urkunden und Angaben über eine Zweigniederlassung, die in einem Mitgliedstaat von einer Gesellschaft errichtet worden ist, welche dem Recht eines anderen Mitgliedstaates unterliegt und auf welche die Richtlinie 68/151/EWG Anwendung findet, sind nach dem Recht des Mitgliedstaats der Zweigniederlassung im Einklang mit Artikel 3 der genannten Richtlinie offenzulegen.“

7.        Nach Art. 12 dieser Richtlinie drohen „die Mitgliedstaaten … geeignete Maßregeln für den Fall an, dass die in … [Artikel] 1 … vorgeschriebene Offenlegung unterbleibt …“.

B –    Österreichisches Recht

8.        Nach § 277 Abs. 1 des Unternehmensgesetzbuchs (im Folgenden: UGB) haben die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften den Jahresabschluss und den Lagebericht sowie einige andere gesellschaftsrechtliche Unterlagen nach ihrer Behandlung in der Hauptversammlung (Generalversammlung), jedoch spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag, beim Firmenbuchgericht des Sitzes der Kapitalgesellschaft einzureichen.

9.        § 280a UGB („Offenlegung der Zweigniederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften“) bestimmt, dass bei Zweigniederlassungen von ausländischen Kapitalgesellschaften die Vertreter der Zweigniederlassung die Unterlagen der Rechnungslegung, die nach dem für die Hauptniederlassung der Gesellschaft maßgeblichen Recht erstellt, geprüft und offengelegt worden sind, gemäß § 277 UGB in deutscher Sprache offenzulegen haben(6).

10.      § 283 UGB („Zwangsstrafen“) regelt die Folgen der Nichteinhaltung dieser Offenlegungspflichten. Er wurde 2011 einer Reform unterzogen (im Folgenden: Reform von 2011)(7).

11.      Gemäß § 283 Abs. 1 UGB in geänderter Fassung sind die Vorstandsmitglieder (Geschäftsführer) oder die Abwickler zur Befolgung des § 277 UGB und im Fall einer inländischen Zweigniederlassung einer ausländischen Kapitalgesellschaft die für diese im Inland vertretungsbefugten Personen zur Befolgung des § 280a UGB vom Gericht durch Zwangsstrafen von 700 Euro bis zu 3 600 Euro anzuhalten. Die Zwangsstrafe ist nach Ablauf der Offenlegungsfrist zu verhängen, und sie ist wiederholt zu verhängen, soweit die genannten Organe ihren Pflichten nach je weiteren zwei Monaten noch nicht nachgekommen sind.

12.      § 283 Abs. 2 und 3 UGB regelt das Verfahren zur Verhängung der Zwangsstrafe, das in zwei Phasen abläuft. In einer ersten, in Abs. 2 vorgesehenen Phase, ist ohne vorausgehendes Verfahren durch Strafverfügung eine Zwangsstrafe von 700 Euro zu verhängen, falls die Organe der Gesellschaft ihren Offenlegungspflichten nicht bis zum letzten Tag der Offenlegungsfrist nachgekommen sind. Dieses Fehlen eines der Verhängung dieser ersten Sanktion vorausgehenden Verfahrens ist eine Neuerung der Reform von 2011, mit der die Praxis der österreichischen Gerichte, die sich unter der vorherigen Regelung etabliert hatte, vor der Verhängung einer Sanktion Aufforderungen an die säumigen Unternehmen zu versenden, geändert werden sollte(8).

13.      Nach § 283 Abs. 2 UGB kann von der Verhängung einer Zwangsstrafverfügung nur abgesehen werden, wenn das verpflichtete Organ offenkundig durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis an der fristgerechten Offenlegung gehindert war. In diesem Fall kann mit der Verhängung der Zwangsstrafverfügung bis zum Ablauf von vier Wochen zugewartet werden. Gegen die Zwangsstrafverfügung kann das jeweilige Organ binnen 14 Tagen Einspruch erheben, in dem die Gründe für die Nichtbefolgung der genannten Pflichten anzuführen sind. Andernfalls erwächst die Zwangsstrafverfügung in Rechtskraft. Ist der Einspruch verspätet oder fehlt ihm jegliche Begründung, so ist er mit Beschluss zurückzuweisen. Jedoch kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt werden.

14.      § 283 Abs. 3 UGB regelt die mögliche zweite Phase des Verfahrens zur Verhängung der Zwangsstrafe. Danach tritt mit der rechtzeitigen Erhebung eines begründeten Einspruchs die in Abs. 2 genannte Zwangsstrafverfügung außer Kraft, und ein ordentliches Verfahren wird eingeleitet. Dieses Verfahren kann mit der Einstellung des Zwangsstrafverfahrens oder mit der Verhängung einer Zwangsstrafe von 700 Euro bis 3 600 Euro enden. Gegen die Verhängung einer Zwangsstrafe im ordentlichen Verfahren steht dem jeweiligen Gesellschaftsorgan ein Rechtsmittel zu.

15.      Ist die Offenlegung innerhalb von zwei Monaten nach Ablauf des letzten Tages der in § 277 UGB festgelegten und in Nr. 8 der vorliegenden Schlussanträge genannten Offenlegungsfrist noch immer nicht erfolgt, so ist nach § 283 Abs. 4 durch Strafverfügung eine weitere Zwangsstrafe von 700 Euro zu verhängen; das Gleiche gilt bei Unterbleiben der Offenlegung für jeweils weitere zwei Monate. § 283 Abs. 5 UGB sieht vor, dass sich bei Kapitalgesellschaften, die nach den Kriterien des UGB mittelgroß oder groß sind, die in Abs. 3 angedrohten Zwangsstrafen sowie die Zwangsstrafen für jedes weitere Unterbleiben der Offenlegung jeweils auf das Dreifache bzw. auf das Sechsfache erhöhen.

16.      Nach § 283 Abs. 7 UGB treffen die den gesetzlichen Vertretern in den §§ 277 und 280a auferlegten Pflichten auch die Gesellschaft. Kommt die Gesellschaft durch ihre Organe diesen Pflichten nicht nach, so ist gleichzeitig auch gegen sie eine Zwangsstrafe zu verhängen.

II – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17.      Die Texdata Software GmbH (im Folgenden: Texdata) ist eine in der Konzeptionierung und im Vertrieb von Software tätige Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die ihren Sitz in Karlsruhe (Deutschland) hat. Sie übt ihre Tätigkeit in Österreich über eine Zweigniederlassung aus, die seit 4. März 2008 im österreichischen Firmenbuch als ausländische Firma eingetragen ist.

18.      Mit Strafverfügung vom 5. Mai 2011 verhängte das Landesgericht Innsbruck nach § 283 Abs. 2 UGB in der im Jahr 2011 geänderten Fassung gegen Texdata zwei Zwangsstrafen in Höhe von je 700 Euro, weil sie die Jahresabschlüsse zum 31. Dezember 2008 und zum 31. Dezember 2009 nicht bis zum Stichtag, laut dem vorlegenden Gericht der 28. Februar 2011, vorgelegt hatte.

19.      Am 23. Mai 2011 gingen beim Landesgericht zwei fristgerechte Einsprüche von Texdata ein, mit denen geltend gemacht wurde, dass die Verhängung von Zwangsstrafen ohne vorangehende Warnung oder Androhung unzulässig sei und dass ohnehin nur die dem Amtsgericht Karlsruhe bereits offengelegten Jahresabschlüsse mitgeteilt werden könnten, die dort im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs eingesehen werden könnten.

20.      Am selben Tag reichte Texdata auch die beiden genannten Jahresabschlüsse beim Landesgericht ein.

21.      Mit zwei Beschlüssen vom 25. Mai 2011 sprach das Landesgericht aus, dass die beiden Zwangsstrafverfügungen durch die rechtzeitigen Einsprüche außer Kraft gesetzt worden seien, und verhängte im ordentlichen Verfahren gemäß § 283 Abs. 3 und 7 UGB wiederum zwei Geldstrafen in Höhe von je 700 Euro gegen die Gesellschaft, weil diese die Jahresabschlüsse nicht fristgerecht eingereicht habe.

22.      Das mit dem Rekurs von Texdata gegen diese beiden Beschlüsse befasste vorlegende Gericht hat die Frage aufgeworfen, ob die in Rede stehende nationale Regelung in der im Jahr 2011 geänderten Fassung mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Steht das Unionsrecht in seinem gegenwärtigen Stand, insbesondere

1.      die Niederlassungsfreiheit der Art. 49 AEUV und 54 AEUV;

2.      der allgemeine Rechtsgrundsatz (Art. 6 Abs. 3 EUV) des effektiven Rechtsschutzes (Grundsatz der Effektivität);

3.      der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta (Art. 6 Abs. 1 EUV) und Art. 6 Abs. 2 EMRK (Art. 6 Abs. 1 EUV);

4.      das Doppelbestrafungsverbot des Art. 50 der Grundrechtecharta; oder

5.      die Vorgaben für die Sanktionen im Offenlegungsverfahren nach Art. 6 der Richtlinie 68/151/EWG, Art. 60a der Richtlinie 78/660/EWG und Art. 38 Abs. 6 der Richtlinie 83/349/EWG(9);

einer nationalen Regelung entgegen, die bei Überschreitung der gesetzlichen, neunmonatigen Frist zur Aufstellung und Offenlegung des Jahresabschlusses gegenüber dem zuständigen Firmenbuch(= Register‑)gericht

–        ohne vorherige Stellungnahmemöglichkeit zum Bestehen der Offenlegungspflicht und zu allfälligen Hinderungsgründen, insbesondere ohne vorherige Prüfung, ob dieser Jahresabschluss überhaupt schon dem Registergericht der Hauptniederlassung vorgelegt wurde, und

–        ohne vorherige individuelle Aufforderung an die Gesellschaft oder an die vertretungsbefugten Organe, der Offenlegungspflicht zu genügen,

vom Firmenbuchgericht sofort die Verhängung einer Mindestgeldstrafe von 700 Euro über die Gesellschaft und über jedes der vertretungsbefugten Organe mangels gegenteiligen Nachweises unter der Fiktion, die Gesellschaft und ihre Organe hätten schuldhaft die Offenlegung unterlassen, verlangt und bei weiterer Säumnis um jeweils zwei Monate sofort die weitere Verhängung jeweils weiterer Mindestgeldstrafen von 700 Euro über die Gesellschaft und über jedes der vertretungsbefugten Organe, wieder mangels gegenteiligen Nachweises unter der Fiktion, die Gesellschaft und ihre Organe hätten schuldhaft die Offenlegung unterlassen, erfordert?

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Der Vorlagebeschluss ist am 10. August 2011 bei der Kanzlei eingegangen. Texdata, die österreichische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

24.      In der Sitzung vom 27. November 2012 haben Texdata, die österreichische Regierung und die Kommission mündliche Ausführungen gemacht.

