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Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 21. März 2024(1)

Verbundene Rechtssachen C779/21 P und C799/21 P

Europäische Kommission

gegen

Front populaire pour la libération de la saguia el-hamra et du rio de oro (Front Polisario),

Rat der Europäischen Union (C779/21 P)

und

Rat der Europäischen Union

gegen

Front Populaire pour la libération de la saguia-el-hamra et du rio de oro (Front Polisario) (C799/21 P)

„Rechtsmittel – Assoziationsabkommen Europäische Union-Marokko – Beschluss des Rates über die Genehmigung der Ausdehnung der Zollpräferenzbehandlung auf Waren mit Ursprung in der Westsahara – Urteil vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario (C‑104/16 P, EU:C:2016:973) – ,Zustimmung‘ des Volkes der Westsahara – Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen – Selbstbestimmungsrecht“






I.      Einleitung

1.        Bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zur übrigen Welt muss die Europäische Union das Völkerrecht einschließlich der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen (im Folgenden: VN-Charta) achten(2).

2.        In diesem Kontext hat sich der Gerichtshof mit drei Gruppen von Rechtssachen zu befassen, in denen es darum geht, ob die Unionsorgane bei der Gestaltung der Beziehungen zum Gebiet der Westsahara das Völkerrecht beachtet haben.

3.        Die vorliegende Gruppe von Rechtsmitteln wirft die Frage auf, ob die Union das Selbstbestimmungsrecht und den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen beachtet hat, als sie das Assoziationsabkommen mit dem Königreich Marokko(3) zum Zweck einer Ausdehnung von Zollpräferenzen auf Waren mit Ursprung im Gebiet der Westsahara geändert hat(4).

4.        Im angefochtenen Urteil(5) ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Union diese Regeln des Völkergewohnheitsrechts, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgelegt worden seien(6), nicht beachtet habe. Folglich hat das Gericht den Beschluss (EU) 2019/217(7), mit dem die Änderungen des Assoziierungsabkommens genehmigt wurden, für nichtig erklärt(8). Der Rat und die Kommission fechten dieses Urteil im Rechtsmittelverfahren vor dem Gerichtshof an.

5.        Die vorliegenden Rechtsmittel stehen in direktem Zusammenhang mit einer Gruppe paralleler Rechtsmittel, mit denen die Gültigkeit des Beschlusses des Rates über den Abschluss des partnerschaftlichen Abkommens über nachhaltige Fischerei zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko(9), das die an die Westsahara angrenzenden Gewässer einbezieht, in Frage gestellt wird(10), sowie mit einem Vorabentscheidungsersuchen zur Frage der korrekten Angabe des Ursprungslands von Erzeugnissen mit Ursprung im Gebiet der Westsahara(11). Ich stelle heute meine Schlussanträge in allen diesen Rechtssachen. Sie sollten zusammen geprüft werden.

6.        Wie der geschichtliche Überblick zeigen wird, den ich in den vorliegenden Schlussanträgen unterbreiten werde, der aber auch für meine heute in den beiden anderen Rechtssachen zu stellenden Schlussanträge von Bedeutung ist, ist das Volk der Westsahara in den fast 50 Jahren seit dem Beginn des Prozesses, der zu seiner Selbstbestimmung führen soll, einer Entscheidung über den künftigen Status seines Gebiets nicht näher gekommen.

7.        Auch wenn dies ein klares Scheitern des politischen Prozesses unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen darstellt, bedeutet das nicht, dass die Unionsgerichte mit der Lösung der Westsaharafrage betraut werden können. Diese Gerichte werden nicht über die Zukunft der Westsahara entscheiden.

II.    Hintergrund dieser Verfahren

A.      Kurze Geschichte der Westsaharafrage

8.        Die Westsahara war eine spanische Kolonie. Die Entkolonialisierung des Gebiets begann in den 1960er Jahren, als Spanien dessen Status als Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung („non-self-governing territory“, im Folgenden: NSGT) anerkannte. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen nahm daraufhin die Westsahara in die Liste der NSGT auf(12). Auf dieser Liste steht sie bis heute(13).

9.        1960 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 1541 (XV)(14). Nach dieser Resolution kann ein NSGT die volle Selbstregierung auf drei Arten erreichen: durch 1) Gründung eines souveränen unabhängigen Staates, 2) freie Assoziation mit einem unabhängigen Staat oder 3) Eingliederung in einen unabhängigen Staat(15).

10.      1966 bekräftigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Selbstbestimmungsrecht des Volkes der Westsahara und forderte Spanien auf, die Ausübung dieses Rechts zu ermöglichen und zu organisieren(16), was Spanien durch ein Referendum zu ermöglichen beschloss.

11.      Der Front Polisario(17), eine 1973 gegründete Antikolonialbewegung(18), unterstützte die Idee eines Referendums.

12.      Das Königreich Marokko widersprach jedoch der Ansicht, dass die Entkolonialisierung mittels eines Referendums über die Selbstbestimmung erfolgen sollte. Vor der Kolonisierung der Westsahara durch Spanien habe das (heutige) Königreich Marokko die Souveränität über dieses Gebiet gehabt. Das Königreich Marokko war daher der Ansicht, dass die Westsahara für die Dauer des Entkolonialisierungsprozesses wieder in das Hoheitsgebiet des Königreichs Marokko eingegliedert werden sollte(19). Daran hält es bis heute fest.

13.      Die vorstehend genannten entgegengesetzten Standpunkte zu der Frage, wer einen berechtigten Anspruch auf das Gebiet der Westsahara habe, führten zu dem von der Generalversammlung der Vereinten Nationen erbetenen Gutachten über die Westsahara(20).

14.      In diesem Gutachten erkannte der Internationale Gerichtshof (im Folgenden: IGH) der Bevölkerung der Westsahara das Selbstbestimmungsrecht zu(21). Er stellte außerdem fest, dass „nach den ihm vorgelegten Unterlagen und den ihm erteilten Auskünften zwischen dem Gebiet der Westsahara und dem Königreich Marokko bzw. der mauretanischen Einheit kein Verhältnis einer territorialen Souveränität bestand. Der IGH hat also nicht das Vorliegen von Rechtsbeziehungen festgestellt, die geeignet wären, die Anwendung der Resolution 1514 (XV) [der Generalversammlung der Vereinten Nationen] auf die Entkolonialisierung der Westsahara, insbesondere die Anwendung des Grundsatzes der Selbstbestimmung auf der Basis eines frei und unverfälscht geäußerten Willens der Bevölkerung des Gebiets, zu ändern“(22).

15.      1975 rief König Hassan II., der das Gutachten des IGH so verstand, dass darin das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung der Westsahara nicht bekräftigt, sondern die historische Souveränität des Königreichs Marokko über dieses Gebiet bestätigt werde(23), die marokkanischen Bürger zu einem „grünen Marsch“ auf, in dessen Verlauf sich rund 350 000 Menschen in das Gebiet der Westsahara begaben, um das Hoheitsrecht des Königreichs Marokko über das Gebiet zu manifestieren. Daraufhin forderte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Königreich Marokko auf, den Marsch unverzüglich zu beenden(24).

16.      Ungefähr zur gleichen Zeit unterzeichneten Spanien, das Königreich Marokko und die Islamische Republik Mauretanien die Grundsatzerklärung über die Westsahara (auch bekannt als „Verträge von Madrid“)(25), mit der das Gebiet der Westsahara zwischen den beiden letztgenannten Staaten aufgeteilt wurde. Kurz darauf rückte die marokkanische Armee im Januar 1976 in das Gebiet der Westsahara ein.

17.      Am 26. Februar 1976 teilte Spanien dem Generalsekretär der Vereinten Nationen mit, dass es seine Präsenz in der Westsahara beendet und auf seine Position als Verwaltungsmacht gemäß Art. 73 der VN-Charta(26) verzichtet habe.

18.      Am Tag nach dem Abzug Spaniens aus der Westsahara erklärte der Front Polisario die Gründung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (im Folgenden: DARS)(27). Der Regierungssitz der DARS befindet sich in einem Flüchtlingslager der Saharaui in Tindouf (Algerien).

19.      Heute ist die DARS von 47 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen anerkannt(28), aber weder von der Union noch von einem ihrer Mitgliedstaaten.

20.      Nach dem Einmarsch des Königreichs Marokko in das Gebiet der Westsahara – und bis September 1991, als ein Waffenstillstand vereinbart wurde – bestand ein bewaffneter Konflikt zwischen dem Königreich Marokko und dem Front Polisario. Dies hatte mehr als 100 000 Flüchtlinge aus der Westsahara zur Folge, von denen die meisten nun in Flüchtlingslagern in Algerien leben(29).

21.      Der Waffenstillstand von 1991 eröffnete die Möglichkeit, den politischen Dialog über die Lösung der Westsaharafrage zu erneuern. Da jedoch keine Lösung gefunden wurde, brachen 2020 erneut Kampfhandlungen aus.

22.      Seit den 1970er Jahren waren die Vereinten Nationen damit beschäftigt, eine Lösung für die Entkolonialisierung der Westsahara zu finden. Damals brachte die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Idee auf, ein Referendum zu veranstalten, mit dem das Volk der Westsahara seine Wünsche hinsichtlich der Zukunft dieses Gebiets zum Ausdruck bringen könnte. Die Idee eines Referendums über die Selbstbestimmung wurde in dem Entwurf eines Vergleichs erneuert, der von dem Front Polisario und dem Königreich Marokko „grundsätzlich“ gebilligt wurde und dem Waffenstillstand von 1991 vorausging.

23.      Um u. a. den Waffenstillstand zu überwachen und zur Organisation dieses Referendums beizutragen, richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im April 1991 die Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in der Westsahara (im Folgenden: MINURSO) ein(30), deren Mandat jährlich verlängert wird und bis heute besteht(31). Trotz zusätzlicher Initiativen(32) und der Fertigstellung der Liste der bei einem Referendum stimmberechtigten Personen durch die MINURSO ist bis heute kein Referendum abgehalten worden.

24.      Neben den Vereinten Nationen beschäftigte sich auch die Afrikanische Union (und ihre Vorgängerin, die Organisation für Afrikanische Einheit) damit, eine Lösung für die Westsaharafrage zu finden. Sie unterstützte das Recht des saharauischen Volkes auf Selbstbestimmung. 1984 wurde die DARS als Mitglied in die Organisation der Afrikanischen Einheit aufgenommen, was dazu führte, dass das Königreich Marokko unter Protest aus dieser Organisation austrat. Im Januar 2017 beantragte das Königreich Marokko seinen Beitritt und wurde wieder in die Afrikanische Union aufgenommen(33).

25.      2006 vertrat der Generalsekretär der Vereinten Nationen die Auffassung, dass die Parteien „einen Kompromiss zwischen der internationalen Rechtmäßigkeit und der politischen Realität“ finden müssten, was nur durch direkte Verhandlungen zu erreichen sei(34).

26.      2007 schlugen sowohl der Front Polisario als auch das Königreich Marokko Pläne für eine Lösung der Westsaharafrage vor. Der Front Polisario hielt an seinem Standpunkt fest, dass das Selbstbestimmungsrecht die Abhaltung eines Referendums erfordere. Das Königreich Marokko schlug einen Plan vor, der der Westsahara Autonomie unter marokkanischer Souveränität bietet(35).

27.      Aus dem Schrifttum ergibt sich der Eindruck, dass der Autonomieplan des Königreichs Marokko von 2007 seit 2018 zunehmend Unterstützung erfährt(36). Ebenso scheint sich die Rhetorik in den Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geändert zu haben(37). So wird seit 2018 in den Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur Westsahara die Notwendigkeit betont, „auf der Grundlage eines Kompromisses zu einer realistischen, praktikablen, nachhaltigen und für beide Seiten annehmbaren politischen Lösung der Westsaharafrage zu gelangen“(38).

