SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 31. März 2022(1)
Rechtssache C‑229/21
Port de Bruxelles SA,
Région de Bruxelles-Capitale
gegen
Infrabel SA
Beteiligte:
Région de Bruxelles-Capitale,
Port de Bruxelles,
Lineas SA
(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Bruxelles [Berufungsgericht Brüssel, Belgien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verkehr – Leitlinien der EU für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes – Kernnetz – Binnenschifffahrtsinfrastruktur – Verpflichtung eines Mitgliedstaats, Binnenhäfen an die Straßen- und Schienenverkehrsinfrastrukturen anzubinden“
I. Einleitung
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 661/2010/EU(2).
2. Das Ersuchen wurde im Rahmen des Verfahrens eingereicht, das die Gesellschaft Port de Bruxelles SA mit dem Ziel eingeleitet hat, den einzigen Schienenanschluss des Hafens von Brüssel zum belgischen Schienennetz aufrechtzuerhalten.
3. Ich werde aufzeigen, welche Gründe mich zu der Ansicht bewegen, dass die Mitgliedstaaten, vorbehaltlich bestimmter operativer Vorbehalte, deren Beurteilung dem nationalen Gericht obliegt, gemäß Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1315/2013 davon absehen müssen, im Straßen- oder Schienenverkehr Infrastrukturen zu entfernen, an die ein Binnenhafen bereits angebunden ist, insbesondere wenn dieser Hafen einen Teil des Kernnetzes bildet, aus dem sich das transeuropäische Verkehrsnetz zusammensetzt.
II. Rechtlicher Rahmen
4. In den Erwägungsgründen 7, 8 und 13 der Verordnung Nr. 1315/2013 heißt es:
„(7) Das transeuropäische Verkehrsnetz besteht zu einem großen Teil aus vorhandenen Infrastrukturen. Um die Ziele der neuen Politik für das transeuropäische Verkehrsnetz vollständig zu erreichen, sollten in einer Verordnung einheitliche Infrastrukturanforderungen festgelegt werden, denen die Infrastruktur des transeuropäischen Verkehrsnetzes genügen muss.
(8) Das transeuropäische Verkehrsnetz sollte durch die Schaffung neuer Verkehrsinfrastrukturen, durch die Sanierung und Modernisierung vorhandener Verkehrsinfrastrukturen und durch Maßnahmen zur Förderung ihrer ressourcenschonenden Nutzung verwirklicht werden. In Einzelfällen ist es wegen unzureichender regelmäßiger Instandhaltung in der Vergangenheit notwendig, die Eisenbahninfrastrukturen zu sanieren. Im Rahmen der Sanierung werden unter Einhaltung der Anforderungen und Bestimmungen dieser Verordnung die ursprünglichen Konstruktionsparameter bestehender Eisenbahninfrastrukturen wiederhergestellt und gleichzeitig wird eine langfristige Verbesserung ihrer Qualität im Vergleich zum heutigen Zustand erzielt.
…
(13) Innerhalb des vom Gesamtnetz vorgegebenen Rahmens sollten bis zum Jahr 2030 vorrangig das Kernnetz festgelegt und geeignete Maßnahmen für seinen Aufbau ergriffen werden. Das Kernnetz sollte das Rückgrat der Entwicklung eines nachhaltigen multimodalen Verkehrsnetzes bilden und sollte den Ausbau des Gesamtnetzes insgesamt vorantreiben. Dabei sollten die Maßnahmen der Union auf jene Bestandteile des transeuropäischen Verkehrsnetzes konzentriert werden, mit denen der größte europäische Mehrwert erzielt werden kann, nämlich insbesondere auf grenzüberschreitende Abschnitte, fehlende Verbindungen, multimodale Anschlusspunkte und große Engpässe, und zwar mit dem im Weißbuch [der Kommission mit dem Titel ‚Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem‘(3)] dargelegten Ziel, die verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen bis 2050 um 60 % unter den Stand von 1990 zu senken.
…“
5. Art. 1 („Gegenstand“) dieser Verordnung sieht vor:
„(1) In dieser Verordnung werden die Leitlinien für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes festgelegt, das eine Struktur auf zwei Ebenen umfasst, die aus dem Gesamtnetz und aus dem Kernnetz besteht, wobei letzteres auf Grundlage des Gesamtnetzes errichtet wird.
(2) Diese Verordnung benennt Vorhaben von gemeinsamem Interesse und gibt die Anforderungen vor, die im Hinblick auf den Betrieb der Infrastruktur des transeuropäischen Verkehrsnetzes eingehalten werden müssen.