IV – Rechtliche Würdigung

A –    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

25.      Zunächst ist das Vorbringen zu prüfen, mit dem die Unzulässigkeit der Vorlagefrage gerügt wird.

26.      Die österreichische Regierung macht unter Verweis auf eine Reihe von im Vorlagebeschluss enthaltenen Fehlern bei der Darstellung der nationalen Regelung geltend, das vorlegende Gericht habe diese Regelung nicht so dargelegt, dass der Gerichtshof eine zweckdienliche und nicht rein hypothetische Antwort geben könne.

27.      Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV nicht der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften dient und daher etwaige Ungenauigkeiten der Beschreibung des einschlägigen nationalen Rechts im Vorlagebeschluss dem Gerichtshof nicht die Zuständigkeit für die Beantwortung der Vorlagefrage nehmen(10). Im vorliegenden Fall bin ich auf der Grundlage der Informationen im Vorlagebeschluss der Ansicht, dass der Gerichtshof über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die notwendig sind, um auf die gestellten Fragen zweckdienlich antworten zu können.

28.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs führt, ohne förmlich eine Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, aus, dass nicht klar sei, aus welchem Grund das neue Verfahren gemäß § 283 UGB nach der Reform von 2011 rückwirkend auf die Verpflichtung zur Offenlegung der Jahresabschlüsse für die Geschäftsjahre 2008 und 2009 angewandt worden sei.

29.      Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, über die Auslegung oder Anwendbarkeit nationaler Vorschriften zu befinden oder den Sachverhalt festzustellen, der für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich ist. Der Gerichtshof hat im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Gerichten der Union und denen der Mitgliedstaaten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage einfügt, nämlich von den Feststellungen des vorlegenden Gerichts auszugehen(11). Zum anderen hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass die Bestimmung der zeitlich anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften eine Frage der Auslegung des nationalen Rechts ist, die nicht in die Zuständigkeit des im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufenen Gerichtshofs fällt(12).

30.      Meines Erachtens ist die Vorlagefrage daher zulässig.

B –    Zur Vorlagefrage

1.      Niederlassungsfreiheit und Gesellschaftsrechtsrichtlinien

a)      Allgemeine Bemerkungen

31.      Mit dem ersten und dem fünften Teil seiner Vorlagefrage, die meiner Ansicht nach gemeinsam zu prüfen sind, will das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob die Niederlassungsfreiheit nach den Art. 49 AEUV und 54 AEUV sowie Art. 6 der ersten Richtlinie 68/151, Art. 60a der Vierten Richtlinie 78/660 und Art. 38 Abs. 6 der Siebenten Richtlinie 83/349 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Sanktionsregelung für die Nichterfüllung der Pflicht zur Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen von Kapitalgesellschaften entgegenstehen, wie sie im UGB in der im Jahr 2011 geänderten Fassung vorgesehen und in den Nrn. 10 bis 16 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben ist.

32.      Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Zweck der Veröffentlichung des Jahresabschlusses nicht ebenso wirksam durch eine weniger einschneidende Vorgangsweise als die mit der Reform von 2011 eingeführte erreicht werden könnte, wie z. B. durch die vor dieser Reform geltende(13). Das neue System erlege nämlich ausländischen Gesellschaften überflüssigerweise zusätzliche Kosten und Erschwernisse auf, da sie verpflichtet seien, sich eines Rechtsanwalts zu bedienen, um ihre Rechte aus der Niederlassungsfreiheit zu wahren, obwohl zur Klärung der Frage, ob diese Gesellschaften die relevanten Rechnungslegungsunterlagen, d. h. die beim Gericht der Hauptniederlassung veröffentlichten Bilanzen, bereits offengelegt hätten, Erhebungen bei diesem ausländischen Gericht oder bei der ausländischen Hauptniederlassung geführt werden könnten.

33.      Zunächst ist hervorzuheben, dass die Pflicht zur Offenlegung des Jahresabschlusses sowie die betreffende nationale Sanktionsregelung, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, auf Texdata anzuwenden sind, da diese als deutsche Kapitalgesellschaft ihre Tätigkeit in Österreich über eine dort eingetragene Zweigniederlassung als ausländische Zweigniederlassung einer Kapitalgesellschaft ausübt. In diesem Zusammenhang ist meines Erachtens, wie von der Regierung des Vereinigten Königreichs ausgeführt, für die Prüfung des vorliegenden Falls nicht die vom vorlegenden Gericht genannte Siebente Richtlinie 83/349 über den konsolidierten Abschluss maßgeblich, die für Unternehmensgruppen gilt, die aus Muttergesellschaften und über eigene Rechtspersönlichkeit verfügende Tochtergesellschaften bestehen(14), sondern vielmehr die Elfte Richtlinie 89/666 über die Offenlegung der Zweigniederlassungen von Kapitalgesellschaften. Außerdem wurde, wie bereits in Nr. 4 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, die Erste Richtlinie 68/151, auf die sich das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage bezieht, mittlerweile aufgehoben und durch die Richtlinie 2009/101 ersetzt.

34.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass ein einzelstaatliches Gericht die Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran hindert, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen(15).

35.      In Anbetracht des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und der anwendbaren österreichischen Regelung wird der Gerichtshof daher neben den Art. 49 AEUV und 54 AEUV die Richtlinie 2009/101, die Vierte Richtlinie 78/660 und die Elfte Richtlinie 89/666 auszulegen haben.

b)      Zu den Richtlinien 2009/101, 78/660 und 89/666

36.      Diese Richtlinien gehören zu den vom Unionsgesetzgeber erlassenen ergänzenden Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Niederlassungsfreiheit. Sie dienen sämtlich der Umsetzung von Art. 50 Abs. 2 Buchst. g AEUV(16) und des vom Rat am 18. Dezember 1961 beschlossenen Allgemeinen Programms zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit(17), die die Koordinierung der Schutzbestimmungen vorsehen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind. Diese Schutzbestimmungen beinhalten die Verpflichtung zur Veröffentlichung einiger relevanter Informationen, die die Gesellschaften selbst betreffen. Unter diesem Blickwinkel sehen die angeführten Richtlinien daher Bestimmungen zur Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Offenlegung der relevanten Informationen über die Gesellschaften vor(18).

37.      Aus verschiedenen Erwägungsgründen dieser Richtlinien ergibt sich jedoch, dass Hauptzweck der Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Offenlegung speziell der Schutz der Interessen Dritter ist. Mit der Begründung von Offenlegungspflichten der Gesellschaften soll Dritten, die mit einer Gesellschaft in geschäftlichen Kontakt treten oder dies beabsichtigen, ermöglicht werden, sich über die wesentlichen Urkunden der Gesellschaft und einige sie betreffende Angaben, insbesondere die Personalien derjenigen, die die Gesellschaft verpflichten können, zu unterrichten(19).

38.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof speziell zur Offenlegung des Jahresabschlusses von Kapitalgesellschaften bereits festgestellt, dass diese eine überragende Rolle für den Schutz der Interessen Dritter spielt(20) und hauptsächlich der Unterrichtung von Personen dient, die die buchhalterische und finanzielle Situation der Gesellschaft nicht hinreichend kennen oder kennen können(21). Konkret soll ihnen damit ermöglicht werden, zu beurteilen, ob die Aufnahme oder Beibehaltung irgendeiner Rechtsbeziehung zu der Gesellschaft zweckmäßig ist(22).

39.      Da die Anwendung einer Rechtsvorschrift unmittelbar mit dem Bestehen eines Zwangssystems zur Gewährleistung ihrer Befolgung verbunden ist, hat sich der Unionsgesetzgeber nicht darauf beschränkt, den Mitgliedstaaten vorzuschreiben, die notwendigen Maßnahmen zu erlassen, damit die Gesellschaften Offenlegungspflichten, insbesondere im Hinblick auf die Rechnungslegungsunterlagen, unterliegen, sondern hat ihnen auferlegt, „geeignete Maßregeln“ für den Fall der Nichterfüllung dieser Pflichten vorzuschreiben(23).

40.      Daher ist festzustellen, dass das Vorsehen von Pflichten zur Offenlegung von Rechnungslegungsunterlagen sowie der anderen in § 277 Abs. 1 und § 280a UGB genannten Unterlagen für Gesellschaften und Zweigniederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften und das Vorsehen von Sanktionen für das Unterlassen der Offenlegung dieser Unterlagen durch eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche mit diesen Richtlinien im Einklang steht.

41.      Es stellt sich jedoch die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit dieses Sanktionssystems.

42.      Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass, um zu klären, wie weit das Erfordernis der Angemessenheit der Sanktionen für die Verletzung der Offenlegungspflicht reicht, auf seine ständige Rechtsprechung zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zurückgegriffen werden kann, der nunmehr in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist und aus dem sich ein entsprechendes Erfordernis ergibt. Nach dieser Rechtsprechung müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktion verbleibt, namentlich darauf achten, dass Verstöße gegen das Unionsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleiche Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss(24).

43.      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinien, obwohl sie den Erlass geeigneter Maßregeln durch die Mitgliedstaaten vorsehen, keine genauen Bestimmungen über die Festlegung von solchen innerstaatlichen Sanktionen enthalten und vor allem kein ausdrückliches Kriterium zur Beurteilung ihrer Verhältnismäßigkeit festlegen.

44.      Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung des Unionsrechts auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, befugt, diejenigen Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind allerdings verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten(25).

45.      Daher dürfen im vorliegenden Fall die Sanktionen nach der innerstaatlichen Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen(26).

46.      Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nationalen Maßnahmen mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sind, da der Gerichtshof nur die unionsrechtlichen Auslegungshinweise geben kann, die es diesem Gericht ermöglichen, die Frage dieser Vereinbarkeit zu beurteilen(27). Es wird daher Sache dieses Gerichts sein, das allein für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, festzustellen, ob das von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Sanktionssystem den Erfordernissen der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung genügt und insbesondere ob es formal ausländische Gesellschaften im Fall einer Verletzung der Offenlegungspflichten nicht gegenüber österreichischen Gesellschaften benachteiligt(28). Bei der Beurteilung dieser Vereinbarkeit wird das vorlegende Gericht jedoch die vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise zu berücksichtigen haben.