28.      Gleichzeitig wird in den jüngsten Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wiederholt, dass jede politische Lösung „die Selbstbestimmung des Volkes der Westsahara im Rahmen von Vereinbarungen, die mit den Grundsätzen und Zielen der [VN‑]Charta im Einklang stehen“, vorsehen muss(39).

B.      Zur Erheblichkeit der Urteile Rat/Front Polisario und Western Sahara Campaign UK

29.      Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten begründeten mit dem Königreich Marokko auf der Grundlage eines 1996 geschlossenen Assoziationsabkommens eine Europa-Mittelmeer-Partnerschaft.

30.      Im Rahmen dieses Assoziationsabkommens schlossen die Europäische Union und das Königreich Marokko eine Reihe von Abkommen, darunter das Abkommen zur Liberalisierung des Handels von 2012(40) und das partnerschaftliche Fischereiabkommen von 2006(41).

31.      Der Front Polisario erhob Klage auf Nichtigerklärung des Abkommens zur Liberalisierung des Handels von 2012, die zum Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Rat/Front Polisario führte.

32.      Im ersten Rechtszug bejahte das Gericht die Klagebefugnis des Front Polisario und erklärte den Beschluss des Rates zum Abschluss des Abkommens zur Liberalisierung des Handels von 2012 mit der Begründung für nichtig, dass der Rat es versäumt habe, sich davon zu überzeugen, dass die Produktion der in die Union ausgeführten Waren mit Ursprung in der Westsahara nicht in einer für die Bevölkerung dieses Gebiets nachteiligen Weise erfolgt sei(42).

33.      Im Rechtsmittelverfahren ging der Gerichtshof im Urteil Rat/Front Polisario weder auf die Zulässigkeit der Klage des Front Polisario noch auf das Ergebnis des Gerichts in der Sache ein. Vielmehr gelangte er bei der Auslegung des Ausdrucks „das Königreich Marokko“, mit dem das Gebiet bezeichnet wurde, auf das das Abkommen zur Liberalisierung des Handels von 2012 Anwendung fand, zu dem Ergebnis, dass dieses Abkommen auf das Gebiet der Westsahara keine Anwendung findet(43). Aus diesem Grund wurde die Klage des Front Polisario als unzulässig abgewiesen(44).

34.      In Rn. 106 seines Urteils Rat/Front Polisario stellte der Gerichtshof fest, dass „das Volk der Westsahara … als ,Dritter‘ im Sinne des Grundsatzes der relativen Wirkung von Verträgen anzusehen [ist]“. Es muss daher der Anwendung des Abkommens zur Liberalisierung des Handels von 2012 auf die Westsahara zustimmen, „ohne dass ermittelt werden müsste, ob [dies ihm] schaden oder vielmehr nützen könnte“.

35.      Im Urteil Western Sahara Campaign UK wurde ähnlich argumentiert. Darin hat der Gerichtshof befunden, dass das partnerschaftliche Fischereiabkommen von 2006, das ebenfalls Teil der durch das Assoziationsabkommen mit Marokko geschaffenen Struktur ist(45), nicht das Gebiet der Westsahara oder die angrenzenden Gewässer einbezieht, da der Begriff „Königreich Marokko“ nicht das Gebiet der Westsahara umfasst(46). Der Gerichtshof ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass es gegen das Selbstbestimmungsrecht und den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen verstieße, wenn dieses Abkommen dahin ausgelegt würde, dass es auf die Westsahara Anwendung findet.

C.      Streitiges Abkommen und angefochtener Beschluss

36.      Nach dem Urteil Rat/Front Polisario ermächtigte der Rat die Kommission, „mit dem Königreich Marokko Verhandlungen im Hinblick auf die im Einklang mit dem Urteil des Gerichtshofs erfolgende Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Gewährung der im Rahmen des Assoziationsabkommens vorgesehenen Zollpräferenzen für Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara aufzunehmen“(47).

37.      Im angefochtenen Beschluss wurden die Gründe für den Abschluss der neuen Vereinbarung wie folgt erläutert:

„(4)      Seit dem Inkrafttreten des Assoziationsabkommens wurden aus der Westsahara stammende Erzeugnisse mit marokkanischem Ursprungszeugnis unter Inanspruchnahme der in den einschlägigen Bestimmungen dieses Abkommens vorgesehenen Zollpräferenzen in die Union eingeführt.

(5)      [Im Urteil Rat/Front Polisario] hat der Gerichtshof jedoch klargestellt, dass das Assoziationsabkommen nur für das Gebiet des Königreichs Marokko und nicht für die Westsahara, ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung, gilt.

(6)      Es muss dafür gesorgt werden, dass die Handelsströme, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben, nicht gestört werden, wobei gleichzeitig angemessene Garantien für den Schutz des internationalen Rechts, einschließlich der Menschenrechte, und die nachhaltige Entwicklung der betroffenen Gebiete vorgesehen werden. Der Rat hat die Kommission am 29. Mai 2017 ermächtigt, mit dem Königreich Marokko Verhandlungen im Hinblick auf die im Einklang mit dem Urteil des Gerichtshofs erfolgende Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Gewährung der im Rahmen des Assoziationsabkommens vorgesehenen Zollpräferenzen für Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara aufzunehmen. Ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko ist das einzige Mittel, um sicherzustellen, dass bei der Einfuhr von Erzeugnissen mit Ursprung in der Westsahara ein präferenzieller Ursprung gewährt wird, da die marokkanischen Behörden als einzige dafür sorgen können, dass die für die Gewährung solcher Präferenzen erforderlichen Vorschriften eingehalten werden.“(48)

38.      Das in Rede stehende Abkommen wurde am 25. Oktober 2018 in Form eines Briefwechsels geschlossen. Mit ihm wird in das Assoziationsabkommen eine gemeinsame Erklärung eingefügt, die die Zollpräferenzbehandlung auf Erzeugnisse aus dem Gebiet der Westsahara ausdehnt.

39.      Die Gemeinsame Erklärung sieht Folgendes vor:

„1.      Für Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara, die der Kontrolle der Zollbehörden des Königreichs Marokko unterliegen, gelten die gleichen Handelspräferenzen wie die, die von der Europäischen Union für unter das Assoziationsabkommen fallende Erzeugnisse gewährt werden.

2.      Das Protokoll Nr. 4 gilt sinngemäß für die Zwecke der Bestimmung der Ursprungseigenschaft der in Absatz 1 genannten Erzeugnisse, auch in Bezug auf die Ursprungsnachweise.

3.      Die Zollbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und de[s] Königreich[s] Marokko sind damit betraut, die Anwendung des Protokolls Nr. 4 auf diese Erzeugnisse sicherzustellen.“(49)

40.      In den Schreiben sowohl der Union als auch des Königreichs Marokko, die Teil des streitigen Abkommens sind, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Abkommen „unbeschadet der Standpunkte der Europäischen Union bzw. des Königreichs Marokko zum Status der Westsahara [gilt]“.

41.      In den Schreiben wird außerdem wiederholt, dass die „beiden Vertragsparteien … ihre Unterstützung für den Prozess im Rahmen der Vereinten Nationen [bekräftigen] und … die Bemühungen des Generalsekretärs um eine endgültige politische Lösung im Einklang mit den Grundsätzen und Zielen der [VN‑]Charta und auf der Grundlage der Resolutionen des Sicherheitsrates [unterstützen]“.

42.      Das streitige Abkommen wurde von der Union mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt.

43.      Als Reaktion auf Rn. 106 des Urteils Rat/Front Polisario enthalten die Erwägungsgründe 7 bis 10 des angefochtenen Beschlusses folgende Erläuterung:

„(7)      Die Kommission hat die möglichen Auswirkungen eines solchen Abkommens auf die nachhaltige Entwicklung bewertet, insbesondere im Hinblick auf die Vor- und Nachteile, die sich durch die für die Erzeugnisse der Westsahara gewährten Zollpräferenzen für die betroffene Bevölkerung ergeben, sowie die Auswirkungen auf die Nutzung der natürlichen Ressourcen der betroffenen Gebiete. Die Auswirkungen der zolltariflichen Vorteile auf die Beschäftigung, die Menschenrechte und die Nutzung der natürlichen Ressourcen sind sehr schwer zu bemessen, da sie indirekter Natur sind. Es ist außerdem nicht einfach, hierzu objektive Informationen zu erlangen.

(8)      Gleichwohl ergibt sich aus dieser Bewertung, dass die Vorteile für die Wirtschaft in der Westsahara, die sich durch die Gewährung der im Rahmen des Assoziationsabkommens vorgesehenen Zollpräferenzen für Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara ergeben, insbesondere die starke wirtschaftliche Hebelwirkung und die damit verbundene soziale Entwicklung, die im Rahmen der Konsultationen genannten Nachteile – darunter die extensive Nutzung der natürlichen Ressourcen und insbesondere der Grundwasserreserven, für die bereits Maßnahmen getroffen werden – insgesamt überwiegen.

(9)      Es wurde die Auffassung vertreten, dass die Ausdehnung der Zollpräferenzen auf Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara insgesamt positive Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung haben [wird]. Es ist wahrscheinlich, dass sich diese Auswirkungen fortsetzen und künftig sogar potenziell verstärken dürften. Die Bewertung zeigt, dass die Ausdehnung der Zollpräferenzen auf Erzeugnisse der Westsahara Investitionsbedingungen und einen raschen und deutlichen Aufschwung fördern kann, der sich positiv auf die Beschäftigung vor Ort auswirken wird. Da in der Westsahara Wirtschaftsteilnehmer und Herstellungsbetriebe tätig sind, die das größte Interesse daran hätten, die im Assoziationsabkommen vorgesehenen Zollpräferenzen in Anspruch zu nehmen, würde eine Nichtgewährung der Zollpräferenzen die Ausfuhren aus der Westsahara, insbesondere von Fischereierzeugnissen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen, erheblich beeinträchtigen. Es wird davon ausgegangen, dass die Gewährung von Zollpräferenzen auch positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Westsahara haben dürfte, da durch sie Investitionen angeregt werden.

(10)      Unter Berücksichtigung der Erwägungen über die Zustimmung im Urteil des Gerichtshofs hat die Kommission gemeinsam mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst [(EAD)] alle im aktuellen Kontext sinnvollen und möglichen Maßnahmen zur angemessenen Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung getroffen, um sich deren Zustimmung zum Abkommen zu vergewissern. Es wurde ein breites Spektrum an Konsultationen durchgeführt und die sozialen, ökonomischen und politischen Akteure, die an den Konsultationen teilgenommen haben, sprachen sich mehrheitlich für die Ausdehnung der Zollpräferenzen des Assoziationsabkommens auf die Westsahara aus. Diejenigen, die diese Ausdehnung abgelehnt haben, waren im Wesentlichen der Auffassung, dass ein solches Abkommen den Standpunkt Marokkos bezüglich des Gebiets der Westsahara bekräftige. In den Bestimmungen des Abkommens lässt jedoch nichts darauf schließen, dass mit ihm die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkannt würde. Darüber hinaus wird die Union ihre Anstrengungen zur Unterstützung des unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen eingeleiteten und fortgesetzten Prozesses der friedlichen Beilegung der Streitigkeiten verstärken.“

D.      Angefochtenes Urteil

44.      Am 27. April 2019 erhob der Front Polisario Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses.

45.      Am 29. September 2021 erließ das Gericht das angefochtene Urteil, mit dem es den angefochtenen Beschluss für nichtig erklärte(50).