…“
6. Art. 4 („Ziele des transeuropäischen Verkehrsnetzes“) der Verordnung bestimmt:
„Das transeuropäische Verkehrsnetz stärkt den sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt der Union und trägt zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Verkehrsraums bei, der effizient und nachhaltig ist, die Vorteile für die Nutzer erhöht und ein integratives Wachstum fördert. Es stellt den mit ihm verbundenen europäischen Mehrwert dadurch unter Beweis, dass es zu den in den nachstehenden vier Kategorien dargelegten Zielen beiträgt:
…
b) Effizienz durch
…
iii) die optimale Integration und Verknüpfung aller Verkehrsträger;
…
v) die effiziente Nutzung neuer und vorhandener Infrastrukturen;
…
c) Nachhaltigkeit durch
…
ii) die Leistung eines Beitrags zu den Zielen niedriger Ausstoß von Treibhausgasen, umweltfreundlicher Verkehr mit geringen CO2-Emissionen, Kraftstoffversorgungssicherheit, Reduzierung der externen Kosten und Umweltschutz;
iii) die Förderung eines CO2-armen Verkehrs mit dem Ziel, die CO2-Emissionen im Einklang mit den CO2-Reduzierungszielen der Union bis 2050 erheblich zu senken;
…“
7. In Art. 5 („Ressourcenschonendes Netz“) der Verordnung heißt es:
„(1) Planung, Aufbau und Betrieb des transeuropäischen Verkehrsnetzes erfolgen auf ressourcenschonende Weise durch
a) den Aufbau, die Verbesserung und die Instandhaltung bestehender Verkehrsinfrastrukturen;
b) die Optimierung der Integration und des Verbunds der Infrastrukturen;
…“
8. In Abschnitt 1 von Kapitel II („Das Gesamtnetz“) der Verordnung Nr. 1315/2013 regelt Art. 13 („Prioritäten für den Aufbau der Schienenverkehrsinfrastruktur“):
„Bei der Förderung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse in Bezug auf die Schienenverkehrsinfrastruktur wird in Ergänzung zu den allgemeinen Prioritäten nach Artikel 10 folgenden Aspekten Priorität eingeräumt:
…
f) gegebenenfalls der Anbindung der Schienenverkehrsinfrastrukturen an die Binnenhafeninfrastrukturen.
…“
9. Abschnitt 2 (Binnenschifffahrtsinfrastruktur) dieses Kapitels enthält die Art. 14 bis 16. Art. 14 (Infrastrukturkomponenten) Abs. 1 Buchst. e bestimmt, dass die Binnenschifffahrtsinfrastruktur insbesondere Binnenhäfen einschließlich der für Beförderungsvorgänge innerhalb des Hafengebiets notwendigen Infrastrukturen umfasst.
10. Art. 15 (Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur) Abs. 1 der Verordnung regelt:
„(1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die Binnenhäfen an die Straßen- oder Schieneninfrastrukturen angebunden sind.“
11. Art. 16 („Prioritäten für den Aufbau der Binnenschifffahrtsinfrastruktur“) der Verordnung führt weiter aus:
„Bei der Förderung von Vorhaben von gemeinsamem Interesse in Bezug auf die Binnenschifffahrtsinfrastruktur wird in Ergänzung zu den allgemeinen Prioritäten nach Artikel 10 folgenden Aspekten Priorität eingeräumt:
…
d) der Anbindung der Binnenhafeninfrastrukturen an die Schienengüterverkehrs- und Straßenverkehrsinfrastrukturen;
…“
12. Kapitel III („Das Kernnetz“) der Verordnung enthält Art. 38 („Bestimmung des Kernnetzes“), der folgenden Inhalt hat:
„(1) Das auf den in Anhang I enthaltenen Karten gezeigte Kernnetz besteht aus jenen Teilen des Gesamtnetzes, die für die Erreichung der Ziele, die mit der Politik für das transeuropäische Verkehrsnetz verfolgt werden, von größter strategischer Bedeutung sind, und spiegelt die sich entwickelnde Verkehrsnachfrage und den Bedarf an multimodalen Verkehrsträgern wider. Das Kernnetz trägt insbesondere dazu bei, die wachsende Mobilität zu bewältigen, einen hohen Sicherheitsstandard zu gewährleisten und ein CO2-armes Verkehrssystem aufzubauen.
(2) Das Kernnetz ist über Knoten miteinander verknüpft und bietet Verbindungen zwischen den Mitgliedstaaten und zu den Verkehrsinfrastrukturnetzen der Nachbarländer.
(3) Unbeschadet des Artikels 1 Absatz 4 sowie des Artikels 41 Absätze 2 und 3 ergreifen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen, um das Kernnetz so zu entwickeln, dass es bis zum 31. Dezember 2030 den Bestimmungen dieses Kapitels entspricht.
Gemäß Artikel 54 wird die Verwirklichung des Kernnetzes von der Kommission bis zum 31. Dezember 2023 überprüft.“
13. In Art. 39 („Infrastrukturanforderungen“) Abs. 2 der Verordnung Nr. 1315/2013 heißt es:
„Die Infrastrukturen des Kernnetzes müssen alle in Kapitel II festgelegten Anforderungen erfüllen …“
14. Art. 40 („Aufbau des Kernnetzes“) dieser Verordnung lautet wie folgt:
„Die Verkehrsinfrastrukturen des Kernnetzes werden gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Kapitels II aufgebaut.“
15. Art. 41 („Knoten des Kernnetzes“) der Verordnung bestimmt:
„1. Die Knoten des Kernnetzes sind in Anhang II verzeichnet und umfassen
a) städtische Knoten einschließlich ihrer Häfen und Flughäfen,
b) Seehäfen und Binnenhäfen,
…
(2) Die in Anhang II Teil 2 aufgeführten Seehäfen des Kernnetzes werden, sofern dem keine physischen Zwänge entgegenstehen, bis zum 31. Dezember 2030 an die Schienen- und Straßenverkehrsinfrastrukturen und, soweit möglich, an die Binnenschifffahrtsinfrastrukturen des transeuropäischen Verkehrsnetzes angebunden.