47.      Hierbei ist allerdings erstens das oben genannte grundlegende Ziel des Schutzes Dritter, die mit der Gesellschaft in geschäftlichen Kontakt treten, zu berücksichtigen, das nicht nur dem Unionsrecht eigen ist, sondern auch von den nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Offenlegung verfolgt werden muss. Insoweit weise ich zunächst darauf hin, dass nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage, mit der die Reform von 2011 eingeführt wurde, im Rahmen des früheren Systems in Österreich nicht einmal die Hälfte aller offenlegungspflichtigen Unternehmen dieser Verpflichtung fristgerecht nachkam(29). Dieser Hinweis allein dürfte hinreichend belegen, dass das frühere System(30), auf das sich das vorlegende Gericht bezieht, um einige seiner Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der neuen Sanktionsregelung zu untermauern, nicht gewährleisten konnte, dass die Gesellschaften ihre Pflichten zur Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen erfüllten, und daher nicht den Erfordernissen der Wirksamkeit und der Abschreckung sowie dem genannten grundlegenden Ziel des Schutzes Dritter, das den Richtlinien immanent ist, gerecht wurde. Im Übrigen wurden nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage und den ausdrücklichen Angaben der österreichischen Regierung in der mündlichen Verhandlung die Reform und insbesondere die Bestimmung, mit der die automatische Verhängung einer Mindestgeldstrafe von 700 Euro eingeführt wurde, gerade mit dem Ziel erlassen, eine wirksamere und schnellere Durchsetzung der Offenlegungspflichten bei den diesen Pflichten unterliegenden Unternehmen zu gewährleisten, wobei dieses Ziel, wie die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung ebenfalls erläutert hat, erreicht wurde, da sich der Prozentsatz der Fälle, in denen die Unternehmen ihre Offenlegungspflichten fristgerecht erfüllt haben, nach Einführung der Reform von 2011 erheblich erhöht hat.

48.      Zweitens ergibt sich aus den Erklärungen der Kommission, dass ein Zwangsgeld von mindestens 700 Euro für eine Säumnis bei der Erfüllung der Offenlegungspflichten von Kapitalgesellschaften etwa im Mittelfeld der für solche Pflichtverletzungen in Europa vorgesehenen Zwangsgelder liegt und dass in einigen Mitgliedstaaten Zwangsgelder von mindestens 1 500 Euro zu verhängen sind. Die Festsetzung einer Mindeststrafe in dieser Höhe scheint mir nicht die Grenzen dessen zu überschreiten, was zur Erreichung des in den Nrn. 37 f. der vorliegenden Schlussanträge genannten grundlegenden Ziels der fraglichen Regelung geeignet und erforderlich ist.

49.      Darüber hinaus steht, unbeschadet der Überlegungen, die ich im Folgenden zum Grundsatz ne bis in idem anstellen werde, auch die wiederholte Verhängung des Zwangsgelds alle zwei Monate im Fall der fortdauernden Säumnis nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen. Es handelt sich nämlich um eine Maßnahme, die Unternehmen, für die die Verhängung der Geldstrafe keine ausreichende Abschreckung darstellt, dazu bewegen soll, ihrer Offenlegungspflicht rasch nachzukommen.

50.      Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die in Rede stehende Regelung eine Offenlegungsfrist von neun Monaten nach dem Bilanzstichtag vorsieht. Dabei dürfte es sich, von Ausnahmefällen abgesehen, um einen Zeitraum handeln, der bei Weitem ausreicht, damit die Gesellschaft der Pflicht zur Aufstellung und Offenlegung des Jahresabschlusses nachkommen kann. Im Übrigen wäre, wenn die Frist für die Offenlegung des Jahresabschlusses des vorigen Geschäftsjahrs noch länger wäre, das eigentliche Ziel der Offenlegungspflichten, d. h. der Schutz der Dritten, gefährdet, da diese Zugang zu Informationen über die Situation der Gesellschaft hätten, die möglicherweise nicht ausreichend aktuell wären, um ihnen die Richtigkeit dieser Angaben und die Übereinstimmung mit der wirklichen Lage der Gesellschaft zu garantieren.

51.      Viertens ist auch anzumerken, dass die Gesellschaft und ihre Organe jedenfalls die Möglichkeit haben, die Zwangsstrafverfügung unter Berufung auf die Rechtfertigungsgründe für die Nichterfüllung ihrer Offenlegungspflicht anzufechten.

52.      Fünftens ist im Hinblick auf die Anforderungen nach der in Nr. 42 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung darauf hinzuweisen, dass die nationalen Rechtsvorschriften genau die gleiche Sanktionsregelung, sowohl in der Sache als auch verfahrensrechtlich, für österreichische Gesellschaften und Zweigniederlassungen ausländischer Gesellschaften vorsieht.

53.      Nach alledem komme ich zu dem Ergebnis, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren anwendbare nicht die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung der Ziele, die mit der Regelung über die Offenlegungspflicht der Gesellschaften zulässigerweise verfolgt werden, geeignet und erforderlich ist.

c)      Zu den Art. 49 AEUV und 54 AEUV

54.      Was sodann die Frage betrifft, ob eine solche Regelung den Art. 49 AEUV und 54 AEUV entspricht, ist zu prüfen, ob sie eine Maßnahme darstellt, die eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats errichtete Gesellschaft in der Ausübung ihrer Niederlassungsfreiheit durch die Gründung einer Zweigniederlassung in Österreich beeinträchtigt(31).

55.      Dazu folgt zunächst aus den vorstehenden Erwägungen, dass Sanktionen, wie sie nach der im Ausgangsverfahren anwendbaren Regelung bei Nichterfüllung der Offenlegungspflicht verhängt werden, angemessen sind und dem Unionsrecht entsprechen. Es ist somit festzustellen, dass die Verhängung solcher Sanktionen ausschließlich auf einen allfälligen Verstoß der Gesellschaft gegen diese vom Unionsrecht vorgesehenen gesetzlichen Offenlegungspflichten zurückzuführen ist. Daher kann, wie die Kommission zu Recht ausführt, nur ein nicht gesetzeskonformes Verhalten der Gesellschaft und ihrer Organe die von der fraglichen nationalen Regelung vorgesehenen Rechtsfolgen auslösen.

56.      Außerdem habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die die Verhängung von Sanktionen bei Nichterfüllung der Offenlegungspflichten betreffende Regelung ohne Unterschied sowohl auf österreichische Gesellschaften als auch auf Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten, die in Österreich eine Zweigniederlassung gründen, anzuwenden ist. Im Übrigen sind Letztere nach § 280a UGB und der Elften Richtlinie 89/666 nur verpflichtet, „die Unterlagen der Rechnungslegung, die nach dem für die Hauptniederlassung der Gesellschaft maßgeblichen Recht erstellt, geprüft und offengelegt worden sind“, offenzulegen(32).

57.      Eben diese Erwägungen können der Antwort auf die in Nr. 32 der vorliegenden Schlussanträge dargestellten Zweifel des vorlegenden Gerichts, wonach das neue Sanktionssystem ausländischen Gesellschaften überflüssige Erschwernisse durch Rechtskosten auferlege, die sie tragen müssten, um die Ausübung ihrer Rechte aus der Niederlassungsfreiheit zu wahren, zugrunde gelegt werden. Diese Erschwernisse sind nämlich alles andere als zwingend, sondern hängen ausschließlich von der Säumnis bei der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung durch die betreffende Gesellschaft ab. Darüber hinaus betreffen sie nicht nur ausländische, sondern auch österreichische Gesellschaften.

58.      Hingegen weise ich hinsichtlich der vom vorlegenden Gericht genannten Möglichkeit, Erhebungen beim örtlichen Registergericht der Hauptniederlassung zu führen, darauf hin, dass es für eine Zweigniederlassung nach der Elften Richtlinie 89/666 zur Erfüllung ihrer Offenlegungspflicht nicht ausreicht, dass die Hauptniederlassung dieser Verpflichtung in dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde, genügt hat. Außerdem kann das nationale Gericht nicht verpflichtet sein, solche potenziell, zumindest in zeitlicher Hinsicht, äußerst aufwändigen Recherchen bei den Gerichten anderer Mitgliedstaaten durchzuführen, wenn zum Schutz Dritter, die mit der Zweigniederlassung in Kontakt treten, eine gesetzliche Verpflichtung besteht, in dem Mitgliedstaat, in dem sie tätig ist, die Unterlagen der Gesellschaft offenzulegen. Ebenso ist die Tatsache, dass solche Rechnungslegungsunterlagen im Internet in der Sprache des Mitgliedstaats des Hauptniederlassungssitzes, die eine andere sein kann als die des Tätigkeitsstaats der Zweigniederlassung, verfügbar sind, nicht geeignet, die Nichterfüllung der Offenlegungspflicht in dem Mitgliedstaat zu rechtfertigen, in dem die Zweigniederlassung errichtet wurde.

59.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass eine Regelung, nach der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens bei Nichterfüllung der Pflicht zur Offenlegung des Jahresabschlusses und anderer relevanter Unterlagen der Gesellschaft im Einklang mit dem anwendbaren Sekundärrecht der Union angemessene Sanktionen verhängt werden, Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten weder tatsächlich noch rechtlich gegenüber Gesellschaften des Niederlassungsmitgliedstaats benachteiligt(33) und keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt, da sie die Ausübung dieser Freiheit weder verbietet, noch behindert oder weniger attraktiv macht.

2.      Zu den Grundsätzen des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der Wahrung der Verteidigungsrechte und ne bis in idem

a)      Vorbemerkungen

60.      Mit dem zweiten, dritten und vierten Teil seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der Wahrung der Verteidigungsrechte und ne bis in idem nach der Charta und der EMRK dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung mit einem System für Sanktionen bei Nichterfüllung der Pflichten zur Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen von Kapitalgesellschaften entgegenstehen, wie sie im UGB in der im Jahr 2011 geänderten Fassung vorgesehen und in den Nrn. 10 bis 16 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben ist.

61.      Die drei vom vorlegenden Gericht genannten Grundsätze sind vom Gerichtshof als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts anerkannt. Sie sind (außer in der EMRK) nunmehr in verschiedenen Bestimmungen der Charta verankert und haben den Rang von Unionsgrundrechten erlangt.

62.      Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist nach ständiger Rechtsprechung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt(34). Er ist in den Art. 6 und 13 EMRK verankert und wurde in Art. 47 der Charta bekräftigt.

63.      Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ist vom Gerichtshof wiederholt als ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts in allen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, definiert worden(35). Er ist in Art. 6 Abs. 3 EMRK verankert und wurde in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a und Art. 48 Abs. 2 der Charta kodifiziert.

64.      Auch das Verbot der Doppelbestrafung bzw. ‑verfolgung (Grundsatz ne bis in idem) ist vom Gerichtshof als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt worden(36). Es ist ausdrücklich in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und in Art. 50 der Charta vorgesehen.

65.      Der Hinweis des vorlegenden Gerichts auf diese Grundsätze und auf die betreffenden Bestimmungen der Charta wirft zwei Vorfragen auf, die in der mündlichen Verhandlung ausführlich erörtert wurden, nämlich erstens die von der österreichischen Regierung sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Frage nach der Anwendbarkeit der Bestimmungen der Charta auf einen Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens und zweitens die vom vorlegenden Gericht ausdrücklich erörterte Frage, ob die Sanktionsregelung nach den fraglichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften Strafcharakter hat. Eine Einstufung dieser Regelung als strafrechtlich würde sich nämlich auf die Anwendung der genannten Grundsätze auswirken.

b)      Zur Anwendbarkeit der Charta

66.      Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.