46.      Hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage hat das Gericht die beiden hauptsächlichen Gründe des Rates für die Unzulässigkeit zurückgewiesen, die sich auf die Parteifähigkeit des Front Polisario und seine Klagebefugnis in Bezug auf den angefochtenen Beschluss bezogen(51).

47.      Was die Begründetheit der Klage betrifft, hat das Gericht den ersten Nichtigkeitsgrund des Front Polisario zurückgewiesen, mit dem die fehlende Befugnis des Rates zum Erlass des angefochtenen Beschlusses gerügt wurde(52). Dagegen hat es dem dritten Nichtigkeitsgrund des Front Polisario stattgegeben, der sich auf die Verpflichtung des Rates bezog, die sich aus der Rechtsprechung zum Selbstbestimmungsrecht und zum Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen ergebenden Anforderungen zu beachten(53). Die übrigen vom Front Polisario geltend gemachten Nichtigkeitsgründe hat das Gericht nicht geprüft.

E.      Verfahren vor dem Gerichtshof

48.      Mit Rechtsmitteln, die am 14. Dezember 2021 und am 16. Dezember 2021 eingegangen sind, beantragen die Kommission und der Rat, der Gerichtshof möge das angefochtene Urteil in vollem Umfang aufheben, über die aufgeworfenen Fragen selbst entscheiden, die Klage abweisen und dem Front Polisario die Kosten auferlegen. Hilfsweise ersuchen sie den Gerichtshof, die Wirkungen des angefochtenen Beschlusses für einen Zeitraum von zwölf Monaten ab Verkündung seines Urteils aufrechtzuerhalten.

49.      Diese Rechtsmittel werden von der Confédération marocaine de l’agriculture et du développement rural sowie von der belgischen, der spanischen, der französischen, der ungarischen, der portugiesischen und der slowakischen Regierung unterstützt.

50.      Am 23. und 24. Oktober 2023 hat eine Sitzung stattgefunden, in der die Kommission, der Rat, der Front Polisario, die Confédération marocaine de l’agriculture et du développement rural sowie die belgische, die französische, die spanische und die ungarische Regierung mündlich verhandelt haben.

III. Würdigung

A.      Zur Auslegung des Völkerrechts

51.      Im Vergleich zur Unionsrechtsordnung oder zu den Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten ist das Völkerrecht ein weniger kompaktes und, was die Sicherstellung der einheitlichen Bedeutung seiner Vorschriften betrifft, sehr viel dezentraleres System.

52.      Auch wenn das Völkerrecht über ein eigenes System von Rechtsquellen(54) und einige allgemein anerkannte Auslegungsregeln(55) verfügt, fehlt es an einer Stelle, deren Auslegungen alle binden, die Teil des Systems sind(56).

53.      Die Organe der Union, die Unionsgerichte eingeschlossen, sind in dieser Hinsicht bei der Auslegung des Inhalts der Regeln des Völkergewohnheitsrechts, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind, nicht durch die verschiedenen Auslegungen derselben Regel durch andere Völkerrechtssubjekte beschränkt(57).

54.      Gleichwohl muss der Gerichtshof bei der Auslegung der Bedeutung des Völkerrechts für die Zwecke der Unionsrechtsordnung feststellen, ob auf Völkerrechtsebene ein gewisser Grad an Konsens über die Bedeutung einer bestimmten Regel erreicht wurde. Dies ergibt sich meines Erachtens aus der in Art. 3 Abs. 5 EUV vorgesehenen Verpflichtung der Union, zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts beizutragen.

55.      Ebenso wie die Unionsorgane nicht an die Auslegung des Völkerrechts durch andere Völkerrechtssubjekte gebunden sind, ist die Auslegung einer völkerrechtlichen Regel durch den Gerichtshof nur innerhalb der Unionsrechtsordnung bindend. Gleichwohl ist es wichtig, dass der Gerichtshof, wenn er die Bedeutung einer völkerrechtlichen Regel ermittelt, im Auge behält, dass seine Auslegung Auswirkungen auf völkerrechtlicher Ebene hat und zur Entstehung von Brauch sowie zur Herausarbeitung seiner Bedeutung beiträgt(58).

56.      Die Auslegung des Völkerrechts innerhalb der Unionsrechtsordnung wirft auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Unionsgerichten und den politischen Organen der Union auf, wenn durch Auslegung zu bestimmen ist, welche Verpflichtungen das Völkerrecht der Europäischen Union auferlegt.

57.      In der Außenpolitik der Union verfügen die politischen Organe der Union über ein weites Ermessen(59). Der Beschluss, ein internationales Abkommen mit einem anderen Staat zu schließen, einschließlich des Beschlusses, die Anwendung des Abkommens möglicherweise auf ein Drittgebiet auszudehnen, fällt in dieses Ermessen. Der Gerichtshof kann diese Entscheidung nicht in Frage stellen.

58.      Wird jedoch eine politische Entscheidung über die Begründung von Beziehungen zu einem Drittstaat oder Drittgebiet getroffen, ist der Gerichtshof nicht nur befugt, die Vereinbarkeit der auswärtigen Beziehungen der Union mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des EU‑Vertrags und des AEU‑Vertrags zu prüfen, sondern auch verpflichtet, dies zu tun(60).

59.      Wie der Gerichtshof im Urteil Air Transport Association of America u. a. ausgeführt hat, leistet „[n]ach Art. 3 Abs. 5 EUV … die Union einen Beitrag zur strikten Einhaltung und zur Weiterentwicklung des Völkerrechts. Beim Erlass eines Rechtsakts ist sie also verpflichtet, das gesamte Völkerrecht zu beachten, auch das die Organe der Union bindende Völkergewohnheitsrecht“(61).

60.      Im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Aufgabe, die Rechtsstaatlichkeit in der Union zu gewährleisten, hat der Gerichtshof daher zu beurteilen, ob die Unionsorgane mit dem Abschluss einer internationalen Übereinkunft die Rechte verletzt haben, die die Regeln des Völkergewohnheitsrechts den Völkerrechtssubjekten verleihen.

61.      Dies verlangt, dass der Gerichtshof den Inhalt der einschlägigen gewohnheitsrechtlichen Regeln auslegt. In einer Situation, in der es eine einheitliche opinio iuris in Bezug auf das Bestehen einer rechtlichen Verpflichtung (wie der Verpflichtung, das Selbstbestimmungsrecht eines NSGT anzuerkennen) gibt, nicht aber in Bezug auf dessen genauen Inhalt, gebietet das Ermessen, über das die politischen Organe der Union in den Außenbeziehungen verfügen, dass sich der Gerichtshof der von diesen Organen gewählten Auslegung beugt.

B.      Gegenstand der vorliegenden Rechtsmittel und Aufbau der vorliegenden Schlussanträge

62.      Bei der Frage, über die der Gerichtshof in diesen Rechtsmittelverfahren zu befinden hat, geht es im Wesentlichen um Folgendes: Ist mit dem angefochtenen Beschluss der Abschluss eines Abkommens mit dem Königreich Marokko genehmigt worden, das unter Verstoß gegen das Völkergewohnheitsrecht, genauer gegen das Recht auf Selbstbestimmung und den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen, wie sie vom Gerichtshof in den Urteilen Rat/Front Polisario und Western Sahara Campaign UK ausgelegt wurden, das Gebiet der Westsahara einbezieht(62)?

63.      Bei der Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, im Gedächtnis zu behalten, dass sich das Rechtsmittel nicht darauf bezieht, ob die Union Beziehungen zum Gebiet der Westsahara begründen kann(63); die Ausführungen des Gerichts hierzu sind nicht mit einem Anschlussrechtsmittel angefochten worden(64).

64.      Vor dem Gerichtshof geht es daher nur um die Feststellungen, die das Gericht im Rahmen seiner Prüfung des dritten Klagegrundes des Front Polisario getroffen hat. Insoweit hat das Gericht festgestellt, dass der streitige Beschluss gegen das Selbstbestimmungsrecht und den Grundsatz der relativen Wirkungen von Verträgen verstoße, wie der Gerichtshof diese Rechtsregeln im Urteil Rat/Front Polisario ausgelegt habe. Andere Aspekte in Bezug auf diese Rechtsregeln wurden in der ursprünglichen Klage gesondert angesprochen, aber das Gericht hat sie nicht aufgegriffen, da es der Ansicht war, dass die Klage nach dem dritten Klagegrund begründet sei(65).

65.      Die vorliegenden Rechtsmittel ermöglichen es dem Gerichtshof daher nicht, über das, worum es im Urteil Rat/Front Polisario ging, hinaus eine Auslegung dazu zu geben, in welcher Weise das Selbstbestimmungsrecht für die Beziehungen zwischen der Union und Marokko in Bezug auf die Westsahara maßgebend ist.

66.      Da einige der mit den Rechtsmitteln aufgeworfenen Fragen in engem Zusammenhang mit diesen Fragen stehen, die beim Gericht noch anhängig sind(66), werde ich sie dennoch ebenfalls kurz erörtern.

67.      Meine Prüfung ist wie folgt gegliedert. Ich werde zunächst erläutern, weshalb der Front Polisario meines Erachtens vorliegend klagebefugt ist (Abschnitt C). In der Sache werde ich sodann darlegen, dass das Gericht rechtsfehlerhaft dem dritten Klagegrund des Front Polisario stattgegeben hat (Abschnitt D). Hierfür werde ich als Erstes die Urteile Rat/Front Polisario und Western Sahara Campaign UK auslegen, um klarzustellen, welche Bestandteile dieser Urteile für die vorliegende Serie von Rechtsmitteln relevant sind (Unterabschnitt D.1). Als Zweites werde ich erläutern, weshalb die Feststellung des Gerichts, dass keine Zustimmung im Sinne der relativen Wirkung von Verträgen vorliege, falsch ist und weshalb das Gericht daher unzutreffend angenommen hat, dass der angefochtene Beschluss gegen das Völkerrecht verstoße, wie es im Urteil Rat/Front Polisario ausgelegt worden sei (Unterabschnitt D.2). Im Anschluss daran werde ich prüfen, ob das Gebiet der Westsahara beim Abschluss des streitigen Abkommens durch den Rat als ein gesondertes und unterschiedliches Gebiet behandelt worden ist, entsprechend der vom Gerichtshof im Urteil Rat/Front Polisario in Bezug auf dieses Gebiet vorgenommenen Auslegung des Inhalts des Selbstbestimmungsrechts (Unterabschnitt D.3). Zuletzt werde ich kurz auf die sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebenden Verpflichtungen eingehen, die im angefochtenen Urteil nicht angesprochen worden sind, durch die die Union gleichwohl in ihren Beziehungen mit dem Gebiet der Westsahara gebunden ist (Abschnitt E), bevor ich mich abschließend zu den Folgen meiner Schlussanträge äußere (Teil IV).

C.      Zulässigkeit und Möglichkeit einer Berufung auf das Völkergewohnheitsrecht vor den Unionsgerichten

1.      Klagebefugnis

68.      Meines Erachtens lässt sich das Recht des Front Polisario, in der vorliegenden Rechtssache Nichtigkeitsklage zu erheben, aus dem rechtlichen Status ableiten, den das Volk der Westsahara nach dem für die Union verbindlichen Teil des Völkerrechts hat. Dieses Volk kann geltend machen, von der angefochtenen Entscheidung unmittelbar und individuell betroffen zu sein.

69.      Das Volk der Westsahara hat das Recht auf Selbstbestimmung, das vom Gerichtshof als ein Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts, der für die Union verbindliche Verpflichtungen begründet, anerkannt wurde (67).