…“
III. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
16. Port de Bruxelles ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts, der die Verwaltung, der Betrieb und die Entwicklung des Kanals, des Hafens von Brüssel (Belgien), des Vorhafens sowie der Hafenanlagen und ihrer Nebengebäude in der Région de Bruxelles-Capitale (Region Brüssel-Hauptstadt, Belgien) obliegen.
17. Die Infrabel SA ist ein belgisches öffentliches Wirtschaftsunternehmen. Sie betreibt das belgische Schienennetz und ist Eigentümerin der Gleisgruppen und Vermögenswerte, die für diesen Betrieb notwendig oder nützlich sind.
18. Der FIF‑FSI (Fonds d'infrastructure ferroviaire)(4) ist eine privatrechtliche Aktiengesellschaft, die mit der Verwaltung und der Aufwertung von Grundstücken und anderen Handelsaktivitäten im Bereich der Entwicklung, des Kaufs und Verkaufs, der Verwaltung sowie der Finanzierung von Immobilien betraut ist. Ihr gesamtes Kapital wird indirekt vom belgischen Staat gehalten.
19. Zwei Königliche Verordnungen, vom 14. Juni 2004(5) und vom 30. Dezember 2004(6), verpflichten Infrabel, spätestens zum 31. Dezember 2020 die auf dem Gelände Schaerbeek-Formation in Brüssel (Belgien) befindlichen Eisenbahnanlagen zurückzubauen und das Gelände wieder instand zu setzen, um es frei jeglicher Nutzung an den FIF zu übergeben. Zu den zurückzubauenden Anlagen gehört auch die einzige Eisenbahnverbindung der Hafenanlagen des Brüsseler Hafens mit dem belgischen Schienennetz.
20. Am 12. Oktober 2018 erhob Port de Bruxelles vor dem Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (Französischsprachiges Gericht Erster Instanz Brüssel, Belgien) Klage gegen Infrabel mit dem Ziel, ihr zu verbieten, „jegliche Handlung vorzunehmen, die den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1315/2013 ‚TEN-V‘ zuwiderläuft, darin eingeschlossen den Rückbau von Bauwerken und Anlagen, auf die sich [diese] Verordnung bezieht … und insbesondere die Schienenverkehrsanbindung des Brüsseler Vorhafengebiets des Hafens von Brüssel mit dem Netz (von Infrabel)“.
21. Am 30. Oktober 2018 verkündete Infrabel dem FIF den Streit. Das Königreich Belgien trat am 13. November 2018 als Streithelfer dem Verfahren bei, damit ihm das zu ergehende Urteil entgegengehalten werden kann. Später sind auch die Région de Bruxelles-Capitale (Region Brüssel-Hauptstadt, Belgien) und Lineas SA als Streithelferinnen auf Seiten von Port de Bruxelles dem Verfahren beigetreten.
22. Am 14. März 2019 beantragte Port de Bruxelles beim Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (Französischsprachiges Gericht Erster Instanz Brüssel, Belgien) als vorläufige Maßnahme, Infrabel bis zu einem endgültigen Urteil in der Hauptsache zu untersagen, die Gleisgruppe C, darin eingeschlossen das einzige Gleis für den Zugang zum Hafen, außer Betrieb zu nehmen und zurückzubauen, sowie Infrabel aufzugeben, diese Verkehrsanbindung im einwandfreien Betriebszustand aufrechtzuerhalten und ihre Instandhaltung nach den Regeln der Technik vorzunehmen.
23. Für den Fall, dass diesem Antrag stattgegeben würde, beantragte Infrabel bei dem Gericht außerdem, FIF zu untersagen, eine Entschädigung von Infrabel zu fordern, bis das Urteil in der Hauptsache verkündet ist.
24. Mit Urteil vom 20. Dezember 2019 erklärte sich das Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (Französischsprachiges Gericht Erster Instanz Brüssel, Belgien) für „unzuständig“, um über die Klage von Port de Bruxelles zu befinden, außer insoweit, als diese darauf gerichtet war, eine Dienstbarkeit geltend zu machen. Den Antrag von Port de Bruxelles auf Erlass vorläufiger Maßnahmen wies es mit der Begründung zurück, die von Infrabel in der am 5. November 2019 mit dem FIF geschlossenen Vereinbarung eingegangene Verpflichtung, die Frist für den Rückbau der betreffenden Eisenbahnanlagen bis zum 30. Juni 2021 zu verlängern, sei für die vorläufige Regelung der Situation der Parteien ausreichend. Port de Bruxelles und Région de Bruxelles-Capitale (Region Brüssel-Hauptstadt, Belgien) legten gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht Berufung ein, das befand, dass der FIF und das Königreich Belgien aus dem Verfahren zu entlassen seien.