67.      Die österreichische Regierung weist darauf hin, dass die genannten Richtlinien die Mitgliedstaaten zwar verpflichteten, geeignete Maßregeln gegen Verletzungen der Offenlegungspflicht vorzusehen, dass jedoch weder das Sanktions- noch das Rechtsbehelfsverfahren unionsrechtlich näher geregelt seien. Da das Verfahrensrecht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle, sei die Charta auf einen Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens grundsätzlich nicht anwendbar.

68.      Hierzu ist festzustellen, dass die Auslegung des Begriffs der „Durchführung des Rechts der Union“ durch die Mitgliedstaaten und folglich der Anwendungsbereich der Charta Fragen sind, die jüngst Gegenstand einer ausführlichen Diskussion sowohl in der Lehre als auch insbesondere unter den Generalanwälten waren(37).

69.      Ohne auf die möglichen mehr oder weniger einschränkenden Auslegungen von Art. 51 Abs. 1 der Charta und damit auf ihre möglichen verschiedenen Anwendungsbereiche näher einzugehen, weise ich jedoch darauf hin, dass in der vorliegenden Rechtssache nicht nur die Offenlegungspflichten, für die die den Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens bildende Sanktionsregelung vorgesehen ist, unmittelbar auf dem Unionsrecht beruhen, sondern dass auch die Sanktionen selbst von den innerstaatlichen Rechtsvorschriften in unmittelbarer Durchführung des Unionsrechts festgelegt werden, insbesondere der Ersten Richtlinie, der Vierten Richtlinie und der Elften Richtlinie 89/666, die die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsehen, geeignete Maßregeln anzudrohen, um die Einhaltung dieser Offenlegungspflichten zu gewährleisten(38). Die nationale Regelung umfasst somit spezifische Bestimmungen, die das Verfahren zur Durchführung – einschließlich der Rechtsbehelfsmodalitäten – von Sanktionen regeln, die vom Unionsrecht ausdrücklich vorgesehen sind.

70.      Vor diesem Hintergrund ändert der von der österreichischen Regierung angeführte Umstand, dass es das Unionsrecht der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats überlassen habe, das Verfahren für die Verhängung solcher Sanktionen zu regeln, meines Erachtens nichts daran, dass der betreffende Mitgliedstaat mit dem Erlass nationaler Rechtsvorschriften, wie sie im Ausgangsverfahren angewandt werden, Unionsrecht durchgeführt hat. Wenn nämlich, wie im vorliegenden Fall, die Mitgliedstaaten spezifische Bestimmungen zur Umsetzung einer ausdrücklich vom Unionsrecht vorgesehenen Sanktionsregelung in das nationale Recht erlassen und daher die innerstaatlichen Bestimmungen unmittelbar auf dem Unionsrecht beruhen, impliziert die den Mitgliedstaaten zuerkannte Verfahrensautonomie in keiner Weise, dass diese Bestimmungen nicht Unionsrecht durchführen(39).

71.      Nach alledem bin ich daher der Auffassung, dass die Bestimmungen der Charta im vorliegenden Fall anzuwenden sind.

c)      Zum Strafcharakter der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Sanktionsregelung

72.      Laut dem vorlegenden Gericht sind die österreichische Rechtsprechung und Lehre überwiegend der Ansicht, dass die in § 283 UGB vorgesehene Sanktionsregelung Zwangs- und Repressionscharakter zugleich habe und daher Elemente mit Strafcharakter aufweise(40). Gegen diese Auffassung wenden sich jedoch die Kommission und die Regierung des Vereinigten Königreichs.

73.      Die Kriterien, die bei der Beurteilung des Strafcharakters eines Sanktionssystems zu berücksichtigen sind, ergeben sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zur Auslegung der Begriffe „strafrechtliche Anklage“, „Strafe“ und „strafrechtliches Verfahren“ nach den Art. 6 und 7 EMRK und nach Art. 4 Abs. 1 des dazugehörigen Protokolls Nr. 7(41). Diese Rechtsprechung wurde nunmehr ausdrücklich vom Gerichtshof übernommen(42).

74.      Nach diesem Ansatz sind drei Kriterien relevant, die nach dem Urteil, in dem sie erstmals aufgestellt wurden, „Engel-Kriterien“ genannt werden(43). Das erste Kriterium ist die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, die der EGMR jedoch ausdrücklich als bloßen „Ausgangspunkt der Betrachtung“ ansieht(44). Das zweite Kriterium ist die Art der Zuwiderhandlung, während das dritte Kriterium die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion ist(45). Das zweite und das dritte Kriterium, die von größerer Bedeutung als das erste sind, sind alternativ und nicht notwendigerweise kumulativ anzuwenden, was jedoch einen kumulativen Ansatz nicht ausschließt, wenn eine getrennte Analyse der einzelnen Kriterien keinen klaren Schluss zulässt(46).

75.      Was im vorliegenden Fall das erste Kriterium betrifft, d. h. die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im österreichischen Recht, scheint diese nicht ausdrücklich als Straftat eingestuft zu werden. Dieser Umstand ist jedoch wie gesagt nicht entscheidend(47).

76.      Hinsichtlich des zweiten Kriteriums, d. h. der Art der Zuwiderhandlung, prüft der EGMR eine Reihe von Umständen, darunter den Adressatenkreis einer Regelung, das geschützte Rechtsgut und die Zielsetzung der Sanktion. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die in § 283 UGB vorgesehenen Sanktionen für die Nichterfüllung der Offenlegungspflicht nicht an die Allgemeinheit gerichtet sind, sondern vielmehr die Einhaltung dieser Verpflichtungen durch die Kapitalgesellschaften und ihre Vertreter sicherstellen sollen(48). Diese Verpflichtungen und die jeweiligen Sanktionen für ihre Nichterfüllung zielen, wie in den Nrn. 37 f. der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, auf den Schutz von Dritten, die mit Gesellschaften in Geschäftsbeziehung stehen. Das geschützte Rechtsgut, d. h. das Recht Dritter, sich Kenntnis von der Lage der Gesellschaft zu verschaffen, kann sowohl durch das Verwaltungsrecht als auch durch das Strafrecht geschützt werden(49). Was das mit den Sanktionen verfolgte Ziel betrifft, lässt sich meines Erachtens nicht bestreiten, dass die Sanktionen weniger auf Ausgleich abzielen, da sie nicht die Wiederherstellung des Zustands vor dem Verstoß bezwecken(50). Sie dürften im Wesentlichen einen präventiven Zweck verfolgen, da sie erlassen werden, um die Befolgung der Offenlegungspflichten zu gewährleisten und wiederholte Verstöße gegen diese Pflichten zu verhindern(51). Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass der österreichische Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, auch nach der Reform von 2011, einen repressiven Charakter des fraglichen Zwangsstrafverfahrens verneint(52). Außerdem bestehen die fraglichen Sanktionen im vorliegenden Fall anders als in der Rechtssache Bonda, in der der Gerichtshof die „Engel-Kriterien“ angewandt hat, nicht in der Kürzung von Beihilfen, die auf Antrag des Betroffenen gewährt worden waren(53), sondern wirken sich unmittelbar auf das Vermögen der Person aus, gegen die die Sanktion verhängt wurde.

77.      Das dritte „Engel-Kriterium“ betrifft den Schweregrad der von der fraglichen Bestimmung angedrohten Sanktion. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist zur Bestimmung dieses Schweregrads die nach den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehene Höchststrafe zu berücksichtigen(54). Insoweit besteht die mit der ersten Verfügung automatisch verhängte Sanktion nach § 283 Abs. 2 UGB, die den spezifischen Gegenstand der Vorlagefrage bildet, in der Auferlegung der Zahlung eines Fixbetrags von 700 Euro. Der Schweregrad dieser Sanktion ist somit eher niedrig(55). Das trifft jedoch nicht unbedingt auch auf die weiteren Sanktionen zu, die nach § 283 Abs. 4 UGB verhängt werden(56). Jedenfalls scheinen mir die fraglichen Sanktionen keine besondere stigmatisierende Wirkung zu haben(57).

78.      Nach alledem bin ich im Ergebnis der Ansicht, dass das fragliche Sanktionssystem, selbst wenn es als strafrechtlich im Sinne der EMRK anzusehen sein sollte, zweifellos nicht zum „harten Kern des Strafrechts“ gehört, so dass, wie vom EGMR selbst festgestellt, die „strafrechtlichen Garantien [des Art. 6 EMRK] … nicht unbedingt in aller Strenge Anwendung [finden]“(58).

d)      Zu den Grundsätzen des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und der Wahrung der Verteidigungsrechte

i)      Allgemeine Bemerkungen

79.      Das vorlegende Gericht fragt sich zunächst, ob die Bestimmungen des UGB in der durch die Reform von 2011 geänderten Fassung, die das Verfahren zur Verhängung von Sanktionen bei Nichterfüllung der Pflichten zur Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen von Kapitalgesellschaften betreffen, diesen Gesellschaften die Ausübung der Rechte aus der Niederlassungsfreiheit übermäßig erschweren und daher gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verstoßen. Das vorlegende Gericht führt eine Reihe – in den Nrn. 87 ff. der vorliegenden Schlussanträge im Einzelnen zu prüfenden – „struktureller Defizite“ an, die eine Unvereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Effektivitätsgrundsatz bewirken könnten. In Bezug auf diese vermuteten „strukturellen Defizite“ wirft das vorlegende Gericht auch die Frage auf, ob die in Rede stehende nationale Regelung mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte vereinbar ist. Das vorlegende Gericht will daher vom Gerichtshof wissen, ob es verpflichtet ist, die mit der Reform von 2011 eingeführte neue Regelung unangewandt zu lassen.

80.      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der allgemeine Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der in den in Nr. 62 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Bestimmungen verankert ist, darin besteht, sicherzustellen, dass der Einzelne die ihm aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte geltend machen kann(59).

81.      Aus ständiger Rechtsprechung ergibt sich zum einen, dass die nationalen Gerichte aufgrund des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV den Schutz dieser Rechte zu gewährleisten haben(60), und zum anderen, dass es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten allerdings für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind(61). Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nun die Verpflichtung der Mitgliedstaaten verankert ist, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.

82.      Nach ständiger Rechtsprechung dürfen ferner die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)(62).

83.      Das vorlegende Gericht führt nichts an, woraus sich ergäbe, dass der Grundsatz der Äquivalenz möglicherweise verkannt würde. Seine Zweifel betreffen ausschließlich die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Grundsatz der Effektivität.

84.      Zur Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens(63).

85.      Was den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte betrifft, der in den in Nr. 63 der vorliegenden Schlussanträge genannten Bestimmungen verankert ist, so lässt sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen, dass es sich bei diesen Rechten um Grundrechte handelt, die zum einen erfordern, dass dem Betroffenen die ihn belastenden Tatsachen mitgeteilt werden, auf die die ihn beschwerende Maßnahme gestützt wird, und zum anderen, dass er zu diesen Tatsachen sachgerecht Stellung nehmen können muss. Die Wahrung der Verteidigungsrechte ist in allen Verfahren sicherzustellen, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen können(64).