70.      Dieses Recht besteht, wie das Gericht sinngemäß erläutert hat(68), selbst ohne und vor seiner wirksamen Wahrnehmung. Sein Zweck besteht u. a. darin, es diesem Volk zu ermöglichen, seine politische Zukunft zu wählen.

71.      Da das Volk der Westsahara nach dem Völkerrecht im Besitz von Rechten ist, verfügt es nach diesem Recht insoweit über eine (zumindest abgeleitete Art von) Rechtspersönlichkeit(69).

72.      Im Urteil Venezuela/Rat (Beeinträchtigung eines Drittstaats)(70) hat der Gerichtshof bekräftigt, dass Einrichtungen, die nach dem Völkerrecht Rechtspersönlichkeit besitzen, vor den Unionsgerichten klagebefugt sein können, wenn sie von einer Handlung der Unionsorgane unmittelbar und individuell betroffen sind(71).

73.      Dies führt mich zu den Erfordernissen für eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit, wie sie sich aus Art. 263 Abs. 4 AEUV ergeben.

74.      Als eine kollektive Einheit und damit als eine selbstbestimmende Einheit ist das Volk der Westsahara von dem angefochtenen Beschluss unmittelbar betroffen(72).

75.      Erstens betrifft dieser Beschluss ein Gebiet, hinsichtlich dessen das Volk der Westsahara das Selbstbestimmungsrecht hat. Er berührt daher zwangsläufig Rechte, die dieses Volk in Bezug auf dieses Gebiet hat, einschließlich des Rechts, sich seiner natürlichen Ressourcen zu erfreuen. Der angefochtene Beschluss berührt somit die Rechtsstellung des Volkes der Westsahara.

76.      Zweitens bindet die Verpflichtung, Erzeugnissen mit Ursprung in der Westsahara eine Präferenzbehandlung zu gewähren, die Union, ohne dass es über den angefochtenen Beschluss hinaus irgendeiner willkürlichen Handlung bedürfte. Der angefochtene Beschluss berührt die Rechtsstellung des Volkes der Westsahara somit auch unmittelbar.

77.      Dieses Volk ist von der angefochtenen Entscheidung auch individuell betroffen.

78.      Es hat als einziges Volk in Bezug auf das Gebiet der Westsahara das Recht auf Selbstbestimmung(73). Daher unterscheidet es sich in dieser Hinsicht von jedem anderen Rechtssubjekt.

79.      Anders als Venezuela oder irgendein anderer Staat, der vor dem Gerichtshof als klagebefugt anerkannt werden könnte, hat das Volk der Westsahara jedoch keinen gewählten oder anderweitig anerkannten Vertreter(74).

80.      Wie kann dieses Volk ohne gewählten oder kollektiv anerkannten Vertreter sein kollektives Selbstbestimmungsrecht vor den Unionsgerichten verteidigen(75)?

81.      Der Front Polisario ist von der UNO(76) oder der Union nicht als „der“ Vertreter des Volkes der Westsahara anerkannt(77).

82.      Der Front Polisario ist eine selbst ernannte Befreiungsbewegung(78), die entstanden ist, um für eine bestimmte Art von künftigem Modell für die Regierung des Gebiets der Westsahara zu kämpfen: für das Modell der Unabhängigkeit dieses Gebiets vom Königreich Marokko sowie der Gründung eines souveränen und selbständigen Saharauischen Staates(79).

83.      Er wurde jedoch nie vom Volk der Westsahara für diese Rolle gewählt, und es lässt sich auch nicht mit irgendeinem Grad an Sicherheit feststellen, dass der Front Polisario die (mehrheitliche) Unterstützung dieses Volkes hat(80).

84.      Wie ich in Nr. 9 der vorliegenden Schlussanträge erläutert habe, kann die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu dreierlei Ergebnissen führen, wobei die Bildung eines unabhängigen Staates nur eines dieser drei Ergebnisse ist. Die Anerkennung des Front Polisario als „der“ Vertreter des Volkes der Westsahara stünde daher nicht im Einklang mit dem neutralen Standpunkt der Union in Bezug auf den Ausgang des Selbstbestimmungsprozesses(81).

85.      Diese Art von Anerkennung ist auch keine Option für den Gerichtshof, da sie der außenpolitischen Entscheidung der Union und der Mitgliedstaaten, dem Front Polisario keinen besonderen Status zuzuerkennen(82), zuwiderliefe.

86.      Auch wenn es sich nicht um einen Alleinvertreter handelt, lässt sich gleichwohl nicht leugnen, dass der Front Polisario ein Ansprechpartner in dem unter der Schirmherrschaft der UNO stehenden Prozess der Selbstbestimmung des Gebiets der Westsahara ist und dass bei ihm im Rahmen dieses Prozesses davon ausgegangen werden kann, dass er die Interessen und Wünsche (zumindest) eines Teils der Bevölkerung der Westsahara widerspiegelt.

87.      Außerdem hält der Front Polisario 20 % des Gebiets der Westsahara und übt somit eine wirksame Kontrolle über dieses Gebiet und die dortige Bevölkerung aus(83). Er hat daher ein Interesse daran, die territoriale Integrität des Gebiets der Westsahara, wie sie durch das Selbstbestimmungsrecht des Volkes dieses Gebiets gewährleistet wird, zu verteidigen(84).

88.      Daraus folgt meines Erachtens, dass dem Front Polisario, sofern er bei den Unionsgerichten Klage erhebt, um sicherzustellen, dass die Beziehungen der Union mit dem Gebiet der Westsahara nicht mit den Rechten kollidieren, die dem Volk der Westsahara nach dem Völkergewohnheitsrecht zustehen, der Status eines zumindest teilweisen Vertreters dieses Volkes zuzuerkennen ist(85).

89.      Anderenfalls würde dem Volk der Westsahara, das bei seinem gegenwärtigen Stand weder in seinem ganzen Umfang feststellbar noch durch einen einzigen oder einen anerkannten Vertreter vertreten ist, die Möglichkeit genommen, vor den Unionsgerichten die Rechte durchzusetzen, die ihm als Kollektiv aus dem Teil des Völkerrechts, das auch Teil des Unionsrechts ist, erwachsen(86).

90.      Diese Art von Ergebnis wäre unvereinbar mit der Rechtsstaatlichkeit, einem Wert, der in Art. 2 EUV verankert ist(87) und einen der verfassungsrechtlichen Pfeiler der Union bildet(88).

91.      Folglich schlage ich dem Gerichtshof vor, die Feststellung des Gerichts, dass die Klage zulässig ist, zu bestätigen, wenn auch mit neuer Begründung.

2.      Geltendmachung des Völkergewohnheitsrechts vor den Unionsgerichten

92.      Mit ihren Rechtsmitteln machen die Kommission und der Rat unter Berufung auf das Urteil Air Transport Association of America u. a. außerdem geltend, dass sich der Front Polisario vor den Unionsgerichten nicht auf das Völkergewohnheitsrecht berufen könne, um die Gültigkeit des angefochtenen Beschlusses in Frage zu stellen.

93.      Ich teile diese Auffassung nicht. Meines Erachtens kann der Gerichtshof seine gerichtliche Kontrollbefugnis in Bezug auf den für die Union verbindlichen Teil des Völkerrechts ausüben, um die Vereinbarkeit des angefochtenen Beschlusses, das in Rede stehende internationale Abkommen zu schließen, zu beurteilen. Das Volk der Westsahara ist unmittelbar und individuell betroffen von diesem Beschluss, der mit seinen nach den Grundsätzen des Völkergewohnheitsrechts bestehenden Rechten kollidieren kann.

94.      Durch das Verhandeln in der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof nicht, wie behauptet, zu einem internationalen Gericht. Vielmehr hat der Gerichtshof die verfassungsrechtliche Pflicht, zu gewährleisten, dass die Unionsorgane bei der Anwendung der Verträge nicht gegen das Recht verstoßen. Nach Art. 3 Abs. 5 EUV schließt dieses Recht das Völkergewohnheitsrecht und die in der VN-Charta verankerten Grundsätze ein. Außerdem gibt es kein anderes Gericht, das über eine solche Anfechtung verhandeln kann.

95.      Soweit die anzuwendenden Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts so klar sind, dass der Gerichtshof beurteilen kann, ob der Rat gehindert war, das in Rede stehende internationale Abkommen durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses zu schließen, kann sich der Front Polisario vor dem Gerichtshof auf diese Völkerrechtssätze berufen.

D.      Das Gericht hat dem dritten Klagegrund des Front Polisario zu Unrecht stattgegeben

1.      Auslegung des Urteils Rat/Front Polisario

96.      Zur Erinnerung: Gegenstand der vorliegenden Rechtsmittel ist einzig und allein die Frage, ob der angefochtene Beschluss gegen die Auslegung des Gerichtshofs in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht und den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen, wie sie vom Gerichtshof im Urteil Rat/Front Polisario ausgelegt worden sind, verstoßen hat. Es ist daher zu prüfen, was genau der Gerichtshof in diesem Urteil festlegen wollte.

97.      Um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass das streitige Abkommen auf das Gebiet der Westsahara keine Anwendung fand, hat der Gerichtshof wie folgt argumentiert.

98.      Er hat anerkannt, dass das Gebiet der Westsahara ein NSGT im Sinne von Art. 73 der VN-Charta darstellt(89). Sodann hat er festgestellt, dass einem NSGT das Selbstbestimmungsrecht zusteht, bei dem es sich „um eine Erga-omnes-Verpflichtung und ein Grundprinzip des Völkerrechts“ handelt(90). Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass das Selbstbestimmungsrecht zu den in den Beziehungen zwischen der Union und dem Königreich Marokko anwendbaren Völkerrechtssätzen gehört, denen die Unionsgerichte Rechnung tragen müssen(91).

99.      Nach der VN-Charta hat ein NSGT einen „gesonderten und unterschiedlichen Status“(92). Der Gerichtshof ist daher zu dem Schluss gelangt, dass der Ausdruck „das Königreich Marokko“ nicht dahin ausgelegt werden kann, dass das Gebiet der Westsahara in den Geltungsbereich des Assoziationsabkommens fällt(93).

100. Der Gerichtshof hat weiter entschieden, dass eine internationale Übereinkunft einen Staat hinsichtlich eines anderen Hoheitsgebiets binden kann, dass aber eine solche Absicht aus dieser Übereinkunft ersichtlich oder anderweitig festgestellt sein muss(94). Entgegen den Feststellungen des Gerichts kann jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass das Assoziationsabkommen dahin ausgelegt werden kann, dass seine Anwendung auf das Gebiet der Westsahara stillschweigend vorgesehen ist(95).

101. Hiernach hat sich der Gerichtshof dem Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen zugewandt. Er hat darauf erkannt, dass dieser Grundsatz einen allgemeinen, in Art. 34 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (im Folgenden: WÜRV)(96) kodifizierten völkerrechtlichen Grundsatz darstellt. Nach diesem Grundsatz dürfen internationale Verträge Dritten ohne deren Zustimmung weder schaden noch nützen(97).

102. Schließlich hat der Gerichtshof in Rn. 106 seines Urteils Rat/Front Polisario, das Gegenstand der Erörterung in der vorliegenden Rechtssache ist, entschieden, dass „das Volk der Westsahara … als ‚Dritter‘ im Sinne des Grundsatzes der relativen Wirkung von Verträgen anzusehen [ist]“. Daher muss das Volk der Westsahara seine „Zustimmung“ erklären, damit das Abkommen über die Liberalisierung des Handels von 2012 auf das Gebiet der Westsahara Anwendung findet. Dies gilt, „ohne dass ermittelt werden müsste, ob diese ihr schaden oder vielmehr nützen könnte“(98).