25. Dieses Gericht wirft die Frage auf, ob Port de Bruxelles berechtigt ist, sich vor den belgischen Gerichten auf ein aus Art. 15 der Verordnung Nr. 1315/2013 hervorgehendes subjektives Recht zu berufen. Es führt aus, nach Ansicht von Port de Bruxelles begründe diese Vorschrift eine positive Verpflichtung, nämlich eine solche, ein System zu einzurichten, in dem die Infrastrukturen miteinander verbunden sind, wobei hinsichtlich dieser Verpflichtung die Behörden über einen Ermessensspielraum verfügen. Die Vorschrift begründe außerdem eine negative Verpflichtung des Inhalts, nicht in einer Weise zu handeln, die den Zielen dieser Verordnung zuwiderlaufe, konkret also die Unversehrtheit der bestehenden Infrastrukturen nicht zu beeinträchtigen.
26. Infrabel vertritt die gegenteilige Auffassung mit der Begründung, es müssten, nach dem Wortlaut der Bestimmung, namentlich in der französischen Fassung, Binnenhäfen entweder an Straßeninfrastrukturen oder an Schieneninfrastrukturen angeschlossen sein, da in dieser Fassung die Konjunktion „oder“ verwendet werde.
27. Hierzu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass in der niederländischen Fassung von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1315/2013 die Konjunktion „und“ und nicht „oder“ verwendet wird. Daraus folgert es, dass die wörtliche Auslegung dieser Bestimmung nicht ausreiche, um ihren genauen Sinn zu bestimmen.
28. Nach Ansicht dieses Gerichts lässt die genannte Bestimmung zwei gegensätzliche Auslegungen zu. Aus Art. 3 Buchst. n und Art. 28 Abs. 1 dieser Verordnung könnte in der Tat gefolgert werden, dass eine einzige Verbindung eines Verkehrsträgers, wie eines Binnenhafens, mit einem anderen Verkehrsträger ausreichend ist und dass sich Port de Bruxelles im vorliegenden Fall mit der Straßenverbindung seiner Hafeninfrastrukturen zufriedengeben müsste.
29. Eine andere Auslegung von Art. 15 der Verordnung könnte jedoch dann vertreten werden, sofern sich zum einen diese Regelung aus den Verpflichtungen ergibt, die die Kommission in ihrem Weißbuch eingegangen ist, auf das sich die Regelung bezieht. Daraus würde sich folgern lassen, dass mit der Verordnung zwei Ziele verfolgt werden, nämlich die Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrs zu verbessern und gleichzeitig die Treibhausgasemissionen des Verkehrs bis 2050 um mindestens 60 % zu verringern. Zum anderen könnte sich eine solche Auslegung auf die Bestimmungen der Art. 5, 10, 16 und 34 der Verordnung Nr. 1315/2013 sowie auf die in den Erwägungsgründen 7 und 8 der Verordnung dargelegten Leitlinien stützen.
30. Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Bruxelles (Berufungsgericht Brüssel, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Wenn ein – zum Kernnetz gehörender – Binnenhafen bereits an das Straßen- und Schienennetz angeschlossen ist, ergibt sich dann aus Art. 15 der Verordnung Nr. 1315/2013 – allein oder in Verbindung mit anderen Bestimmungen der Verordnung – die Pflicht, beide Verbindungen aufrechtzuerhalten und instand zu halten, bzw. das Verbot, eine von ihnen, sei es auch nur durch mangelnde Instandhaltung, zu entfernen?
31. Außerdem hat das vorlegende Gericht die Anwendung des beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs mit der Begründung beantragt, es habe, um die Wirksamkeit der vom Gerichtshof erwarteten Antwort zu gewährleisten, Infrabel untersagt, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Eisenbahnanlagen zurückzubauen, bis die Rechtssache nach Eingang der Antwort des Gerichtshofs auf die vorgelegte Vorlagefrage erneut entschieden werde. Seit dem 1. Juli 2021 ist Infrabel jedoch grundsätzlich verpflichtet, für Verzögerungen im Rückbau der genannten Anlagen Entschädigungszahlungen an FIF zu leisten.
32. Der Präsident des Gerichtshofs hat diesen Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren am 4. Mai 2021 zurückgewiesen und entschieden, dass die vom vorlegenden Gericht übermittelten Angaben es rechtfertigten, die Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang zu behandeln.
33. Port de Bruxelles, Infrabel, die Région de Bruxelles-Capitale (Region Brüssel-Hauptstadt, Belgien), die belgische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der Région de Bruxelles-Capitale haben sie sich auch in der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2022 geäußert.
IV. Würdigung
34. Die Vorlagefrage zielt im Wesentlichen darauf ab zu bestimmen, ob in dem Fall, dass ein Binnenhafen wie der Hafen von Brüssel über eine Eisenbahn- und über eine Straßenverbindung verfügt, Art. 15 der Verordnung Nr. 1315/2013 der Beseitigung einer dieser beiden Verbindungen entgegensteht.