86.      Die vom vorlegenden Gericht angeführten „strukturellen Defizite“, die das fragliche Sanktionssytem aufweisen soll, sind daher im Licht der in den vorigen Absätzen genannten Grundsätze zu analysieren.

ii)    Zu den nach Auffassung des vorlegenden Gerichts bestehenden „strukturellen Defiziten“

87.      Das erste vom vorlegenden Gericht aufgezeigte „strukturelle Defizit“ betrifft komplizierte und nicht sanierbare Formalerfordernisse und Zuständigkeitsnormen, die die fragliche Regelung unvereinbar mit dem Effektivitätsgrundsatz machen könnten. Das vorlegende Gericht bezieht sich insbesondere auf § 283 Abs. 2 UGB, nach dem verspätete Einsprüche und Einsprüche, denen jegliche Begründung fehlt, zurückzuweisen seien, in Verbindung mit dem für das Rechtsmittelverfahren geltenden Neuerungsverbot.

88.      Zur Zurückweisung verspäteter Einsprüche weise ich darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen grundsätzlich mit dem Erfordernis der Effektivität vereinbar ist, weil eine solche Festsetzung ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist. Solche Fristen sind nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Unter diesem Vorbehalt ist es den Mitgliedstaaten unbenommen, mehr oder weniger lange Fristen vorzusehen. Der Gerichtshof hat insbesondere zu Ausschlussfristen auch entschieden, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, für nationale Regelungen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, Fristen festzulegen, die insbesondere der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die Betroffenen, der Komplexität der Verfahren und der anzuwendenden Rechtsvorschriften, der Zahl der potenziell Betroffenen und den anderen zu berücksichtigenden öffentlichen oder privaten Belangen entsprechen(65).

89.      Die fragliche Regelung sieht eine Ausschlussfrist von 14 Tagen vor, um eine Sanktion von 700 Euro wegen Nichterfüllung der unionsrechtlichen Verpflichtung zur Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen der Gesellschaft anzufechten. Die Gesellschaft und ihre Vertreter haben jedoch für die Offenlegung dieser Unterlagen neun Monate ab dem Bilanzstichtag Zeit. Vor diesem Hintergrund ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass die Festsetzung dieser Ausschlussfrist, so kurz sie auch ist, unangemessen wäre und geeignet wäre, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren(66). Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass die fragliche Bestimmung ausdrücklich die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorsieht(67).

90.      Entsprechendes gilt für die sofortige Zurückweisung von Einsprüchen, denen jegliche Begründung fehlt und die nach den Erklärungen der österreichischen Regierung unter der Regelung, die vor der Reform von 2011 galt, relativ häufig vorkamen. Eine Pflicht zur (kurzen) Begründung des Einspruchs, die es dem Richter ermöglicht, die Gründe zur Stützung des damit verbundenen Antrags zu erfassen, kann nämlich nicht als Erfordernis angesehen werden, das dem Effektivitätsgrundsatz widerspricht. Außerdem ist das Neuerungsverbot im Rechtsmittelverfahren, das laut dem vorlegenden Gericht die Gesellschaft, gegen die eine Zwangsstrafe verhängt und deren Einspruch zurückgewiesen wurde, weil er verspätet oder ohne jegliche Begründung war, daran hindert, später eine Begründung nachzutragen, ein Verbot, das in mehreren Mitgliedstaaten besteht und das meiner Ansicht nach ebenso wenig die Wirksamkeit des Einspruchs unterlaufen kann. Darüber hinaus ist dieses Verbot im Fall einer entschuldbaren Fehlleistung nicht anwendbar; dieser weite Begriff kann von den Gerichten im Licht des Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes ausgelegt werden(68).

91.      Das zweite und das dritte „strukturelle Defizit“, die nach Auffassung des vorlegenden Gerichts bestehen, betreffen das Fehlen einer mündlichen Verhandlung und die fehlende Möglichkeit, vor Verhängung der Sanktion eine Stellungnahme einzureichen, was einen Verstoß gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens begründen könnte.

92.      In dieser Hinsicht ist zunächst darauf hinzuweisen, dass, wie vom vorlegenden Gericht selbst ausgeführt, nach ständiger Rechtsprechung des EGMR die Verpflichtung zur Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nicht absolut ist, obwohl eine mündliche und öffentliche Verhandlung ein in Art. 6 EMRK verankertes Grundprinzip darstellt, dem in Verfahren mit strafrechtlichem Charakter besondere Bedeutung zukommt(69). Außerdem ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Grundrechte keine absoluten Rechte sind und Beschränkungen unterliegen können, sofern diese tatsächlich Zielen des Allgemeininteresses entsprechen, die mit den in Rede stehenden Maßnahmen verfolgt werden, und nicht im Hinblick auf den verfolgten Zweck eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung der auf diese Weise gewährleisteten Rechte darstellen(70).

93.      Bezüglich der fraglichen Regelung geht aus § 283 UGB hervor, dass mit der Erhebung des begründeten Einspruchs gegen die Verfügung, mit der die ursprüngliche Zwangsstrafe von 700 Euro verhängt wird, die Zwangsstrafverfügung sofort außer Kraft tritt und ein ordentliches Verfahren eröffnet wird, in dem eine Verhandlung stattfinden kann und die Gesellschaft, gegen die die Zwangsstrafe verhängt wurde, unter Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens ihren Standpunkt umfassend geltend machen kann.

94.      Auch wenn nach den Erwägungen in den Nrn. 74 ff. der vorliegenden Schlussanträge der Strafcharakter des fraglichen Sanktionssystems zu bejahen wäre, bedeutet die Tatsache, dass dieses nicht zum „harten Kern“ des Strafrechts gehört, in diesem Zusammenhang, dass die strafrechtlichen Garantien nicht unbedingt in aller Strenge Anwendung finden. Unter diesem Blickwinkel bin ich daher der Ansicht, dass eine Regelung mit den Grundsätzen des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und der Wahrung der Verteidigungsrechte vereinbar sein kann, die unter Umständen wie denen des vorliegenden Falls in erster Instanz eine Strafe von geringer wirtschaftlicher Bedeutung vorsieht, die keine stigmatisierende Wirkung hat, auch wenn dies im Rahmen eines Sanktionssystems geschieht, das Strafcharakter hat, und in einem Verfahren, das mangels mündlicher Verhandlung und kontradiktorischen Verfahrens an sich nicht die Erfordernisse nach Art. 6 EMRK erfüllt. Ein solches System kann jedoch mit den genannten Grundsätzen nur unter der Bedingung vereinbar sein, dass die Strafverfügung der Kontrolle durch ein ordentliches Gericht mit umfassender Rechtsprechungsbefugnis unterliegt, dessen Verfahren diese Anforderungen erfüllt. Mit anderen Worten: Es muss gewährleistet sein, dass die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel allfällige Unzulänglichkeiten des erstinstanzlichen Verfahrens beheben können(71).

95.      Daher stellt im Licht der mit der fraglichen Regelung verfolgten und in den Nrn. 37 f. der vorliegenden Schlussanträge genannten Ziele des Allgemeininteresses die automatische Verhängung einer Geldstrafe von 700 Euro wegen unterlassener Offenlegung von Unterlagen der Gesellschaft im Hinblick auf den verfolgten Zweck keine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte dar und verstößt meines Erachtens nicht gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, wenn Einspruchsmöglichkeiten wie die oben aufgezeigten bestehen.

96.      Das vierte „strukturelle Defizit“ könnte nach der Darstellung des vorlegenden Gerichts in einer für das Unternehmen ungünstigen Beweislastverteilung bestehen, für das eine gesetzliche Schuldvermutung gelte. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, auch wenn die Verhängung einer Zwangsstrafe durch eine automatisch erlassene Verfügung, ohne die betreffende Gesellschaft zu hören, auf einer Schuldvermutung beruhen sollte, diese jedenfalls in einer einfachen Vermutung bestünde, die im mit der Anfechtung der Strafverfügung eröffneten ordentlichen Verfahren widerlegt werden kann. In diesem Verfahren hat die Gesellschaft die Möglichkeit, unter Vorlage ausreichender Beweismittel das Vorliegen der im Gesetz genannten Gründe nachzuweisen, die die Nichterfüllung der Offenlegungspflicht rechtfertigen können. Unter diesen Umständen halte ich die Verteidigungsrechte und die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs für hinreichend gewährleistet(72).

97.      Das fünfte „strukturelle Defizit“ betrifft unangemessene Ausschlussfristen und insbesondere die Möglichkeit, weitere Strafen zu verhängen, ohne die Rechtskraft der vorigen Beschlüsse abzuwarten. Das vorlegende Gericht äußert seine Zweifel sowohl in Bezug auf die Neunmonatsfrist, die ohne Benachrichtigung der Gesellschaft zu laufen beginne, als auch auf die Frist von zwei Monaten für die erneute Verhängung von Geldstrafen bei fortdauernder Säumnis.

98.      Was erstens die Frist von neun Monaten angeht, so habe ich in Nr. 50 der vorliegenden Schlussanträge bereits ausgeführt, dass die fraglichen Richtlinien die jährliche Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen vorsehen, um Dritten, also dem durch diese Bestimmungen geschützten Personenkreis, Zugang zu aktuellen Informationen über die buchhalterische Situation von Gesellschaften zu garantieren. Die Gesellschaften und ihre zuständigen Organe müssen wissen, dass sie diese Unterlagen innerhalb einer vom Gesetz bestimmten Frist, die mit dem Bilanzstichtag zu laufen beginnt, veröffentlichen müssen. Sie müssen sich daher über die Dauer dieser Frist in den einzelnen Mitgliedstaaten, in denen sie ihre Tätigkeiten über eine Zweigniederlassung ausüben wollen, informieren, ohne dass es erforderlich wäre, ihnen die Dauer der Frist bekannt zu geben. Im Übrigen geht aus einer vergleichenden Studie der Kommission hervor, dass die in der österreichischen Regelung vorgesehene Frist von neun Monaten zu den längsten der von den verschiedenen Mitgliedern der Union gewährten Fristen gehört. Unter diesen Umständen lässt nichts darauf schließen, dass eine solche Frist als unangemessen zu betrachten wäre.

99.      Zweitens ist in Bezug auf die Festsetzung einer Zweimonatsfrist für die Verhängung weiterer Strafen bei fortdauernder Säumnis, ohne dass die Rechtskraft der vorigen Beschlüsse abzuwarten wäre, darauf hinzuweisen, dass damit bezweckt wird, Unternehmen im Fall wiederholter Säumnis dazu zu bewegen, die Offenlegungspflicht einzuhalten. Es deutet nichts darauf hin, dass diese Zweimonatsfrist Unternehmen davon abhält, Einspruch gegen die Zwangsstrafverfügungen zu erheben und ihnen damit die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert.