103. Da nicht nachgewiesen war, dass das Volk der Westsahara seine Zustimmung, von dem Assoziationsabkommen betroffen zu sein, erteilt hatte, ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass es gegen das Selbstbestimmungsrecht und den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen verstieße, wenn dieses Abkommen dahin ausgelegt würde, dass es auf das Gebiet der Westsahara Anwendung findet(99).

104. Welche Regeln können aus diesen Feststellungen des Gerichtshofs extrapoliert werden?

105. In Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht hat der Gerichtshof zwei Fragen geklärt. Erstens hat er entschieden, dass das Selbstbestimmungsrecht eine Regel des Völkergewohnheitsrechts ist, die erga omnes gilt und daher die Union bindet. Zweitens hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Selbstbestimmungsrecht verlangt, dass die Westsahara als ein vom Königreich Marokko gesondertes Gebiet zu behandeln ist.

106. Der Gerichtshof hat nicht den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts erörtert(100). Er hat jedoch vorgeschlagen, dass das Volk der Westsahara, das bezüglich des NSGT der Westsahara über ein Selbstbestimmungsrecht verfügt, einem Abkommen, das auf dieses Gebiet Anwendung finden soll, seine „Zustimmung“ erteilen muss.

107. Ist der Gerichtshof aufgrund des Selbstbestimmungsrechts zu diesem Ergebnis gelangt? Meines Erachtens nicht. Er hat das Zustimmungserfordernis aus den Bestimmungen über die relative Wirkung von Verträgen abgeleitet, insbesondere unter Bezugnahme auf Art. 34 WÜRV.

108. Die Union ist nicht Vertragspartei des WÜRV, und sie kann durch seine Regeln nicht gebunden sein. Der Gerichtshof hat Art. 34 WÜRV jedoch als Ausprägung der Regel des Völkergewohnheitsrechts aufgefasst(101), an die die Union in ihrem Handeln gebunden ist(102).

109. Art. 34 WÜRV sieht vor, dass ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte begründet. Auch wenn diese Bestimmung auf die Zustimmung von „Staaten“ Bezug nimmt, hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass für die NSGT dieselbe Regel gilt(103).

110. Auch wenn argumentiert werden kann, dass diese Entscheidung die Auslegung des Grundsatzes der relativen Wirkung von Verträgen durch den Gerichtshof darstellt, kann aus völkerrechtlicher Sicht an sich nicht ausgeschlossen werden, dass Art. 34 WÜRV auch auf ein NSGT als „Dritten“ Anwendung finden könnte(104).

111. Dies beantwortet jedoch nicht die Frage, wie, wenn überhaupt, ein NSGT wie die Westsahara dem zustimmen könnte, durch eine internationale Übereinkunft gebunden zu sein.

112. Im Urteil Rat/Front Polisario brauchte der Gerichtshof diese Frage nicht zu erörtern. Er hat lediglich dargelegt, dass das Volk der Westsahara tatsächlich nicht seine Zustimmung erklärt habe, durch ein internationales Abkommen zwischen der Union und dem Königreich Marokko gebunden zu sein. Daraus konnte der Gerichtshof folgern, dass sich das Assoziationsabkommen nicht auf das Gebiet der Westsahara erstreckte: Weder haben die Vertragsparteien dies ausdrücklich vorgesehen noch hat der Dritte (hier das Volk der Westsahara) dieser Ausdehnung zugestimmt.

113. In diesem Urteil brauchte daher nicht geprüft zu werden, wie ein mit dem Königreich Marokko geschlossenes Abkommen rechtmäßig auf das Gebiet der Westsahara Anwendung finden könnte, aus dem einfachen Grund, weil der Gerichtshof festgestellt hat, dass es auf die Westsahara überhaupt nicht anwendbar war. Infolgedessen hat das Gericht zu Recht darauf geschlossen, dass die Urteile Front Polisario/Rat und Western Sahara Campaign UK „keine Übereinkünfte zwischen der Union und dem Königreich Marokko mit einer ausdrücklichen Bestimmung zur Einbeziehung der Westsahara in den Geltungsbereich dieses Abkommens [betrafen]“, wie dies in der vorliegenden Rechtssache der Fall ist.

114. Unter diesem Blickwinkel betrachtet sollte das Zustimmungserfordernis, wie es sich aus Rn. 106 des Urteils Rat/Front Polisario ergibt, nicht als Hinweis darauf verstanden werden, ob oder wie sich ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko auf das Gebiet der Westsahara erstrecken könnte. Stattdessen ist dieses Erfordernis nur als eines der Argumente dafür zu verstehen, weshalb der Geltungsbereich des in jener Rechtssache in Rede stehenden Abkommens nicht das Gebiet der Westsahara umfassen konnte.

115. Vor diesem Hintergrund werde ich prüfen, ob das Gericht das Zustimmungserfordernis, wie es im Urteil Rat/Front Polisario zum Ausdruck kommt, zutreffend ausgelegt hat.

2.      Die relative Wirkung von Verträgen und das Erfordernis der Zustimmung

a)      Feststellungen des Gerichts

116. In der vorliegenden Rechtssache ist unstreitig, dass die Union und das Königreich Marokko beabsichtigt hatten, ein bilaterales Abkommen zu schließen, das für das Gebiet der Westsahara gelten würde(105).

117. Das Gericht hat seine Würdigung des dritten Klagegrundes des Front Polisario mit der Prüfung begonnen, ob der Rat das in Rn. 106 des Urteils Rat/Front Polisario aufgestellte Erfordernis der Zustimmung beachtet habe.

118. Im Urteil Rat/Front Polisario habe der Gerichtshof nicht die Art und Weise bezeichnet, in der diese Zustimmung ausgedrückt werden könne(106). Das Gericht habe daher das WÜRV herangezogen, um die Modalitäten zu ermitteln, nach denen die Zustimmung ausgedrückt werden könne.

119. In Bezug auf Staaten ist diese Frage in den Art. 35 und 36 des WÜRV geregelt. Nach diesen Bestimmungen bedarf die Zustimmung zur Anwendung des Vertrags, mit der einem Drittstaat Verpflichtungen auferlegt werden, der ausdrücklichen Annahme in Schriftform. Umgekehrt wird die Zustimmung stillschweigend unterstellt, wenn ein Vertrag dem Drittstaat nur Rechte verleiht.

120. Unter Bezugnahme auf diese Bestimmungen des WÜRV hat das Gericht darauf erkannt, dass, da das streitige Abkommen dem Volk der Westsahara keine Rechte verleihe, sondern vielmehr Pflichten auferlege(107), die Zustimmung ausdrücklich zu erteilen sei(108).

121. Sodann hat das Gericht geprüft, ob vom Volk der Westsahara eine ausdrückliche Zustimmung erteilt worden sei, und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die von der Kommission und dem EAD durchgeführten Konsultationen nicht so verstanden werden könnten, dass mit ihnen die Zustimmung dieses Volkes eingeholt worden sei(109).

122. Ich kann mich dieser Feststellung des Gerichts anschließen.

123. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Begriff der „Bevölkerung“ eines NSGT und dem des „Volkes“ dieses NSGT, da letzterer für eine politische Einheit steht, die über ein Selbstbestimmungsrecht verfügt, der erstgenannte hingegen für die Einwohner eines Gebiets(110).

124. Die Kommission und der EAD führten Konsultationen mit den „betroffenen Bevölkerungsgruppen“ durch, die, wie das Gericht zutreffend festgestellt hat, „im Wesentlichen die Bevölkerungsgruppen [umfassen], die sich gegenwärtig im Gebiet der Westsahara befinden, unabhängig davon, ob sie zum Volk dieses Gebiets gehören oder nicht“(111). Diese Konsultationen können daher nicht einer Einholung der Zustimmung des „Volkes“ des NSGT der Westsahara gleichkommen.

125. Die Parteien und Streithelfer in den vorliegenden Rechtsmittelverfahren haben einiges an Tinte auf ihr Vorbringen verwandt, ob die Art. 35 und 36 WÜRV überhaupt auf ein NSGT anwendbar und für die Union verbindlich sind. Es gibt Gründe, die darauf schließen lassen, dass diese Bestimmungen nicht Regeln des Völkergewohnheitsrechts kodifizieren(112), zumindest dann nicht, wenn der Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen dahin ausgelegt wird, dass er für NSGT gilt. Wenn dies tatsächlich der derzeitige Stand des Völkerrechts ist, können diese Bestimmungen des WÜRV die Union nicht binden.

126. Meines Erachtens ist die Frage, ob die Art. 35 und 36 WÜRV tatsächlich vorgeben, auf welche Art und Weise im Fall von NSGT die Zustimmung zu erklären ist, indes irrelevant.

127. Wie ich darlegen werde, bin ich der Auffassung, dass das Volk der Westsahara als „Dritter“ im Sinne von Art. 34 WÜRV so, wie es gegenwärtig organisiert ist, nicht selbst die erforderliche Zustimmung erteilen kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Zustimmung nicht in seinem Namen erteilt werden kann.

b)      Das Volk der Westsahara kann seine „Zustimmung“ zur Bindung durch das streitige Abkommen nicht erteilen

128. Es ist klar, wie ein Staat seine Zustimmung erteilt, durch eine internationale Übereinkunft gebunden zu sein. Es ist jedoch keineswegs klar, wie ein NSGT eine solche Zustimmung erteilen kann(113).

129. Ist ein Staat der Dritte, auf den zwei andere Staaten die Anwendung ihres Abkommens ausdehnen wollen, wird davon ausgegangen, dass dieser Drittstaat nach dem Völkerrecht imstande ist, diese internationale Übereinkunft zu schließen. Gerade aus diesem Grund muss er seine Zustimmung erteilen, wenn er das Abkommen nicht selbst geschlossen hat, aber bereit ist, an ein Abkommen anderer Staaten gebunden zu sein.

130. Die Lage „eines Volkes“ als Hüter des Selbstbestimmungsrechts eines NSGT ist eine andere. Dieses Volk kann keine internationale Übereinkunft schließen, bevor es sein Selbstbestimmungsrecht ausgeübt hat, d. h., bevor es ein gewisses Maß an Selbstregierung erreicht hat.

131. Im besonderen Fall des Volkes der Westsahara gibt es keinen ausgewählten oder akzeptierten Vertreter, der in dessen Namen zustimmen könnte. Auch wenn der Front Polisario an den politischen Verhandlungen über die Lösung der Westsaharafrage teilnimmt, ist diese Rolle nicht dieselbe wie die eines gewählten oder anerkannten Vertreters des saharauischen Volkes, der dessen kollektive Wünsche zum Ausdruck bringt. Die letztgenannte Rolle kann nur durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch das saharauische Volk zugewiesen werden, die von der internationalen Gemeinschaft nicht organisiert werden kann(114).

132. Das saharauische Volk kann seinen Standpunkt nicht ohne einen gewählten oder kollektiv anerkannten Vertreter zum Ausdruck bringen. Selbst wenn eindeutig feststünde, welche Personen dem saharauischen Volk angehören, wäre es unmöglich, die kollektive Zustimmung dieses Volkes durch Konsultationen mit jedem einzelnen Mitglied dieser Gruppe einzuholen.

133. Sobald das saharauische Volk sein Selbstbestimmungsrecht ausübt, wird es in der Lage sein, seine Zustimmung zu einer internationalen Übereinkunft, die in seinem Gebiet bindend ist, zu erteilen oder tatsächlich selbst eine solche Übereinkunft zu schließen.

134. Bis zu diesem Zeitpunkt kann das saharauische Volk nicht die Zustimmung dazu erteilen, durch ein internationales Abkommen gebunden zu sein.

