Language of document : ECLI:EU:T:2012:584

Rechtssache T‑137/10

Coordination bruxelloise d’institutions sociales et de santé (CBI)

gegen

Europäische Kommission

„Staatliche Beihilfen – Öffentliche Krankenhäuser – Subventionen der belgischen Behörden zugunsten der öffentlichen Krankenhäuser des IRIS-Verbands – Entscheidung im Anschluss an das Vorverfahren – Entscheidung, mit der die Beihilfen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden – Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – Definition der Gemeinwohlaufgabe – Verhältnismäßigkeit des Ausgleichs für die Gemeinwohldienstleistung“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 7. November 2012

1.      Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Entscheidung der Kommission, mit der ohne Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt wird – Klage von Beteiligten im Sinne von Art. 88 Abs. 2 EG – Klage zur Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten – Zulässigkeit – Klagegründe, die geltend gemacht werden können

(Art. 88 Abs. 2 EG und 230 Abs. 4 EG)

2.      Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Prüfungsphase – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Prüfungsverfahren einzuleiten – Umstände, die das Bestehen besagter Schwierigkeiten belegen können – Unzureichende oder unvollständige Prüfung durch die Kommission im Vorprüfungsverfahren – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

(Art. 88 Abs. 2 und 3 EG)

3.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind – Ausgleich der durch die Gemeinwohlaufgabe entstandenen Kosten – Beurteilung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt – Kriterien – Krankenhaussektor – Berücksichtigung des Fehlens einer kommerziellen Dimension

(Art. 86 Abs. 2 EG)

4.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind – Ausgleich der durch die Gemeinwohlaufgabe entstandenen Kosten – Ermessen der Mitgliedstaaten – Krankenhaussektor – Freiheit bei der Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung – Grenzen – Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei einer Beteiligung privater Wirtschaftsteilnehmer an der Gemeinwohldienstleistung

(Art. 86 Abs. 2 EG und 152 Abs. 5 EG)

5.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind – Definition der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – Ermessen der Mitgliedstaaten – Grenzen – Akt zur Betrauung mit einer Gemeinwohlaufgabe – Wahl der Form

(Art. 86 Abs. 2 EG)

6.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind – Ausgleich der durch die Gemeinwohlaufgabe entstandenen Kosten – Ermessen der Mitgliedstaaten – Grenzen – Kontrolle durch die Kommission – Verpflichtung, jede der durchgeführten Ausgleichsmaßnahmen gesondert zu beurteilen

(Art. 86 Abs. 2 EG und 87 Abs. 1 EG)

7.      Staatliche Beihilfen – Beihilfevorhaben – Prüfung durch die Kommission – Vorprüfungsphase und kontradiktorische Prüfungsphase – Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt – Beurteilungsschwierigkeiten – Verpflichtung der Kommission, das kontradiktorische Prüfungsverfahren einzuleiten – Ernsthafte Schwierigkeiten – Umfang des Prüfungsbereichs und Komplexität des Vorgangs als möglicher Anhaltspunkt für das Bestehen ernsthafter Schwierigkeiten

(Art. 88 Abs. 2 und 3 EG)

8.      Staatliche Beihilfen – Begriff – Maßnahmen zum Ausgleich der Kosten der von einem Unternehmen übernommenen Gemeinwohlaufgaben – Unterscheidung zwischen der Altmark‑Prüfung zur Ermittlung des Vorliegens einer Beihilfe und der Prüfung nach Art. 86 Abs. 2 EG zur Feststellung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt

(Art. 86 Abs. 2 EG und 87 Abs. 1 EG)

9.      Wettbewerb – Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind – Geltung der Vorschriften des Vertrags – Beurteilung der Vereinbarkeit der staatlichen Finanzierung mit dem Gemeinsamen Markt – Beurteilung im Hinblick auf die Kosten des Unternehmens für die Erbringung der Dienstleistung, unabhängig von deren Wirtschaftlichkeit

(Art. 86 Abs. 2 EG)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 58, 59)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 72-77, 164, 233)

3.      Angesichts der besonderen Natur, die den Aufgaben einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in manchen Sektoren zukommt, ist bei der Anwendung des Urteils Altmark und der darin für die Einstufung einer Maßnahme als staatliche Beihilfe genannten Kriterien ein flexibles Vorgehen geboten. Hinsichtlich der Gemeinwohldienstleistung der Krankenhäuser ist bei der Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EG und der im Urteil Altmark herausgearbeiteten Kriterien das Fehlen einer kommerziellen Dimension zu berücksichtigen, wenn ihre Qualifizierung als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eher auf ihre Auswirkungen auf den wettbewerblichen und kommerziellen Sektor zurückgeht.