100. Im Ergebnis ergibt sich aus den vorstehenden Erwägungen meines Erachtens, dass ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche weder gegen den Effektivitätsgrundsatz noch gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verstößt.

e)      Zum Grundsatz ne bis in idem

101. Das vorlegende Gericht äußert schließlich unter zwei Gesichtspunkten Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der innerstaatlichen Regelung mit dem Grundsatz ne bis in idem. Dieser Grundsatz in seiner Formulierung in Art. 50 der Charta der Grundrechte besagt, dass niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf.

102. Das vorlegende Gericht fragt sich erstens, ob § 283 Abs. 7 UGB in der Neufassung nicht gegen diesen Grundsatz verstoße, da er vorsehe, dass im Wesentlichen dieselben Tatsachen sowohl der Gesellschaft als auch ihren Organen angelastet würden und gegen beide für diese Tatsachen eine Geldstrafe verhängt werde. Zweitens äußert das vorlegende Gericht auch Zweifel an der Vereinbarkeit der wiederholten Verhängung der Sanktion im Zweimonatsrhythmus bei fortdauernder Säumnis mit dem Grundsatz ne bis in idem.

103. Einleitend weise ich darauf hin, dass im Ausgangsverfahren, wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, für die unterlassene Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen nur gegen die Gesellschaft eine Strafe verhängt wurde und nicht auch gegen ihre Organe. Darüber hinaus wurde keine weitere Zwangsstrafe verhängt, da, wie sich aus Nr. 20 der vorliegenden Schlussanträge ergibt, Texdata die Jahresabschlüsse offengelegt hat. Vor diesem Hintergrund könnte der Gerichtshof, da er nach der in Nr. 29 der vorliegenden Schlussanträge angeführten ständigen Rechtsprechung in Bezug auf den tatsächlichen Rahmen, in den sich die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage einfügt, von den Feststellungen des vorlegenden Gerichts auszugehen hat und da klar ist, dass es im Ausgangsverfahren weder um eine gleichzeitige Verhängung einer Geldstrafe gegen die Organe und die Gesellschaft noch um die weitere Verhängung von Zwangsstrafen in regelmäßigen Abständen geht, diesen Teil der Vorlagefrage für unzulässig erklären(73).

104. Selbst für den Fall, dass der Gerichtshof den vorliegenden Teil der Vorlagefrage für zulässig erklären sollte, und unter Annahme, dass der Gerichtshof den Strafcharakter des in der fraglichen Regelung vorgesehenen Sanktionssystems anerkennt, der eine Voraussetzung für die Anwendung dieses Grundsatzes darstellt, halte ich jedoch keinen der vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel für begründet. Unabhängig von einer möglichen weiteren oder engeren Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem(74) liegen meines Erachtens im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für seine Anwendung jedenfalls nicht vor.

105. Hinsichtlich des ersten Zweifels des vorlegenden Gerichts ist darauf hinzuweisen, dass § 283 Abs. 1 UGB die Verhängung der Zwangsstrafe gegen die Mitglieder der Gesellschaftsorgane und im Fall einer Zweigniederlassung gegen die vertretungsbefugten Personen vorsieht, während Abs. 7 die Verhängung der Zwangsstrafe gegen die Gesellschaft vorsieht. Die nationale Regelung sieht also nicht die Verhängung einer doppelten Strafe gegen dieselbe Person für dieselbe Handlung vor, sondern die Verhängung von Strafen gegen verschiedene Personen. Die Kapitalgesellschaft, die über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügt, deckt sich nämlich nicht mit den Personen, die Mitglieder ihrer relevanten Organe sind(75). Da die Voraussetzung der Identität des Zuwiderhandelnden nicht erfüllt ist, kann die nationale Regelung meines Erachtens nicht als mit dem Grundsatz ne bis in idem unvereinbar angesehen werden(76).

106. Zum zweiten Zweifel des vorlegenden Gerichts ist auszuführen, dass nach § 283 Abs. 4 UGB bei fortdauernder Nichterfüllung der Pflicht zur Offenlegung eine weitere Zwangsstrafe von 700 Euro durch Strafverfügung verhängt wird, die nach jeweils weiteren zwei Monaten erneut verhängt wird. Ich bin der Ansicht, dass auch eine solche Bestimmung nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen kann, weil keine Identität des Sachverhalts vorliegt, da die bestraften Handlungen verschieden sind. Die erste Zwangsstrafe wird nämlich für die Unterlassung der Offenlegung des Jahresabschlusses innerhalb der Frist von neun Monaten nach dem Bilanzstichtag verhängt, während in den folgenden Fällen die unterlassene Offenlegung dieser Unterlagen binnen der weiteren vom Gesetz vorgesehenen Zweimonatsfristen bestraft wird(77). Die aufeinanderfolgenden Strafen ahnden daher zum einen unterschiedliche Verstöße, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden, und zum anderen haben sie ein unterschiedliches Abschreckungsziel(78).

107. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich meines Erachtens, dass ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren fragliche nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstößt.

V –    Ergebnis

108. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Oberlandesgericht Innsbruck vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

Die Niederlassungsfreiheit der Art. 49 AEUV und 54 AEUV, die Grundsätze des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der Wahrung der Verteidigungsrechte und ne bis in idem nach Art. 47, Art. 48 Abs. 2 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die Bestimmungen der Richtlinie 2009/101/EG, der Vierten Richtlinie 78/660/EWG und der Elften Richtlinie 89/666/EWG stehen einer nationalen Regelung nicht entgegen, die bei Überschreitung der neunmonatigen Frist zur Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen beim zuständigen Gericht von diesem Gericht sofort die Verhängung einer Mindestgeldstrafe von 700 Euro über die Gesellschaft und über jedes der vertretungsbefugten Organe verlangt, ohne vorherige Möglichkeit der Stellungnahme und ohne vorherige individuelle Aufforderung an die Gesellschaft oder an die vertretungsbefugten Organe, der Offenlegungspflicht zu genügen, und die bei weiterer Säumnis von jeweils zwei Monaten sofort die weitere Verhängung jeweils weiterer Mindestgeldstrafen von 700 Euro über die Gesellschaft und die genannten Organe vorsieht.


1 – Originalsprache: Italienisch.


2–      Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8).


3–      Richtlinie 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 258, S. 11).


4–      Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrags über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11). Dieser Artikel wurde durch die Richtlinie 2006/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2006 zur Änderung der Richtlinien des Rates 78/660/EWG über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, 83/349/EWG über den konsolidierten Abschluss, 86/635/EWG über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Banken und anderen Finanzinstituten und 91/674/EWG über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Versicherungsunternehmen eingefügt (ABl. L 224, S. 1).


5–      Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen (ABl. L 395, S. 36).


6 – Aus dem neunten Erwägungsgrund der Elften Richtlinie 89/666 geht hervor, dass es im Hinblick auf die Angleichung der einzelstaatlichen Vorschriften über die Erstellung, Prüfung und Offenlegung von Unterlagen der Rechnungslegung genügt, die von der ausländischen Gesellschaft, die die Zweigniederlassung gegründet hat, geprüften und offengelegten Rechnungslegungsunterlagen beim Register der Zweigniederlassung offenzulegen, vgl. dazu Art. 3 dieser Richtlinie.


7 – Diese Bestimmung wurde durch das Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl. I 111/2010) geändert.


8 – Aus dem Vorlagebeschluss geht nämlich hervor, dass sich in der Vergangenheit in Österreich bei den Firmenbuchgerichten die Übung eingebürgert hatte, frühestens etwa einen Monat nach Ablauf der neunmonatigen Frist zunächst eine formlose Aufforderung an die säumige Gesellschaft zu versenden, in der eine Nachfrist von vier Wochen eingeräumt wurde. Nach fruchtlosem Ablauf dieser Frist erging eine weitere Aufforderung, binnen einer bestimmten Frist den Jahresabschluss vorzulegen. Sie war verbunden mit der Androhung einer Zwangsstrafe. Erst wenn auch dieser zweiten Aufforderung nicht Folge geleistet wurde, verhängten die Gerichte Zwangsstrafen.


9–      Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates vom 13. Juni 1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrags über den konsolidierten Abschluss (ABl. L 193, S. 1).


10 – Vgl. insbesondere Urteile vom 30. April 1986, Ministère public/Asjes u. a. (209/84 bis 213/84, Slg. 1986, 1425, Randnr. 12), und vom 1. Dezember 2005, Burtscher (C‑213/04, Slg. 2005, I‑10309, Randnr. 33).


11 – Vgl. Urteile vom 17. Juli 2008, ASM Brescia (C‑347/06, Slg. 2008, I‑5641, Randnr. 28), und vom 29. Januar 2009, Josef Vosding Schlacht-, Kühl‑ und Zerlegebetrieb u. a. (C‑278/07 bis C‑280/07, Slg. 2009, I‑457, Randnr. 16).


12–      Vg. Urteil vom 21. Oktober 2010, Padawan (C‑467/08, Slg. 2010, I‑10055, Randnr. 24).


13 – Siehe im Einzelnen oben, Nr. 12 und Fn. 8.


14–      Siehe Art. 1 der Siebenten Richtlinie 83/349 (oben in Fn. 9 angeführt).


15–      Vgl. Urteil vom 21. Oktober 2010, Idryma Typou (C‑81/09, Slg. 2010, I‑10161, Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zur fehlenden Eignung eines unrichtigen Verweises auf Bestimmungen des Unionsrechts, die Zulässigkeit der Vorlagefrage in Frage zu stellen, vgl. auch Urteil vom 22. März 2012, Nilaş (C‑248/11, Randnrn. 31 f.)


16 – Ex-Art. 44 Abs. 2 Buchst. g EG und zuvor Art. 54 Abs. 2 Buchst. g des EG‑Vertrags.


17–      ABl. 1962, Nr. 2, S. 36, vgl. insbesondere Abschnitt VI.


18 – Vgl. insbesondere Kapitel 2 der Richtlinie 2009/101, Abschnitt 10 der Vierten Richtlinie 78/660 und die Elfte Richtlinie 89/666.


19 – Vgl. insbesondere die Erwägungsgründe 2 f. der Richtlinie 2009/101, die Erwägungsgründe 1 und 6 der Vierten Richtlinie 78/660 sowie die Erwägungsgründe 6 f. der Elften Richtlinie 89/66. Zur Ersten Richtlinie 68/151, aufgehoben und ersetzt durch die Richtlinie 2009/101, vgl. auch Urteil vom 1. Juni 2006, Innoventif (C‑453/04, Slg. 2006, I‑4929, Randnr. 3).


20–      Vgl. Urteil vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, Slg. 2005, I‑3565, Randnr. 62).


21–      Vgl. Urteil vom 4. Dezember 1997, Daihatsu (C‑97/96, Slg. 1997, I‑6843, Randnr. 22).


22 – Vgl. Nr. 32 der Schlussanträge des Generalanwalts Cosmas vom 5. Juni 1997 in der Rechtssache C‑191/95, Kommission/Deutschland (Slg. 1998, I‑5449), und Nr. 14 seiner Schlussanträge vom 3. Juli 1997 in der Rechtssache Daihatsu (in der vorstehenden Fußnote angeführt).