35. Die Verordnung Nr. 1315/2013 legt die langfristige Strategie für den Aufbau eines umfassenden transeuropäischen Verkehrsnetzes fest(7), das die Infrastruktur für den Schienenverkehr, den Seeverkehr, den Luftverkehr und den multimodalen Verkehr(8) sowie Straßen und Binnenwasserstraßen umfasst(9). Dieses Netz setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, nämlich dem Gesamtnetz und dem Kernnetz(10). Ziel der Verordnung ist, das Kernnetz bis 2030 zu vollenden(11), während für das Gesamtnetz eine Frist bis 2050 gesetzt ist(12).
36. Wie in Anhang II der Verordnung Nr. 1315/2013 angegeben und in Einklang mit deren Art. 41 Abs. 1 ist der Binnenhafen Brüssel ein Knoten des Kernnetzes(13). In dieser Eigenschaft ist der Hafen ein Teil des Gesamtnetzes(14), der für die Erreichung der Ziele, die mit der Politik für das transeuropäische Verkehrsnetz verfolgt werden, von größter strategischer Bedeutung ist(15).
37. Als Binnenwasserstraßeninfrastruktur, die Teil des Kernnetzes ist(16), unterliegt der Hafen von Brüssel den Anforderungen für das Gesamtnetz, die in Kapitel II dieser Verordnung(17), insbesondere in Abschnitt 2, ausgesprochen sind, einschließlich der in Art. 15 der Verordnung ausgesprochenen Anforderungen.
38. Das vorlegende Gericht wendet sich an den Gerichtshof mit der Frage, wie diese Bestimmung, deren unmittelbare Wirkung von Infrabel in Frage gestellt wird, in einer Situation auszulegen ist, in der vorhandene Infrastrukturen einer nationalen, im Jahre 2004 getroffenen Regelung unterliegen.
39. Soweit mithin der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1315/2013 betroffen ist, weise ich darauf hin, dass es nicht zweifelhaft ist, dass sie nicht nur Vorhaben zum Aufbau neuer Infrastrukturen regelt, sondern auch auf vorhandene Infrastrukturen anwendbar ist(18). Einschränkungen hinsichtlich ihrer Nutzung oder der Notwendigkeit, sie instand zu setzen oder gar zu modernisieren, werden nicht ausgesprochen.
40. Zum zeitlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung, die keine besonderen Übergangsbestimmungen enthält, kann gemäß dem vom Gerichtshof festgelegten Grundsatz über die Anwendung materiellrechtlicher Vorschriften(19) festgestellt werden, dass die Rechtsbeziehungen von Port de Bruxelles und Infrabel zwar der Regelung der 2004 erlassenen königlichen Erlasse unterfallen, dass diese aber weiterhin Wirkungen entfalten(20). Somit ist die genannte Verordnung im vorliegenden Fall anwendbar(21).
41. Soweit es um die unmittelbare Wirkung von Art. 15 der Verordnung Nr. 1315/2013 geht, wie sie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs definiert wird(22), bin ich im Gegensatz zu Infrabel der Ansicht, dass diese Bestimmung hinsichtlich der Verbindung zwischen Binnenhäfen und Infrastrukturen des Straßenverkehrs oder des Schienenverkehrs den Mitgliedstaaten weder einen Ermessensspielraum einräumt noch den Erlass zusätzlicher Durchführungsmaßnahmen durch sie notwendig macht(23).
42. Infrabel vertritt den Standpunkt, die Mitgliedstaaten hätten deswegen einen Ermessensspielraum, weil Art. 15 der Verordnung Nr. 1315/2013 vorsehe, sie würden „gewährleisten“, dass die Binnenhäfen an die Straßen- oder Schieneninfrastrukturen angebunden seien. Diese Formulierung habe nicht den zwingenden Charakter einer Bestimmung, nach der die Binnenhäfen angebunden seien. Diese Einschätzung werde dadurch bestätigt, dass die Nichterfüllung einer solchen Verpflichtung lediglich die Verpflichtung nach sich ziehe, der Kommission hierüber gemäß Art. 56 der Verordnung Nr. 1315/2013 Bericht zu erstatten. Des Weiteren mache der Wortlaut von Art. 16 dieser Verordnung, auf den sich Port de Bruxelles berufe, den programmatischen Charakter dieser Verordnung deutlich. Schließlich könne sich Port de Bruxelles nicht auf einen „Sperrklinkeneffekt“ derselben Verordnung auf der Grundlage von Art. 5 der Verordnung berufen, mit der Verpflichtung, bestehende Zugangsinfrastrukturen aufrechtzuerhalten. Den Mitgliedstaaten stehe es daher frei, eine bestehende Verbindung zurückzubauen und eine neue zu errichten, und zwar ohne Einschränkungen hinsichtlich der Fristen, der Finanzierung und der Merkmale der Verbindung, die in der Verordnung Nr. 1315/2013 festgelegt seien.
43. Ich füge hinzu, dass der Gerichtshof meines Wissens noch nicht über die unmittelbare Wirkung einer Bestimmung in einer Verordnung mit der Formulierung „die Mitgliedstaaten gewährleisten“ entschieden hat. Ich bin der Ansicht, dass sie nicht die Bedeutung hat, die Infrabel ihr zuschreibt, da die vor dem nationalen Gericht geltend gemachten Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere Art. 15 der Verordnung Nr. 1315/2013, als Teil eines Systems zu begreifen sind, das den Rahmen für Aufbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes bildet, indem es die Regeln für die Verwirklichung dieses Netzes sowie die Anforderungen an die Interoperabilität der Verkehrsinfrastrukturen aufstellt.