(vgl. Randnrn. 86, 88)

4.      Die Anwendung von Art. 86 Abs. 2 EG muss im Krankenhaussektor der Wahrung der Verantwortung der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie der Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung Rechnung tragen, wie sich insbesondere aus Art. 152 Abs. 5 EG ergibt. Gemäß diesen Erwägungen organisieren die Mitgliedstaaten ihr nationales Gesundheitssystem nach Maßgabe der von ihnen gewählten Grundsätze und können insbesondere die mit der Gemeinwohldienstleistung der Krankenhäuser zusammenhängenden Verpflichtungen sowohl Verpflichtungen umfassen, die jedem Krankenhaus auferlegt sind, als auch Zusatzverpflichtungen, die nur die öffentlichen Krankenhäuser in Anbetracht ihrer gesteigerten Bedeutung für das reibungslose Funktionieren des nationalen Gesundheitssystems treffen.

Sobald jedoch zu der von einem Mitgliedstaat beschlossenen Organisation des Gesundheitswesens gehört, dass privaten Wirtschaftsteilnehmern Gemeinwohlverpflichtungen auferlegt werden, ist diesem Umstand im Rahmen der Beurteilung von in dem betreffenden Sektor erlassenen Beihilfemaßnahmen Rechnung zu tragen. Insbesondere müssen, wenn an die – öffentlichen und privaten – Einrichtungen, die mit der gleichen Gemeinwohldienstleistung betraut sind, verschiedene Anforderungen gestellt werden, was ein unterschiedliches Niveau der Kosten und des Ausgleichs bedingt, diese Unterschiede klar aus ihren jeweiligen Aufträgen hervorgehen, um namentlich die Überprüfung der Vereinbarkeit der Subvention mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung zu gestatten.

(vgl. Randnrn. 92-95)

5.      Im Wettbewerbsbereich verfügen die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen bei der Definition dessen, was sie als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erachten, und diese Definition kann von der Kommission nur im Fall eines offenkundigen Fehlers in Frage gestellt werden. Der Umfang der Kontrolle, die der Unionsrichter über die Beurteilungen der Kommission in der Frage des Vorliegens einer Gemeinwohlaufgabe ausübt, trägt dieser Einschränkung zwangsläufig Rechnung. Gleichwohl muss mit dieser Kontrolle die Beachtung bestimmter Mindestkriterien überprüft werden, insbesondere das Vorliegen eines Hoheitsakts, der den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern die Aufgabe einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse überträgt, sowie der universale und obligatorische Charakter dieser Aufgabe.

Insoweit kann eine Einrichtung als mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt betraut angesehen werden, wenn sie mehrheitlich aus Vertretern der öffentlichen Gewalt besteht und bei der Beschlussfassung eine Reihe von Kriterien zu beachten hat, die im Allgemeininteresse liegen. Damit also die Entscheidungen einer Einrichtung als hoheitliche Akte qualifiziert werden können, müssen ihre Organe aus Personen bestehen, die mit einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut sind, und die Behörden müssen über eine effektive Befugnis zur Kontrolle der Entscheidungen verfügen.

Was die Wahl der Rechtsform von Akten zur Betrauung von Wirtschaftsteilnehmern betrifft, verfügen die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen, wobei der Auftrag, mit dem die Gemeinwohlaufgabe übertragen wird, in mehreren unterschiedlichen Akten definiert werden kann, und zwar gleichermaßen in denjenigen, die die allgemeine Regelung auf dem betreffenden Gebiet enthalten, wie in denjenigen, die speziell an bestimmte Einrichtungen gerichtet sind. Der Auftrag kann auch einem rechtsgeschäftlichen Akt entsprechen, sofern dieser hoheitlichen Ursprungs und bindend ist. Dies gilt erst recht, wenn ein solcher Akt die gesetzlichen Verpflichtungen konkretisiert.