23 – Vgl. insbesondere Art. 7 Buchst. a der Richtlinie 2009/101 und Art. 12 der Elften Richtlinie 89/666. Insoweit muss ich darauf hinweisen, dass der Unionsgesetzgeber, wie der Umstand zeigt, dass Art. 7 Buchst. a der Richtlinie 2009/101 – wie im Übrigen zuvor die durch sie ersetzte Erste Richtlinie 68/151 – den Mitgliedstaaten vorschreibt, geeignete Maßregeln zumindest für den Fall zu erlassen, dass die Offenlegung der Rechnungslegungsunterlagen unterbleibt, der Einhaltung der Pflicht zur Offenlegung dieser Unterlagen im Vergleich zur Offenlegung anderer Informationen der Gesellschaft besondere Bedeutung beimisst, vgl. in diesem Sinne auch Nr. 27 der Schlussanträge des Generalanwalts Cosmas in der Rechtssache Kommission/Deutschland (oben in Fn. 22 angeführt).


24–      Vgl. Urteil Berlusconi (oben in Fn. 20 angeführt), Randnrn. 64 f.


25 – Vgl. insbesondere Urteile vom 12. Juli 2001, Louloudakis (C‑262/99, Slg. 2001 I‑5547, Randnr. 67), vom 29. Juli 2010, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski (C‑188/09, Slg. 2010, I‑7639, Randnr. 29), und vom 9. Februar 2012, Urbán (C‑210/10, Randnr. 23).


26 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑379/08 und C‑380/08, Slg. 2010, I‑2007, Randnr. 86), und Urbán (oben in Fn. 25 angeführt), Randnr. 24.


27 – Vgl. Urteil Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski (oben in Fn. 25 angeführt), Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung.


28–      Urteil vom 30. September 2003, Inspire Art (C‑167/01, Slg. 2003, I‑10155, Randnr. 63).


29 – Vgl. Erläuterungen zur Regierungsvorlage, S. 70 (dieses Dokument ist auf der Website des österreichischen Parlaments unter folgender Adresse abrufbar: www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/I/I_00981/fnameorig_201069.html). In der mündlichen Verhandlung hat die österreichische Regierung ausgeführt, dass vor der Reform von 2011 nur 37 % der großen Unternehmen die Offenlegungspflichten fristgerecht erfüllten. Aus diesen Erläuterungen geht hervor, dass sich die österreichische Regierung im Licht dieser Daten sogar die Frage stellte, ob Österreich seinen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht, geeignete Maßnahmen zur Durchsetzung der Vorlagepflichten vorzusehen, ausreichend nachkomme.


30 – Vgl. die Beschreibung dieses Systems oben in Nr. 12 und Fn. 8.


31–      Vgl. in diesem Sinne Urteil Idryma Typou (oben in Fn. 15 angeführt), Randnr. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung.


32–      Siehe oben, Fn. 6.


33 – Vgl. entsprechend Urteile Innoventif (oben in Fn. 19 angeführt), Randnr. 39, und vom 17. Juni 1997, Sodemare u. a. (C‑70/95, Slg. 1997, I‑3395, Randnr. 33).


34 – Vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, Slg. 2007, I‑2271, Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 18. März 2010, Alassini u. a. (C‑317/08 bis C‑320/08, Slg. 2010, I‑2213, Randnr. 61).


35 – Vgl. u. a. Urteil vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a. (C‑550/07 P, Slg. 2010, I‑8301, Randnr. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36 – Vgl. u. a. Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission (C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg. 2002, I‑8375, Randnr. 59), sowie vom 29. Juni 2006, Showa Denko/Kommission (C‑289/04 P, Slg. 2006, I‑5859, Randnr. 50).


37 – Vgl. jüngst, in chronologisch absteigender Reihenfolge, die Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón vom 12. Juni 2012 in der Rechtssache Åkerberg Fransson (C‑617/10, Nrn. 25 bis 65 mit weiteren Verweisen in Fn. 4), Generalanwältin Kokott vom 15. Dezember 2011 in der Rechtssache Bonda (Urteil vom 5. Juni 2012, C‑489/10, Nrn. 13 bis 20), Generalanwalt Bot vom 5. April 2011 in der Rechtssache Scattolon (Urteil vom 6. September 2011, C‑108/10, Slg. 2011, I‑7491, Nrn. 116 bis 119) sowie Generalanwältin Trstenjak vom 22. September 2011 in der Rechtssache N. S. u. a. (Urteil vom 21. Dezember 2011, C‑411/10 und C‑493/10, Slg. 2011, I‑13905, Nrn. 71 bis 81). Für Hinweise auf die Lehre vgl. Fn. 66 der in der vorliegenden Fußnote angeführten Schlussanträge von Generalanwalt Bot.


38–      Siehe oben, Nrn. 4, 5 und 7.


39 – Der vorliegende Fall unterscheidet sich daher wesentlich von dem zweifellos problematischeren in der Rechtssache Åkerberg Fransson (oben in Fn. 37 angeführt). Die in diesem Fall einschlägige Richtlinie sieht nämlich nicht, wie im vorliegenden Fall, eine ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, geeignete Maßregeln für Verstöße gegen die von ihr vorgesehenen Verpflichtungen festzulegen, sondern beschränkt sich, wie in den Schlussanträgen von Generalanwalt Cruz Villalón hervorgehoben, auf eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu einer effizienten Steuererhebung (vgl. die in Fn. 37 angeführten Schlussanträge, Nr. 58). Während daher im Fall Åkerberg Fransson das innerstaatliche Recht bloß in den Dienst der vom Unionsrecht vorgegebenen Ziele gestellt wird (vgl. insbesondere Nr. 60 der angeführten Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón), beruht im vorliegenden Fall die nationale Rechtsetzungstätigkeit unmittelbar auf dem Unionsrecht.


40 – Auf diese Regelung wären also nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sowohl die zivilrechtlichen als auch die strafrechtlichen Garantien des Art. 6 EMRK anzuwenden.


41–      Vgl. Nr. 45 der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Bonda (oben in Fn. 37 angeführt).


42 – Vgl. hierzu Urteil Bonda (oben in Fn. 37 angeführt), Randnrn. 36 ff. Das Gebot der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich aus dem Homogenitätsgebot, das in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 Satz 1 der Charta niedergelegt ist, vgl. Nr. 43 der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Bonda (oben in Fn. 37 angeführt) und die dort angeführte Rechtsprechung.


43 – Urteile des EGMR vom 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande (Große Kammer) (Beschwerde-Nrn. 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72, Serie A Nr. 22, §§ 80 bis 82).


44 – Urteile des EGMR Engel u. a. (in der vorstehenden Fußnote angeführt), § 82, vom 21. Februar 1984, Öztürk/Deutschland (Beschwerde-Nr. 8544/79, Serie A Nr. 73, § 52), vom 27. September 2011, Menarini/Italien (Beschwerde-Nr. 43509/08, § 39).


45 – Vgl. insbesondere Urteil des EGMR vom 10. Februar 2009, Zolotukhin/Russland (Große Kammer) (Beschwerde-Nr. 14939, §§ 52 f.). Für eine detaillierte Analyse der Elemente, die der EGMR bei der Prüfung des zweiten und des dritten Kriteriums berücksichtigt, vgl. Nrn. 48 f. der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Bonda (oben in Fn. 37 angeführt) und die dort angeführte Rechtsprechung.


46 – Urteil des EGMR vom 23. November 2006, Jussila/Finnland (Beschwerde-Nr. 73053/07, § 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteile Menarini (oben in Fn. 44 angeführt), § 38, und Zolotukhin (oben in Fn. 45 angeführt), § 52.


47 – Es ist jedoch anzumerken, dass nach der ständigen Rechtsprechung des österreichischen Obersten Gerichtshofs (OGH), auf die Texdata in der mündlichen Verhandlung Bezug genommen hat, die nach § 283 UGB verhängten Zwangsstrafen keinen Strafcharakter im Sinne des Art. 6 EMRK haben. Diese Rechtsprechung wurde mehrfach, auch nach der Reform von 2011, bekräftigt (vgl. Urteile des OGH vom 13. September 2012, 6 Ob 152/12i, Nr. 4, und vom 16. Februar 2012, 6 Ob 17/12m, Nr. 2). Dieser Rechtsprechung ist daher ausdrücklich zu entnehmen, dass die von Texdata in der mündlichen Verhandlung vertretene Auffassung, das Sanktionssystem des § 283 UGB habe nach der Rechtsprechung des OGH Strafcharakter, unbegründet ist.


48–      Nach der Rechtsprechung des EGMR spricht die Tatsache, dass sich eine Regelung an die Allgemeinheit und nicht an eine Gruppe, die einen bestimmten Status innehat, richtet, für den strafrechtlichen Charakter der Sanktion. Vgl. Urteil Öztürk (oben in Fn. 44 angeführt), § 53. Der Gerichtshof hat im Übrigen auch diesen Gesichtspunkt berücksichtigt, vgl. Randnr. 40 des Urteils Bonda (oben in Fn. 37 angeführt).


49 – Allgemein scheinen mir die von der Regelung im Ausgangsverfahren geschützten Werte und Interessen eher zum Bereich des Zivil- oder Verwaltungsrechts als zu dem des Strafrechts zu gehören. Strafrechtliche Sanktionen bei Verstößen gegen die die Rechnungslegungsunterlagen von Gesellschaften betreffenden Verpflichtungen sind jedoch nicht ausgeschlossen. Man denke nur an den falsche Gesellschaftsmitteilungen betreffenden Straftatbestand der Art. 2621 und 2622 des italienischen Codice Civile, der Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens im Urteil Berlusconi (oben in Fn. 20 angeführt) war.


50–      In der Rechtsprechung des EGMR wird der strafrechtliche Charakter verneint, wenn die Sanktion nur einen Ersatz von Vermögensschäden bezweckt, vgl. Urteil Jussila (oben in Fn. 46 angeführt), § 38.


51 – Unter diesem Gesichtspunkt unterscheiden sich die Sanktionen nach der fraglichen Bestimmung nicht von Steueraufschlägen, die Gegenstand der Rechtsprechung des EGMR waren und in denen er diesen einen strafrechtlichen Charakter zusprach, da sie nicht auf eine finanzielle Entschädigung abzielten, sondern als Strafe konzipiert waren, die einer Wiederholung vorbeugen sollte, vgl. Urteil Jussila (oben in Fn. 46 angeführt), § 38.


52 – Das österreichische Höchstgericht ist nämlich der Ansicht, dass die Verhängung von Sanktionen, wie sie in der fraglichen Regelung vorgesehen sind, nicht auf die Verhinderung eines rechtlich verbotenen Verhaltens, sondern auf die Erzwingung rechtlich gebotenen Verhaltens gerichtet ist (vgl. insbesondere Nr. 2 des Urteils vom 16. Februar 2012, oben in Fn. 47 angeführt, und Urteil vom 21. Dezember 2011, 6 Ob 235/11v, in dem der OGH in Nr. 4 ausdrücklich die Gründe darlegt, aus denen das fragliche Sanktionssystem keinen repressiven Charakter hat).