44. In diesem Rahmen hat der Gesetzgeber jedoch in Art. 15 der Verordnung mit hinreichend klaren und präzisen Worten den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, eine Verbindung von Binnenhäfen mit anderen Verkehrsinfrastrukturen auf dem Landweg vorzusehen oder aufrechtzuerhalten. Außerdem ist gerade im Hinblick auf das Kernnetz vorgesehen, in absehbarer Zeit eine Bilanz zu ziehen(24). Hervorzuheben ist auch, dass auf der Grundlage von Art. 5 der Verordnung bereits zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens alle Maßnahmen ergriffen werden mussten, damit eine bestehende Infrastruktur mit den Anforderungen der Verordnung Nr. 1315/2013 vereinbar wird. Sollte außerdem angenommen werden, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, Maßnahmen in Bezug auf die bestehende Infrastruktur zu ergreifen, würde dieser Verordnung ihre praktische Wirksamkeit entzogen.
45. Hingegen stellt sich die Frage, ob sich diese Verpflichtung nur auf eine einzige der Infrastrukturen des Straßen- und Schienenverkehrs oder auf beide bezieht.
46. In dieser Beziehung ist der vom vorlegenden Gericht gehegte Zweifel am Wortlaut der betroffenen Bestimmung auf die Unterschiede zurückzuführen, die zwischen einigen Sprachfassungen bestehen. Denn die Verpflichtung zur Anbindung von Binnenhäfen bezieht sich einzig in der bulgarischen und in der niederländischen Sprachfassung(25) auf beide Infrastrukturarten.
47. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen(26).
48. Ich stelle bei der Lektüre der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1315/2013 in ihrer Gesamtheit fest, dass der europäische Gesetzgeber in den Anforderungen festlegenden Artikeln (Art. 12, 15 und 22 der Verordnung) die Konjunktion „oder“ verwendet, während die Konjunktion „und“ in denjenigen Artikeln gebraucht wird, die sich auf Aufbauprioritäten beziehen, so in Art. 16 Buchst. d und in Art. 41 der Verordnung(27).
49. Ich teile daher nicht die von der belgischen Regierung, von Port de Bruxelles und der Région de Bruxelles-Capitale (Region Brüssel-Hauptstadt, Belgien) vertretene Auffassung, wonach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1315/2013 eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten(28) vorsieht, Binnenhäfen an zwei Arten von Infrastrukturen, nämlich Straßen- und Schienenverkehr, anzubinden.
50. Jedoch stelle ich fest, dass Art. 15 der Verordnung keine Aussage hinsichtlich bestehender Infrastrukturen trifft. Tatsächlich muss meines Erachtens zwischen der Schaffung von Verbindungen und der Aufrechterhaltung ebensolcher unterschieden werden, insbesondere wenn der Mitgliedstaat sich bereits für eine multimodale Organisation entschieden hat.
51. Eine solche Auslegung lässt sich meines Erachtens aus einer kontextuellen Analyse der Artikel der Verordnung Nr. 1315/2013 ableiten, die die Prioritäten für den Aufbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes und insbesondere der Infrastrukturen der Binnenwasserstraßen festlegen. Steht fest, dass der „Anbindung der Binnenhafeninfrastrukturen an die Schienengüterverkehrs- und Straßenverkehrsinfrastrukturen“ Priorität eingeräumt wird(29), würde die Beseitigung einer dieser beiden in Anbetracht des abweichenden Wortlauts von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung keinen Sinn ergeben.
52. In allgemeiner Sicht ist die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1315/2013 in dem Sinne, dass die Anbindung an mehrere bereits bestehende Verkehrsinfrastrukturen nicht beseitigt werden darf, mit Blick auf die mit dieser Verordnung verfolgten Ziele durch den Aufbau des strukturierten transeuropäischen Verkehrsnetzes mit dem Ziel seiner Optimierung gerechtfertigt.
53. Art. 4 dieser Verordnung gibt die Ziele an, zu denen dieses Netz beiträgt, indem es die Schaffung eines effizienten und nachhaltigen einheitlichen europäischen Verkehrsraums fördert.
54. Soweit es erstens um das Ziel der Effizienz geht, ergibt sich dieses insbesondere aus der optimalen Integration und Verknüpfung aller Verkehrsträger(30) sowie aus der „Nutzung neuer und vorhandener Infrastrukturen“(31).
55. In dieser Hinsicht legt Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1315/2013 fest, wie die Ressourcen im Rahmen der Verwaltung des transeuropäischen Verkehrsnetzes optimal genutzt werden können, indem auf bestehende Infrastrukturen aufgebaut(32) und der Verbund der Infrastrukturen optimiert wird(33).
56. Des Weiteren muss die Gestaltung des Kernnetzes und seiner Komponenten innerhalb des transeuropäischen Verkehrsnetzes berücksichtigt werden.