135. Wie der Rat und die Kommission erläutert haben, impliziert der bloße Begriff, ohne Selbstregierung zu sein, dass das Volk, das sein Selbstbestimmungsrecht noch nicht ausgeübt hat, nicht über Mittel oder Strukturen verfügt, um seine Wünsche oder Entscheidungen zum Ausdruck zu bringen.

136. Dies bedeutet entweder, dass jemand anderes befugt ist, seine Zustimmung dazu, an eine internationale Übereinkunft gebunden zu sein, zu erklären, oder dass diese Zustimmung überhaupt nicht erklärt werden kann.

c)      Kann das Königreich Marokko im Namen des Volkes der Westsahara dem in Rede stehenden Abkommen zustimmen?

137. Wenn, wie ich vorgeschlagen habe, das Volk der Westsahara weder durch Konsultationen mit der im Gebiet der Westsahara lebenden Bevölkerung noch durch den Front Polisario „Zustimmung“ erteilen kann in dem Sinn, den der Gerichtshof diesem Begriff im Urteil Rat/Front Polisario beigemessen hat, wer kann den Abschluss einer internationalen Übereinkunft mit dem Gebiet der Westsahara im Namen dieses Volkes billigen?

138. Der geeignete Bezugsrahmen, in dem diese Frage zu beantworten ist, ist das Gesetz über die Entkolonialisierung.

139. Dieser Rahmen ist hauptsächlich in Kapitel XI („Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“) der VN-Charta, insbesondere Art. 73, enthalten(115).

140. In diesem Rahmen hat der Gerichtshof die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts im Urteil Rat/Front Polisario(116) ausgelegt.

141. Kapitel XI der VN-Charta ist Ausdruck der Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft auf das Selbstbestimmungsrecht im Prozess der Entkolonialisierung(117).

142. Art. 73 der VN-Charta enthält die Bestimmungen, die die Situation der NSGT regeln, bevor sie ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben können.

143. Diese Vorschrift setzt zunächst voraus, dass die Gebiete, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben, von einem anderen Staat als dem dieser Völker verwaltet werden. In dieser Vorschrift werden diese Staaten als „Mitglieder der [VN bezeichnet], welche die Verantwortung für die Verwaltung [von NSGT] haben oder übernehmen“. Ich werde diese Staaten als „Verwaltungsmächte“ bezeichnen.

144. Bevor das Volk eines NSGT sein Selbstbestimmungsrecht ausübt, das letztlich das Ziel von Art. 73 der VN-Charta ist, schließt die Verwaltungsmacht die diese Gebiete betreffenden internationalen Übereinkünfte.

145. Daraus folgt, dass auch die Verwaltungsmacht befugt ist, der Anwendung eines zwischen zwei anderen Staaten geschlossenen Abkommens auf das Gebiet, das diese Macht verwaltet, „zuzustimmen“.

146. Die Westsahara ist in dieser Hinsicht ein einzigartiger Fall. In der von den VN geführten Liste aller verbliebener NSGT ist die Verwaltungsmacht jedes Gebiets angegeben, außer im Fall der Westsahara(118).

147. Art. 73 der VN-Charta definiert Verwaltungsmächte als „Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben“(119).

148. Die Verwendung der Wörter „Verantwortunghaben“ scheint sich auf Staaten zu beziehen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der VN-Charta ein NSGT kontrollierten.

149. Im Fall der Westsahara war der Kolonialstaat, der diese Verantwortung innehatte, das Königreich Spanien. Spanien verzichtete jedoch einseitig auf diese Verantwortung(120).

150. Art. 73 der VN-Charta bezieht sich auch auf Staaten, die für ein NSGT die „Verantwortungübernehmen“.

151. Mit seinem Rechtsmittel in der vorliegenden Rechtssache hat der Rat die Auffassung vertreten, dass nach Art. 73 der VN-Charta das Königreich Marokko die Verwaltungsmacht sei, da dieser Staat die Verantwortung für das Gebiet der Westsahara übernommen habe. Sowohl der Rat als auch die Kommission haben diesen Standpunkt in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Nach den Erläuterungen dieser Organe ergibt sich die Einstufung des Königreichs Marokko als „übernehmende“ Verwaltungsmacht daraus, dass das Königreich Marokko den Großteil des Gebiets der Westsahara effektiv kontrolliere.

152. Könnte das Königreich Marokko rechtlich als die Verwaltungsmacht der Westsahara eingestuft werden, wäre es völkerrechtlich befugt, im Namen des Gebiets der Westsahara eine internationale Übereinkunft zu schließen, um dieses Gebiet zu binden. Es wäre auch ermächtigt, der Anwendung eines Abkommens zwischen Drittstaaten auf das Gebiet der Westsahara zuzustimmen, sofern dieses Abkommen die Voraussetzungen nach Art. 73 der VN-Charta erfüllt (siehe Nrn. 180 bis 190 der vorliegenden Schlussanträge).

153. Im Schrifttum wird dieser Möglichkeit damit widersprochen, dass der Status der Verwaltungsmacht eine von der UNO zuerkannte Rechtsstellung sei, die ohne diese Art von Anerkennung nicht einseitig erlangt werden könne(121).

154. Art. 73 der VN-Charta knüpft den Status als Verwaltungsmacht jedoch nicht an irgendeine Art von förmlichem Verfahren oder Anerkennung. Sein Wortlaut deutet vielmehr darauf hin, dass er sich auf eine bestimmte Art von Sachverhalt bezieht.

155. Völkerrechtlich gibt es für einen Staat, der ein Gebiet tatsächlich kontrolliert, drei Möglichkeiten der rechtlichen Einordnung: Souverän, Verwalter oder Besatzer(122).

156. In Bezug auf die Westsahara behandeln die politischen Organe der Union das Königreich Marokko nicht als Besatzungsmacht(123) oder als Souverän(124), sondern als Verwaltungsmacht. Dies bedeutet, dass sie die Souveränität des saharauischen Volkes über das Gebiet der Westsahara akzeptieren, auch wenn das Königreich Marokko derzeit die Kontrolle über dieses Gebiet besitzt.

157. Dieser Standpunkt steht nicht im Widerspruch zu der von der Union eingenommenen Neutralität gegenüber dem Ausgang des Prozesses unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen über die Westsahara, da die Behandlung als Verwaltungsmacht kein bei der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts mögliches Ergebnis ausschließt(125).

158. Diese Auslegung scheint auch nicht dem Ziel des Selbstbestimmungsrechts, das in Art. 73 der VN-Charta Ausdruck findet, zuwiderzulaufen, solange sie nicht das Volk eines NSGT daran hindert, künftig dieses Recht auszuüben.

159. Es ist daher nicht völkerrechtswidrig, das Königreich Marokko als Verwaltungsmacht der Westsahara und infolgedessen als fähig zu behandeln, im Namen des Volkes der Westsahara als „Dritter“ im Sinne der Auslegung der relativen Wirkung von Verträgen durch den Gerichtshof einem Abkommen, das Auswirkungen auf das Gebiet der Westsahara hat, „zuzustimmen“.

160. Welche Auswirkung hat diese Schlussfolgerung auf die Auslegung des Begriffs der Verwaltungsmacht durch den Gerichtshof?

161. Bei der Ausübung der Außenbeziehungen der Union verfügen die politischen Organe der Union über ein weites Ermessen(126).

162. Dies gilt auch für die Auslegung von Normen, die in einer Situation wie der vorliegend in Rede stehenden anwendbar sind, wenn es im Völkerrecht keinen klaren Standpunkt zu der Frage gibt, ob ein Staat so behandelt werden kann, als habe er für ein NSGT durch effektive Kontrolle dieses Gebiets Sinne von Art. 73 der VN-Charta die Verantwortung übernommen.

163. In Ermangelung klarer Regeln im Unions- oder Völkerrecht, die einen solchen Standpunkt verhindern würden, kann die Entscheidung der politischen Organe der Union, das Königreich Marokko als die („Defacto‑“)Verwaltungsmacht im Sinne von Art. 73 der VN-Charta anzusehen, nicht beim Gerichtshof angefochten werden(127).

164. Insoweit muss der Gerichtshof den Standpunkt des Rates und der Kommission als mögliche Auslegung des Völkerrechts akzeptieren.

165. Zwar hat das Königreich Marokko den Status einer Verwaltungsmacht für das Gebiet der Westsahara nicht selbst anerkannt(128). Seine Position ist, dass es Souveränität über dieses Gebiet hat(129).

166. Dies hindert die Union jedoch nicht daran, das Königreich Marokko in seinen wirtschaftlichen Beziehungen mit diesem Gebiet einseitig als („Defacto‑“)Verwaltungsmacht des Gebiets der Westsahara anzusehen.

167. Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass die Union einfach in dieser Weise handle unter Verwendung von Vorbehaltsklauseln, deren Verwendung eine allgemein anerkannte (und praktische) Methode sei, um Beziehungen mit Drittstaaten oder ‑gebieten zu knüpfen(130).

168. Dass sich die Union und das Königreich Marokko beim Abschluss des streitigen Abkommens darauf geeinigt haben, dass sie sich über den Status des Königreichs Marokko im Verhältnis zum Gebiet der Westsahara uneins sind, könnte gleichwohl, wie ich in Abschnitt E der vorliegenden Schlussanträge prüfen werde, den Unionsorganen zusätzliche Erfordernisse auferlegen, die notwendig sind, um den völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.

169. Die vorstehende Erörterung führt zu dem Ergebnis, dass der Rat mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht gegen den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen in seiner Auslegung im Urteil Rat/Front Polisario verstoßen hat. Der Rat erhielt die Zustimmung des Volkes der Westsahara als nicht an dem streitigen Abkommen beteiligter Dritter durch das Königreich Marokko, das als Verwaltungsmacht dieses Gebiets handelte.

3.      Behandlung Marokkos und der Westsahara als gesonderte Gebiete

170. Die einzige Verpflichtung, die der Gerichtshof im Urteil Rat/Front Polisario aufgrund des Selbstbestimmungsrechts als bindend für die Union angesehen hat, bestand darin, das Gebiet der Westsahara als unterschiedlich vom Gebiet des Königreichs Marokko zu behandeln(131).

171. Dass das Königreich Marokko als Verwaltungsmacht im Sinne von Art. 73 der VN-Charta angesehen wird, verstößt nicht gegen diese Verpflichtung. Ganz im Gegenteil spricht die einseitige Zuweisung des Status einer Verwaltungsmacht an das Königreich Marokko mit allen damit verbundenen Verpflichtungen, die sich aus diesem Status ergeben, diesem Staat die Souveränität über das Gebiet der Westsahara ab(132).

172. Mit anderen Worten: Das Königreich Marokko hat mit der Europäischen Union gesondert ein internationales Abkommen über sein eigenes Hoheitsgebiet geschlossen und dann seiner Anwendung auf das gesonderte Gebiet der Westsahara, das es gegenwärtig verwaltet, zugestimmt.

173. Wie ich in meinen ebenfalls heute gestellten Schlussanträgen in der Rechtssache Confédération paysanne (Melonen und Tomaten aus der Westsahara) erläutert habe, verlangt die gesonderte Behandlung des Gebiets der Westsahara von der des Königreichs Marokko, dass in den Zollanmeldungen und in den Kennzeichnungen mit dem Ursprungsland der Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara die Westsahara als Herkunftsort angegeben werden muss, unter Ausschluss jeglicher Angabe des Königreichs Marokko als Ursprung(133). Dies bezieht sich u. a. auf Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara, die bei der Einfuhr in das Zollgebiet der Union aufgrund des streitigen Abkommens in den Genuss einer Präferenzbehandlung kommen.