(vgl. Randnrn. 99-101, 107-109, 111, 112)

6.      Die Parameter, anhand deren der Ausgleich für eine Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betreffende Aufgabe berechnet wird, sind zuvor objektiv und transparent aufzustellen, um zu verhindern, dass der Ausgleich einen wirtschaftlichen Vorteil mit sich bringt, der das Unternehmen, dem er gewährt wird, gegenüber konkurrierenden Unternehmen begünstigen kann. Gleichwohl ist es dem nationalen Gesetzgeber durch nichts untersagt, den nationalen Stellen einen bestimmten Wertungsspielraum zu belassen. Der Mitgliedstaat verfügt im Gegenteil nicht nur bei der Definition einer Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betreffenden Aufgabe über einen weiten Wertungsspielraum, sondern auch bei der Bestimmung des Ausgleichs der mit der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verbundenen Kosten. Die betreffenden Parameter müssen jedoch so genau gefasst sein, dass jeder missbräuchliche Rückgriff des Mitgliedstaats auf den Begriff der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ausgeschlossen ist.

Da es den Mitgliedstaaten insoweit freisteht, welche praktischen Modalitäten sie wählen, um die Einhaltung dieser Voraussetzung sicherzustellen, sofern die Modalitäten der Festsetzung des Ausgleichs objektiv und transparent bleiben, muss die Beurteilung, die die Kommission in dieser Hinsicht vornimmt, auf einer Analyse der konkreten rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen beruhen, in deren Ansehung der Ausgleichsbetrag festgelegt wird.

Greift ein Mitgliedstaat auf mehrere Ausgleichsmaßnahmen zurück, prüft die Kommission die betreffende Beihilfemaßnahme daher unvollständig, wenn sie die Finanzierungsparameter in Bezug auf eine der Maßnahmen nicht gesondert beurteilt. Selbst bei der Annahme, dass es sich um Ausgleichszahlungen handelt, die nur eine erhebliche Verspätung bei den Zahlungen ausgleichen sollen und in der Folge erstattet werden müssen, ist nicht auszuschließen, dass sie den Empfängern einen – wenngleich vorübergehenden – Vorteil verschaffen und damit als gesonderte Ausgleichsmaßnahmen eingestuft werden können.

(vgl. Randnrn. 189, 191, 192, 214, 215)

7.      Auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen können der Umfang des Bereichs, den die Kommission bei der Vorprüfung untersucht, und die Komplexität des betreffenden Vorgangs darauf hindeuten, dass das fragliche Verfahren beträchtlich über das für eine erste Prüfung im Rahmen von Art. 88 Abs. 3 EG Übliche hinausging. Dieser Umstand bildet aber einen stichhaltigen Anhaltspunkt für das Bestehen ernsthafter Schwierigkeiten.

(vgl. Randnr. 285)

8.      Das vierte im Urteil Altmark aufgestellte Kriterium, bei dem es um die Analyse der Kosten im Vergleich zu einem durchschnittlichen, gut geführten und angemessen ausgestatteten Unternehmen geht und das angewandt werden muss, um in dem Fall, dass die Wahl des mit der Erfüllung von Gemeinwohlverpflichtungen betrauten Unternehmens nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, die Höhe des erforderlichen Ausgleichs zu bestimmen und damit das Vorliegen einer etwaigen staatlichen Beihilfe aufzudecken, spielt für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer Beihilfe gemäß Art. 86 Abs. 2 EG keine Rolle.

(vgl. Randnrn. 289, 292)

9.      Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts ist die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens, das behördlich mit der Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut worden ist, für die Beurteilung, ob eine staatliche Beihilfe, die einem solchen Unternehmen gewährt worden ist, im Hinblick auf Art. 86 Abs. 2 EG vereinbar ist, nicht zu berücksichtigen.

Wenn nämlich nach dieser Bestimmung die Verhältnismäßigkeit der gewährten Beihilfe zu prüfen ist, soll dies nur verhindern, dass das Unternehmen in den Genuss einer Finanzierung kommt, die über die Nettokosten hinausgeht, die ihm für die Erbringung der Gemeinwohldienstleistung, mit der es betraut ist, entstehen.

In Ermangelung einer harmonisierten Gemeinschaftsregelung ist die Kommission nicht befugt, sich zum Umfang der Gemeinwohlaufgaben, d. h. zur Höhe der mit der betreffenden Dienstleistung verbundenen Kosten, zur Zweckmäßigkeit der insoweit von den nationalen Stellen getroffenen politischen Entscheidungen oder zur Wirtschaftlichkeit des öffentlichen Betreibers zu äußern.

(vgl. Randnrn. 293, 294, 300)