57. Dieses Kernnetz wird nämlich definiert als „besteh[end] aus jenen Teilen des Gesamtnetzes, die von größter strategischer Bedeutung für die Verwirklichung der mit dem Aufbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes verfolgten Ziele sind“(34). Art. 41 der Verordnung stellt klar, dass das Kernnetz namentlich aus den wichtigsten städtischen Knoten besteht(35), einschließlich etwa der Häfen und Flughäfen sowie der Seehäfen und Binnenhäfen.
58. Tatsächlich ist der städtische Knoten im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1315/2013 von besonderem Interesse, und zwar zum einen aufgrund seiner Lage in einem Gebiet, in dem Verkehrsinfrastrukturen des transeuropäischen Netzes mit anderen Teilen dieser Infrastrukturen und mit Infrastrukturen für den Nah- und Regionalverkehr verbunden sind(36).
59. Zum anderen wird das Ziel, zwischen diesen Knoten möglichst multimodale Verbindungen herzustellen, sofern diese wirtschaftlich tragfähig, ökologisch nachhaltig und bis 2030 realisierbar sind, im 41. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1315/2013 ausgesprochen.
60. Somit kann aus den Zielen hinsichtlich dieser multimodalen Verbindungen ein weiteres Argument entnommen werden(37). Um den multimodalen Personen- und Güterverkehr zu ermöglichen, müssen die Mitgliedstaaten nämlich gemäß Art. 28 Abs. 1 der Verordnung gewährleisten, dass zwei oder mehr Verkehrsträger miteinander verbunden werden(38), d. h. Frachtterminals, Personenbahnhöfe, Binnenhäfen, Flughäfen und Seehäfen.
61. Ein letzter für die Bestimmung der Bedeutung von Art. 15 der Verordnung relevanter Gesichtspunkt lässt sich meines Erachtens aus der Existenz von Kernnetzkorridoren ableiten, insofern es sich um eine Infrastruktur handelt, die zu den Bestandteilen dieses Netzes gehört. Denn Kapitel IV („Verwirklichung des Kernnetzes durch Kernnetzkorridore“) der Verordnung enthält Art. 43 Abs. 2, wonach „Kernnetzkorridore … multimodal angelegt und offen für die Einbeziehung aller durch diese Verordnung erfassten Verkehrsträger [sind]. Sie verlaufen über mindestens zwei Grenzen und erstrecken sich, wenn möglich, auf mindestens drei Verkehrsträger, gegebenenfalls auch auf Meeresautobahnen“.
62. Meines Erachtens ergibt sich aus alledem, dass die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten mit Blick auf das Gesamtnetz zwar diejenigen sind, die die Verordnung Nr. 1315/2013 und namentlich Art. 15 ausspricht, dass aber das hohe Anforderungsniveau zur Erfüllung des Effizienzziels(39), das für eine Verkehrsinfrastruktur erforderlich ist, davon abhängt, ob diese eine Komponente des Kernnetzes ist(40). Es müssen daher die Bedeutung dieses Netzes innerhalb des transeuropäischen Verkehrsnetzes und seine mögliche Verwirklichung mit Hilfe von Korridoren berücksichtigt werden.
63. Wie es Art. 4 der Verordnung vorsieht(41), ist zweitens die Nachhaltigkeit ein weiteres Ziel, zu dem dieses transeuropäische Netz beiträgt, und zwar durch die Verwirklichung und Förderung eines CO2-armen Verkehrs im Einklang mit den Zielen der Union im Bereich des Umweltschutzes(42).
64. Soweit jedoch Waren im Langstreckenverkehr betroffen sind, empfiehlt das Weißbuch(43), auf multimodale Lösungen der See- und Binnenschifffahrt sowie des Bahnverkehrs zurückzugreifen. Für den Güterverkehr über kurze und mittlere Entfernungen setzt es sich für die Förderung anderer Verkehrslösungen als den LKW-Verkehr ein, namentlich für die Binnenschifffahrt und den Eisenbahnverkehr. In gleicher Weise geht es, soweit der Ausbau von Seehäfen betroffen ist, davon aus, dass Binnenwasserstraßen, deren Potenzial noch nicht ganz ausgeschöpft ist, eine größere Rolle erhalten müssen, besonders beim Gütertransport in das Hinterland und bei der Verknüpfung der europäischen Meere(44).
65. Im Anschluss an die schriftlichen Erklärungen der belgischen Regierung(45) ist es im Übrigen zweckmäßig zu betonen, dass das Ziel der Förderung nachhaltiger Verkehrsträger und der Verkehrsverlagerung insbesondere auf die Eisenbahn und die Binnenwasserstraßen im Rahmen der Beschleunigung der Fertigstellung des Kernnetzes weiter verfolgt wird. In dieser Hinsicht verweise ich auf die Evaluierung der Verordnung Nr. 1315/2013 für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes(46) und den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Leitlinien der Union für den Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes, zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/1153 und der Verordnung (EU) Nr. 913/2010 und zur Aufhebung der Verordnung (EU) 1315/2013(47). Ich stelle außerdem fest, dass der 11. Erwägungsgrund dieses Entwurfs, der sich in der Lesungsphase im Parlament befindet, auf die Richtlinie 2021/1187 verweist.