174. Folglich hat der Rat mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht gegen das Erfordernis verstoßen, das Gebiet des Königreichs Marokko und das Gebiet der Westsahara als zwei unterschiedliche Gebiete zu behandeln, ein Erfordernis, das sich nach der vom Gerichtshof im Urteil Rat/Front Polisario vorgenommenen Auslegung aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt.

4.      Zwischenergebnis

175. Der angefochtene Beschluss verstößt weder gegen den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen noch gegen den Aspekt des Selbstbestimmungsrechts, um den es im Urteil Rat/Front Polisario gegangen ist.

176. Ich schlage daher dem Gerichtshof vor, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit darin dem dritten Rechtsmittelgrund des Front Polisario stattgegeben wird.

E.      Weitere Verpflichtungen für die Union aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des saharauischen Volkes

177. Die Feststellung, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht verletzt wurde, soweit der Gerichtshof Gelegenheit hatte, es im Urteil Rat/Front Polisario auszulegen, lässt nicht zwangsläufig den Schluss zu, dass die Unionsorgane sämtliche sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebenden Verpflichtungen beachtet haben, als sie das streitige Abkommen mit dem Königreich Marokko geschlossen haben.

178. Der Gerichtshof hatte noch keine Gelegenheit, zu erläutern, welche weiteren Verpflichtungen der Union infolge des Selbstbestimmungsrechts des saharauischen Volkes obliegen. Da über diese Frage vom Gericht nicht entschieden worden ist, ist sie von den vorliegenden Rechtsmitteln jedoch nicht umfasst, so dass der Gerichtshof diese Frage in der vorliegenden Rechtssache nicht eigenständig klären kann.

179. Ich halte es dennoch für erforderlich, kurz auf zwei sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebende Fragen einzugehen, die in einem Szenario relevant sind, in dem das Königreich Marokko von den Unionsorganen als („Defacto‑“)Verwaltungsmacht des Gebiets der Westsahara behandelt wird.

180. Erstens haben die Verwaltungsmächte nach Art. 73 der VN-Charta eine Verpflichtung, die häufig als „heiliger Auftrag“ bezeichnet wird. Nach dieser Vorschrift haben „die Interessen der Einwohner [eines NSGT] Vorrang“, und die Verwaltungsmächte „übernehmen als heiligen Auftrag die Verpflichtung, im Rahmen des durch diese Charta errichteten Systems des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit das Wohl dieser Einwohner aufs Äußerste zu fördern“.

181. Bevor das saharauische Volk sein Selbstbestimmungsrecht ausübt, muss das Königreich Marokko als („Defacto‑“)Verwalter ihres Gebiets ausschließlich zugunsten der „Einwohner des Gebiets“ der Westsahara handeln. Auch die Zustimmung des Königreichs Marokko im Namen des saharauischen Volkes im Sinne der relativen Wirkung von Verträgen muss dieser Verpflichtung entsprechen.

182. Nach Art. 73 der VN-Charta richtet sich die Verpflichtung des „heiligen Auftrags“ grundsätzlich an die Verwaltungsmacht. Es ist allerdings klar, dass der Gerichtshof keine Zuständigkeit hat, über die Einhaltung des Völkerrechts einschließlich der Grundsätze der VN-Charta durch einen ausländischen Staat zu urteilen.

183. Gleichwohl könnte das in Art. 73 der VN-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht auch den Staaten (oder internationalen Organisationen) Verpflichtungen auferlegen, die Beziehungen mit einer Verwaltungsmacht begründen.

184. Im Kontext der vorliegenden Rechtssache haben der Rat und die Kommission die Auffassung vertreten, dass die Verpflichtung des „heiligen Auftrags“ auch die Union in ihren Beziehungen mit der („Defacto‑“)Verwaltungsmacht des NSGT der Westsahara binde. Auch wenn die Union nicht Vertragspartei der VN-Charta ist, ist sie in ihren auswärtigen Beziehungen aufgrund von Art. 21 EUV an sie gebunden.

185. Es kann daher darauf geschlossen werden, dass die Unionsorgane Vereinbarungen bezüglich der Westsahara mit dem Königreich Marokko als deren Verwaltungsmacht nur treffen können, wenn diese Vereinbarungen den „Einwohnern dieses Gebiets“ zugutekommen.

186. Dieser Verpflichtung kommt meines Erachtens eine zusätzliche Bedeutung zu, die sich daraus ergibt, dass sich das Königreich Marokko im Verhältnis zum Gebiet der Westsahara als souveräner Staat und nicht als Verwalter betrachtet. Infolgedessen betrachtet es sich selbst nicht als an den von den Verwaltungsmächten nach Art. 73 der VN-Charta normalerweise übernommenen „heiligen Auftrag“ gebunden. Die Unionsorgane müssen sich daher vergewissern, dass die getroffenen Vereinbarungen den „Einwohnern“ der Westsahara zugutekommen, wie dies nach Art. 73 der VN-Charta verlangt ist.

187. Dieses Ergebnis wirft zwangsläufig Fragen auf, die vor dem Gericht nicht erörtert wurden: Was ist unter dem Begriff „Einwohner des Gebiets“ in Art. 73 der VN-Charta zu verstehen? Genügen die von der Kommission und dem EAD durchgeführten Konsultationen dem Erfordernis, dass die Unionsorgane prüfen, ob das betreffende Abkommen den „Einwohnern des Gebiets“ zugutekommt?

188. Zweitens bleibt die Frage, welche Verpflichtungen die Unionsorgane haben, um dem Recht des saharauischen Volkes auf Nutzung der natürlichen Ressourcen des NSGT der Westsahara nachzukommen.

189. Man kann darüber diskutieren, ob ein Recht auf Nutzung natürlicher Ressourcen ein eigenständiges Recht ist, das sich aus dem Grundsatz der staatlichen Souveränität ergibt, oder ob es Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts ist(134). Bei beiden Optionen scheint dieses Recht jedoch Teil des Völkergewohnheitsrechts zu sein(135) und ist daher für die Union bindend.

190. Bezüglich der Ausbeutung natürlicher Ressourcen der NSGT besteht anscheinend ein gewisser, rund um das Schreiben von Hans Corell von 2002(136) gebildeter Konsens, wonach die Verwaltungsmacht natürliche Ressourcen ausbeuten kann, wenn die Ressourcen ausbeutenden Aktivitäten im Interesse des Volkes der NSGT oder in Absprache mit ihren Vertretern betrieben werden(137).

191. Das streitige Abkommen erlaubt als solches nicht die Nutzung der natürlichen Ressourcen des Gebiets der Westsahara. Sie wirkt sich jedoch mittelbar auf dieses Recht aus. Welche Verpflichtungen ergeben sich für die Unionsorgane in diesem Zusammenhang?

192. Könnten die Unionsorgane zu dem Schluss gelangen, dass ihrer Verpflichtung, das Recht des saharauischen Volkes auf Nutzung seiner natürlichen Ressourcen nicht zu beeinträchtigen, durch das Ergebnis der Konsultationen mit der örtlichen Bevölkerung Genüge getan wurde, bei denen eine Mehrzahl der an den Konsultationen teilnehmenden Personen die Ausdehnung von Zollpräferenzen auf Erzeugnisse mit Ursprung im Gebiet der Westsahara als vorteilhaft bewertete?

193. Auch wenn das Gericht die Angemessenheit der Konsultationen in seinem Urteil erörtert hat, geschah dies zur Entscheidung der Frage, ob sie eine „Zustimmung“ des Volkes der Westsahara im Sinne der relativen Wirkung von Verträgen zum streitigen Abkommen bedeuten können(138). Die Antwort auf dieselbe Frage im Zusammenhang mit dem Recht auf Nutzung natürlicher Ressourcen erfordert eine neue, andere Beurteilung.

194. Die im vorliegenden Abschnitt aufgeworfenen streitigen Fragen sind im Verfahren vor dem Gericht nicht erörtert worden. Das Gericht hat meines Erachtens zu Unrecht entschieden, dass sich die Unionsorgane nicht an das sich aus dem Urteil Rat/Front Polisario ergebende Erfordernis der Zustimmung gehalten hätten. Diese streitigen Fragen scheinen jedoch Gegenstand der übrigen vom Front Polisario im Rahmen seiner Nichtigkeitsklage geltend gemachten Klagegründe zu sein. Daher halte ich es für erforderlich, die vorliegende Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen.

IV.    Konsequenzen

195. Nach Art. 61 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.

196. In der vorliegenden Rechtssache ist diese Voraussetzung nicht erfüllt.

197. Während ich zu dem Ergebnis komme, dass der dritte Klagegrund des Front Polisario aus den oben dargelegten Gründen als unbegründet zurückzuweisen ist, ist der Rechtsstreit bezüglich der weiteren, vom Gericht noch nicht geprüften Klagegründe nicht reif, vom Gerichtshof endgültig entschieden zu werden.

198. Ich bin daher der Ansicht, dass die Rechtssache zur Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen ist(139).

V.      Ergebnis

199. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        die Rechtsmittel teilweise als unbegründet zurückzuweisen und die Klage des Front Populaire pour la libération de la saguia-el-hamra et du rio de oro (Front Polisario) für zulässig zu erklären,

–        den Rechtsmitteln teilweise stattzugeben, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit darin dem dritten Klagegrund des Front Polisario stattgegeben wird, und diesen Klagegrund zurückzuweisen,

–        die Sache zur Entscheidung über die Klagegründe, über die es nicht entschieden hat, an das Gericht der Europäischen Union zurückzuverweisen und

–        die Kostenentscheidung vorzubehalten.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. Art. 3 Abs. 5 EUV.


3      Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (ABl. 2000, L 70, S. 2, im Folgenden: Assoziationsabkommen).


4      Abkommen in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union einerseits und dem Königreich Marokko andererseits zur Änderung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (ABl. 2019, L 34, S. 4, im Folgenden: streitiges Abkommen).


5      Urteil vom 29. September 2021, Front Polisario/Rat (T‑279/19, EU:T:2021:639, im Folgenden: angefochtenes Urteil).


6      Das heißt in den Urteilen vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario (C‑104/16 P, EU:C:2016:973, im Folgenden: Urteil Rat/Front Polisario) und vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK (C‑266/16, EU:C:2018:118, im Folgenden: Urteil Western Sahara Campaign UK).


7      Beschluss des Rates vom 28. Januar 2019 über den Abschluss eines Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union einerseits und dem Königreich Marokko andererseits zur Änderung der Protokolle Nr. 1 und Nr. 4 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (ABl. 2019, L 34, S. 1, im Folgenden: angefochtener Beschluss).


8      Angefochtenes Urteil, Rn. 391 und 392.


9      ABl. 2019, L 77, S. 8, im Folgenden: partnerschaftliches Abkommen über nachhaltige Fischerei.


10      Verbundene Rechtssachen C‑778/21 P und C‑798/21 P, Kommission und Rat/Front Polisario.


11      Rechtssache C‑399/22, Confédération paysanne (Melonen und Tomaten aus der Westsahara).


12      Vereinte Nationen, Bericht des Ausschusses für Informationen von Hoheitsgebieten ohne Selbstregierung, Beilage Nr. 14 (A/5514) (1963), Anhang III, „Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung gemäß Kapitel XI der Charta bis zum 31. Dezember 1962, die nach geografischen Gebieten ausgewiesen sind“, S. 34.


13      17 Gebiete sind immer noch als NSGT aufgelistet, wobei die Westsahara das einzige solche Gebiet in Afrika ist (https://www.un.org/dppa/decolonization/en/nsgt).