53 – Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Gerichtshof eine repressive Zielsetzung der fraglichen Sanktionen in diesem Fall verneint, vgl. Randnrn. 39 bis 42 des Urteils Bonda (oben in Fn. 37 angeführt).


54 – Vgl. Urteil des EGMR Zolotukhin (oben in Fn. 45 angeführt), § 56.


55 – Ich habe daher Zweifel, ob eine Geldstrafe in dieser Höhe im Licht der Rechtsprechung des EGMR als „erheblich“ anzusehen ist. Insoweit hat der EGMR zwar entschieden, dass die Geringfügigkeit der Strafe nicht entscheidend dafür sei, um einer Zuwiderhandlung ihren inhärenten Strafcharakter zu nehmen (Urteil Öztürk, oben in Fn. 44 angeführt, § 54, und Jussila, oben in Fn. 46 angeführt, § 35), doch hat er in einigen Rechtssachen den Umstand, dass die Geldstrafe eine bedeutende Höhe aufwies, aufgrund des damit verbundenen Hinweises auf die Schwere der Sanktion als einen Gesichtspunkt angesehen, der bei der Feststellung ihres Strafcharakters eine Rolle spielt, vgl. Urteile vom 24. Februar 1994, Bendenoun/Frankreich (Beschwerde-Nr. 12547/86, Serie A Nr. 284, § 47), und Menarini (oben in Fn. 44 angeführt), § 42. In dieser Hinsicht vgl. auch Nrn. 9 und 10 des Sondervotums der Richter Costa, Cabral Barreto, Mularoni und Caflisch zum Urteil Jussila (oben in Fn. 46 angeführt).


56 – Nach § 283 Abs. 5 UGB erhöhen sich die verhängten Zwangsstrafen im ordentlichen Verfahren sowie die weiteren Strafen bei fortdauernder Säumnis auf das Drei- oder Sechsfache für mittelgroße bzw. große Kapitalgesellschaften. Das bedeutet, dass im Fall der wiederholten Verhängung von erhöhten Zwangsstrafen gegen Personen, die den Organen mittelgroßer oder großer Kapitalgesellschaften angehören, der Gesamtbetrag der Zwangsstrafen für diese Personen nicht unerhebliche Beträge erreichen kann.


57 – Zur Bedeutung der stigmatisierenden Wirkung vgl. EGMR, Urteil Jussila (oben in Fn. 46 angeführt), § 43.


58 – EGMR, Urteil Jussila (oben in Fn. 46 angeführt), § 43; vgl. auch die Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston vom 10. Februar 2011 in der Rechtssache KME Germany u. a./Kommission (Urteil vom 8. Dezember 2011, C‑272/09 P, Slg. 2011, I-12789, Nr. 67).


59 – Vgl. Nr. 43 meiner Schlussanträge vom 2. September 2010 in der Rechtssache DEB (Urteil vom 22. Dezember 2010, C‑279/09, Slg. 2010, I‑13849).


60–      Urteil Unibet (oben in Fn. 34 angeführt), Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung.


61 – Vgl. Urteile Unibet (oben in Fn. 34 angeführt), Randnrn. 41 f. und die dort angeführte Rechtsprechung, und Alassini u. a. (oben in F. 34 angeführt), Randnr. 47, sowie Urteil vom 8. Juli 2010, Bulicke (C‑246/09, Slg. 2010, I‑7003, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


62 – Vgl. Urteile Unibet (oben in Fn. 34 angeführt), Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Bulicke (in der vorstehenden Fußnote angeführt), Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung.


63 – Urteile vom 29. Oktober 2009, Pontin (C‑63/08, Slg. 2009, I‑10467, Randnr. 47), sowie Bulicke (oben in Fn. 61 angeführt), Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung.


64 – Der Gerichtshof hat diese Grundsätze wiederholt bekräftigt, vgl. insbesondere Urteil vom 25. Oktober 2011, Solvay/Kommission (C‑110/10 P, Slg. 2011, I-10439, Randnr. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung); vgl. auch Urteil vom 24. Oktober 1996, Kommission/Lisrestal u. a. (C‑32/95 P, Slg. 1996, I‑5373, Randnr. 21), sowie jüngst Nr. 60 der Schlussanträge von Generalanwalt Bot vom 12. September 2012 in der Rechtssache ZZ (C‑300/11) und die dort angeführte Rechtsprechung.


65–      Urteil Bulicke (oben in Fn. 61 angeführt), Randnr. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung.


66 – Nach den Erklärungen der österreichischen Regierung wird in der Praxis mit der Zwangsstrafverfügung generell ein Einspruchsformular übermittelt, das die Erhebung des Einspruchs erleichtert, auch ein Feld für die Angabe der Einspruchsgründe vorsieht und, wie die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, auf die Einspruchsfrist von 14 Tagen hinweist.


67 – Den Erklärungen der österreichischen Regierung zufolge ist nach österreichischem Recht diese Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den in § 283 UGB angeführten Bestimmungen nur in dem Fall möglich, dass ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis die rechtzeitige Vornahme des Einspruchs verhindert hat.


68 – Das vorlegende Gericht hebt ferner hervor, dass in der Zwangsstrafverfügung weder auf die Rechtsfolgen der Zurückweisung des verspäteten oder unbegründeten Einspruchs noch auf den Ausschluss neuer, nicht geltend gemachter Gründe hingewiesen wird. Hierzu ist festzustellen, dass die Richter durch nichts daran gehindert sind, in der Zwangsstrafverfügung auf diese Umstände hinzuweisen, da dem kein gesetzliches Verbot entgegensteht. Jedenfalls scheint mir auch dieser Umstand nicht geeignet, die Effektivität des Einspruchs zu beeinträchtigen.


69 – EGMR, Urteile Jussila (oben in Fn. 46 angeführt), §§ 40, 41 und 43, und vom 12. Mai 2010, Kammerer/Österreich (Beschwerde-Nr. 32435/06, §§ 23 f.).


70 – Vgl. Urteile Alassini u. a. (oben in Fn. 34 angeführt), Randnr. 63, und vom 6. September 2012, Trade Agency (C‑619/10, Randnr. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).


71 – Sind solche Garantien gegeben, kann nach der Rechtsprechung des EGMR von den Garantien des Art. 6 EMRK abgewichen werden, vgl. EGMR, Urteile vom 29. April 1988, Belilos/Schweiz (Serie A, Nr. 132, § 68), Jussila (oben in Fn. 46 angeführt), § 43 a. E., und Menarini (oben in Fn. 44 angeführt), § 58. Vgl. auch Nr. 67 der Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache KME Germany u. a./Kommission (oben in Fn. 58 angeführt).


72 – Was die auch vom vorlegenden Gericht aufgegriffene Rechtfertigung von Texdata anbelangt, die Bestimmungen von § 283 UGB seien ihr nicht bekannt gewesen, weise ich darauf hin, dass es zum einen durchaus vernünftig ist, von ausländischen Gesellschaften die Kenntnis des Rechts des Mitgliedstaats zu verlangen, in dem sie ihre Tätigkeiten ausüben wollen, und dass zum anderen jedenfalls die Pflichten zur Offenlegung von Unterlagen durch Gesellschaften und insbesondere durch Zweigniederlassungen sowie zur Festlegung von Sanktionen im Fall der unterlassenen Offenlegung in allen Mitgliedstaaten bestehen und ihren Ursprung im Unionsrecht haben, das diese Verpflichtungen seit mittlerweile mehr als 20 Jahren vorsieht.


73–      Vgl. Urteil vom 11. September 2003, Safalero (C‑13/01, Slg. 2003, I‑8679, Randnr. 40).


74 – Für eine Analyse der Entwicklung dieses Grundsatzes in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verweise ich auf die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott vom 8. September 2011 in der Rechtssache Toshiba (Urteil vom 14. Februar 2012, C‑17/10, Nrn. 115 ff.) und auf die Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón in der Rechtssache Åkerberg Fransson (oben in Fn. 37 angeführt, Nrn. 88 ff.). Insbesondere in Fällen der Durchsetzung von Unionsrecht auf nationaler Ebene, wie im vorliegenden Fall, ist der Gerichtshof von einem weiten Verständnis dieses Grundsatzes ausgegangen, das vom Erfordernis der Identität der Sache in rechtlicher Hinsicht absieht und bei dem es ausschließlich auf das Erfordernis der Identität des Sachverhalts im Sinne des Vorliegens eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände ankommt, was zwangsläufig die Identität des Zuwiderhandelnden impliziert, vgl. dazu insbesondere Nr. 91 der Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der oben angeführten Rechtssache Åkerberg Fransson sowie die Nrn. 122 und 124 der in der vorliegenden Fußnote angeführten Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Toshiba. Diese Auslegung wird seit dem Urteil Zolotukhin (oben in Fn. 45 angeführt) auch vom EGMR vertreten, insbesondere in § 82.


75 – Die Haftung der Mitglieder der Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane der Kapitalgesellschaften ist im Übrigen in den Art. 50b und c der Vierten Richtlinie 78/660 verankert.


76 – Diese Position entspricht im Übrigen derjenigen des österreichischen Obersten Gerichtshofs (vgl. Urteil des OGH vom 13. September 2012, oben in Fn. 47 angeführt, Nr. 3). Es ist gewiss möglich, dass, wie von der Kommission ausgeführt, in Sonderfällen wie z. B. dem der Einpersonengesellschaft dieselbe Person als Organmitglied und als Alleingesellschafter zweimal bestraft wird. In solchen Sonderfällen hat jedoch der nationale Richter § 283 UGB in Übereinstimmung mit dem Grundsatz ne bis in idem auszulegen.


77 – Im Übrigen geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass nach der österreichischen Rechtsprechung kein Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot vorliegt, wenn getrennte Tatzeiträume eindeutig datumsmäßig umschrieben sind und somit den verschiedenen Strafen zwei oder mehrere unterschiedliche Tatzeiträume zugrunde liegen, vgl. insbesondere die Urteile des OGH vom 21. Dezember 2012, 6 Ob 235/11v, 6 Ob 17/12m und 6 Ob 152/12i, sowie Nr. 8 des Urteils vom 13. September 2012 (oben in Fn. 47 angeführt).


78 – Außerdem stimme ich der österreichischen Regierung zu, wenn sie ausführt, dass ein Verbot der erneuten Verhängung der Sanktion bei weiterer Säumnis innerhalb eines eindeutig bestimmten Zeitraums dem Unternehmen, das seine Offenlegungspflicht nicht erfüllt hat, ermöglichen könnte, die Zwangsstrafe zu zahlen, ohne danach der Offenlegungspflicht nachzukommen.