66. Folglich ergibt sich aus diesen Erwägungen, ohne dass auf den von Port de Bruxelles(48) geltend gemachten Stillhaltegrundsatz oder den „Sperrklinkeneffekt“ abgestellt werden müsste, dass der Rückbau einer Eisenbahnstrecke, die einen Binnenhafen des Kernnetzes mit der Eisenbahninfrastruktur verbindet, die auch die Voraussetzungen der Nachhaltigkeit in Bezug auf die Umwelt erfüllt, im Grundsatz nicht mit den Vorgaben des Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1315/2013 vereinbar sein kann.
67. Im vorliegenden Fall sollte daher berücksichtigt werden, dass der Hafen von Brüssel als Binnenhafen Teil des Kernnetzes des transeuropäischen Verkehrsnetzes ist(49), dass Brüssel Teil von zwei Korridoren des Kernnetzes sowie von drei vorab festgelegten Abschnitten ist und dass es um den Rückbau der einzigen Eisenbahnstrecke geht, die diesen Hafen mit der Eisenbahnverkehrsinfrastruktur verbindet, die grundsätzlich die Ziele der Effizienz und Nachhaltigkeit erfüllt.
68. Die Ausführungen von Infrabel zur letzten Nutzung der Eisenbahnverbindung im Dezember 2018 und zu ihrem Zustand, aufgrund dessen sie ab dem 1. Januar 2021 außer Betrieb genommen werden müsste, sowie die Erklärungen der Kommission rechtfertigen es jedoch meines Erachtens, konkrete Grenzen für die Anwendung des Grundsatzes der Aufrechterhaltung der bestehenden Infrastrukturen vorzusehen, ohne dabei die seit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1315/2013 bestehende unbedingte Verpflichtung zu ihrer Instandhaltung(50) und das in dieser Verordnung genannte Ziel, die Integration der Binnenwasserstraßen in das Verkehrssystem zu fördern(51), aus den Augen zu verlieren.
69. In dieser Hinsicht könnten Vorbehalte in Bezug auf den Zustand der Verkehrsinfrastruktur, auf ihre wirtschaftliche Lebensfähigkeit oder auf ihre ökologische Nachhaltigkeit im Nachgang zu denjenigen Vorbehalten geäußert werden, denen der europäische Gesetzgeber im 41. Erwägungsgrund dieser Verordnung Ausdruck verliehen hat.
70. Meines Erachtens ist nur das nationale Gericht in der Lage, mit Blick auf die Umstände und in Ansehung des Kontexts, in dem das betroffene Vorhaben beschlossen wurde, zu beurteilen, ob dieses Vorhaben mit der Verordnung, die auf die Förderung und den Ausbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes abzielt, in Einklang steht, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, dass das Vorhaben innerhalb des Kernnetzes verwirklicht werden soll.
71. Da jedoch im vorliegenden Fall vor dem nationalen Gericht für den Rückbau der betreffenden Eisenbahnstrecke die Steigerung des Verkaufswerts der Grundstücke des Standorts Schaerbeek-Formation als Rechtfertigung geltend gemacht wurde, ist es meiner Auffassung nach sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass eine solche Rechtfertigung nicht den Zielen der Verordnung Nr. 1315/2013 entspricht, die namentlich die Aufrechterhaltung der Multimodalität der Güterverkehrsmittel vorschreiben.
72. Meiner Ansicht nach muss die Aufrechterhaltung der bestehenden Eisenbahnverbindung einer sozioökonomischen Analyse unterzogen werden(52), die sich auf eine Gegenüberstellung der Vorteile, die sie bietet, und der Kosten ihrer Sanierung und gegebenenfalls ihres Ersatzes stützt, wobei der Wert der Grundstücke, mit oder ohne Dienstbarkeiten, nicht zu berücksichtigen ist.
73. Aus diesen Gründen bin ich der Ansicht, dass der Rückbau einer Eisenbahnstrecke, die einen Binnenhafen mit Eisenbahnverkehrsinfrastrukturen verbindet, gegen die den Mitgliedstaaten in der Verordnung Nr. 1315/2013 auferlegten Verpflichtungen verstößt, es sei denn, ein solches Vorhaben ist in Anbetracht der Ergebnisse einer Analyse gerechtfertigt, die seine Kosten sowie seine sozialen, wirtschaftlichen, klimatischen und ökologischen Vorteile berücksichtigt, was von der zuständigen nationalen Behörde zu beurteilen ist.
V. Ergebnis
74. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Cour d’appel de Bruxelles (Berufungsgericht Brüssel, Belgien) gestellte Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:
Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1315/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 über die Leitlinien der Union für den Aufbau des transeuropäischen Verkehrsnetzes und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 661/2010/EU ist in Verbindung mit den Art. 4, 5 und Art. 16 Buchst. d dieser Verordnung dahin auszulegen, dass er einer nationalen Maßnahme entgegensteht, die den Rückbau einer Eisenbahnanbindung eines Binnenhafens anordnet, falls diese Maßnahme nicht durch die Ergebnisse einer sozioökonomischen Analyse gerechtfertigt ist, was mit Blick auf die Ziele der Verordnung von der zuständigen nationalen Behörde zu ermitteln ist.