14      Resolution 1541 (XV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 15. Dezember 1960: „Grundsätze, von denen sich die Mitglieder bei der Feststellung leiten lassen sollten, ob eine Verpflichtung zur Übermittlung der nach Art. 73 Buchst. e der Charta erforderlichen Informationen besteht“.


15      Siehe Grundsatz VI.A der Anlage zur Resolution 1541 (XV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 15. Dezember 1960, „Grundsätze, von denen sich die Mitglieder bei der Feststellung leiten lassen sollten, ob eine Verpflichtung zur Übermittlung der nach Art. 73 Buchst. e der Charta erforderlichen Informationen besteht“, angeführt im Gutachten über die Westsahara (ICJ Reports 1975, S. 12, Rn. 57). Vgl. auch Crawford, J., The Creation of States in International Law, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford 2007, S. 621.


16      Resolution 2229 (XXI) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1966, „Frage des Ifni und der Spanischen Sahara“.


17      Front Populaire pour la libération de la saguia-el-hamra et du rio de oro (im Folgenden: Front Polisario).


18      Nach Deubel (Deubel, T. F., Between homeland and exile: Poetry, memory, and identity in Sahrawi communities, PhD Dissertation, University of Arizona, 2010, S. 76, abrufbar unter http://hdl.handle.net/10150/146067), begann sich im Widerstand gegen die spanische Kolonisierung eine Saharaui‑Identität zu entwickeln. Sie wurde ausgeprägter in den 1970er Jahren als Reaktion auf den Prozess der Entkolonialisierung, der die Bildung antikolonialer Bewegungen beeinflusste. Die ersten antikolonialen Bewegungen wurden von Anführern Jugendlicher gegründet, die ihre Ausbildung in Nachbarländern, u. a. im Königreich Marokko, unter dem starken Einfluss der Entkolonialisierungsbewegungen in anderen Ländern, insbesondere in Algerien, erhalten hatten.


19      Vgl. hierzu Gutachten über die Westsahara (ICJ Reports 1975, S. 12, Rn. 49).


20      Offenbar wurde das Gutachten auf Initiative des Königreichs Marokko eingeholt, das zunächst versuchte, die Zustimmung Spaniens zu erhalten, ihren Streit über die Souveränität der Westsahara dem IGH zur Entscheidung im streitigen Verfahren vorzulegen. Vgl. Gutachten zur Westsahara (ICJ Reports 1975, S. 12, Rn. 29 und 36).


21      Gutachten zur Westsahara (ICJ Reports 1975, S. 12, Rn. 162).


22      Gutachten zur Westsahara (ICJ Reports 1975, S. 12, Rn. 162).


23      Marokko hob den ersten Satz in Rn. 162 des Gutachtens über die Westsahara (ICJ Reports 1975, S. 12) hervor, der lautet: „Nach den dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen und den ihm erteilten Auskünften bestanden während der spanischen Kolonialherrschaft zwischen dem Sultan von Marokko und bestimmten der im Gebiet der Westsahara lebenden Stämme Rechtsbeziehungen in Form von Treueverhältnissen.“


24      Resolution 380 (1975) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 6. November 1975 (in der das Königreich Marokko aufgefordert wurde, seine Truppen aus der Westsahara abzuziehen).


25      Vgl. United Nations Treaty Series, Bd. 988, S. 259.


26      Diese Vorschrift gehört zu Kapitel XI der VN-Charta, das Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung betrifft. Nach ihr haben Mitglieder der Vereinten Nationen, die „die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben“, u. a. „die Selbstregierung zu entwickeln, die politischen Bestrebungen dieser Völker gebührend zu berücksichtigen und sie bei der fortschreitenden Entwicklung ihrer freien politischen Einrichtungen zu unterstützen“.


27      Das heutige Verhältnis zwischen der DARS und dem Front Polisario ist unklar und auch in der mündlichen Verhandlung nicht verständlicher geworden.


28      Anfangs erkannten weitere Staaten die DARS an, haben diese Anerkennung jedoch zwischenzeitlich widerrufen.


29      Zur derzeitigen Lage und Zahl der Flüchtlinge siehe Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen, UNHCR Fact Sheet, „Algeria“ (https://reliefweb.int/report/algeria/unhcr-algeria-fact-sheet-april-2023).


30      Vgl. Resolution 690 (1991) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 29. April 1991 (mit der entschieden wurde, „unter seiner Verantwortung eine Mission [der Vereinten Nationen] für das Referendum in der Westsahara einzurichten“).


31      Zur jüngsten Erneuerung bis zum 31. Oktober 2024 vgl. Resolution 2703 (2023) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 30. Oktober 2023.


32      Vgl. z. B. den Baker-Plan von 2001 (und seine Überarbeitung von 2003) (förmlich bezeichnet als „Peace Plan for Self-Determination of the People of Western Sahara“), der aus Gesprächen unter der Schirmherrschaft des Vertreters der Vereinten Nationen, James Baker III, hervorging; vgl. hierzu Zunes, S., und Mundy, J., Western Sahara: War, nationalism, and conflict irresolution,  2. Aufl., Syracuse University Press, 2022, Kapitel 9.


33      Als Reaktion auf diese Wiederaufnahme erhob Bernard Mornah, ein ghanaischer Staatsangehöriger, 2018 beim Afrikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker Klage gegen acht Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union wegen Verstoßes gegen verschiedene Verpflichtungen aus der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker, weil sie zugestimmt hätten, das Königreich Marokko wieder in die Afrikanische Union aufzunehmen, ohne dass dieser Staat aufgefordert worden sei, die ihm zur Last gelegte Besetzung des Gebiets der Westsahara zu beenden. Der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker wies die Klage jedoch ab, da die beklagten Staaten durch die Aufnahme des Königreichs Marokko in die Afrikanische Union nicht gegen ihre Verpflichtungen aus der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker, einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung, verstoßen hätten. Gleichzeitig bekräftigte der Gerichtshof das Selbstbestimmungsrecht des saharauischen Volkes und stufte das Selbstbestimmungsrecht als zwingende Norm des Völkerrechts ein. Vgl. Afrikanischer Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker, Urteil vom 22. September 2018, Bernard Anbataayela Mornah/Republik Benin u. a. (Antrag Nr. 028/2018), Rn. 343(v).


34      Vgl. Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 19. April 2006, „Situation concerning Western Sahara (S/2006/249)“, Nrn. 32 und 34. Vgl. auch Allen, S., und Trinidad, J., The Western Sahara question and international law. Recognition doctrine and self-determination, Routledge, Oxford 2024, S. 17.


35      Vgl. United States Congressional Research Service, „Western Sahara“, RS20962, aktualisiert am 8. Oktober 2014, S. 4.


36      Es gibt auch Stimmen, die behaupten, dass der Wechsel in der Politik einiger Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf die Proklamation von Präsident Donald J. Trump von 2020 zurückzuführen sein könnte, in der die Souveränität des Königreichs Marokko über die Westsahara anerkannt wurde (siehe „Proclamation on Recognizing The Sovereignty Of The Kingdom Of Maroc Over The Western Sahara“, abrufbar unter https://trumpwhitehouse.archives.gov/presidential-actions/proclamation-recognizing-sovereignty-kingdom-morocco-western-sahara). Für einen eingehenderen Überblick über die politischen Entwicklungen auf der Ebene des Sicherheitsrats, der Generalversammlung und der verschiedenen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sowie eine Diskussion über die Auswirkungen der zunehmenden Unterstützung für die marokkanische Position bezüglich der Westsahara vgl. Allen, S., und Trinidad, J., The Western Sahara question and international law. Recognition doctrine and self-determination, Routledge, Oxford 2024, S. 47 ff.


37      Vgl. zuletzt Resolution 2703 (2023) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 30. Oktober 2023.


38      Vgl. z. B. Resolution 2703 (2023) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 30. Oktober 2023, Nr. 2. Siehe auch Allen, S., und Trinidad, J., The Western Sahara question and international law. Recognition doctrine and self-determination, Routledge, Oxford 2024, S. 48 (Darstellung der Entwicklung bei der Wortwahl in den Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen seit 2018).


39      Vgl. zuletzt Resolution 2703 (2023) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 30. Oktober 2023, Nr. 4.


40      ABl. 2012, L 241, S. 4, im Folgenden: Abkommen zur Liberalisierung des Handels von 2012.


41      ABl. 2006, L 141, S. 4, im Folgenden: partnerschaftliches Fischereiabkommen von 2006.


42      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2015, Front Polisario/Rat (T‑512/12, EU:T:2015:953, Rn. 114 und 241).


43      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 82 ff.


44      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 133.


45      Urteil Western Sahara Campaign UK, Rn. 59 bis 61.


46      Urteil Western Sahara Campaign UK, Rn. 64 und 69.


47      Sechster Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses. Vgl. auch Rat, Ergebnis der Ratstagung, 3544. Tagung des Rates, Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie, Forschung und Raumfahrt) (9716/17, 29. und 30. Mai 2017), S. 22.


48      Angefochtener Beschluss, Erwägungsgründe 4 bis 6.


49      Gemeinsame Erklärung zum Assoziationsabkommen (ABl. 2019, L 34, S. 4). Fußnote nicht wiedergegeben.


50      Das Gericht entschied jedoch auch, dass die Wirkungen des angefochtenen Beschlusses bis zum Ablauf der in Art. 56 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Frist oder, falls innerhalb dieser Frist ein Rechtsmittel eingelegt worden ist, bis zur Verkündung des Urteils des Gerichtshofs, mit der über dieses Rechtsmittel entschieden wird, aufrechterhalten werden. Angefochtenes Urteil, Rn. 396.


51      Angefochtenes Urteil, Rn. 79 bis 114 und 133 bis 238.


52      Angefochtenes Urteil, Rn. 240 bis 250.


53      Angefochtenes Urteil, Rn. 251 bis 396.


54      Nach Art. 38 Abs. 1 des Statuts des IGH sind Quellen des Völkerrechts die Übereinkünfte, das Gewohnheitsrecht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze sowie gerichtliche Entscheidungen und die Lehre. Vgl. auch, allgemein, Shaw, M. N., International Law, Cambridge University Press, Cambridge 2006, S. 69 ff.


55      Mit den Art. 31 bis 33 des am 23. Mai 1969 in Wien geschlossenen Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331) (im Folgenden: WÜRV) wurden Regeln für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge festgelegt. Einige dieser Regeln könnten als Kodifizierung des Völkergewohnheitsrechts verstanden werden. Andererseits ist nach dem Völkergewohnheitsrecht bei der Auslegung zunächst festzustellen, ob eine bestimmte Regel ein Brauch ist, und sodann ihre Bedeutung in einer speziellen Situation auszulegen. Dies erfordert eine Feststellung der Praxis und der opinio iuris von Staaten. Infolge dieser Vorgehensweise kann ein Brauch in einem System, in dem es niemanden gibt, der eine für alle verbindliche Auslegung vornehmen kann, immer noch eine andere Bedeutung erhalten. Zum Unterschied zwischen der Findung einer Entscheidung, dass eine bestimmte Regel eine Norm des Völkergewohnheitsrechts ist, und der nachfolgenden Auslegung des Inhalts dieser Regel vgl. Merkouris, P., „Interpretation of Customary International Law: Delineating the States in Its Life Cycle“, in Merkouris, P., Follesdal, A., Ulfstein, G., Westerman, P. (Hrsg.), The interpretation of customary international law in international courts: Methods of interpretation, normative interactions and the role of coherence, Cambridge University Press, Cambridge 2023, S. 136.


56      Nach Art. 38 Abs. 1 des Statuts des IGH sind gerichtliche Entscheidungen, einschließlich seiner eigenen Entscheidungen, nur Hilfsmittel zur Feststellung der Regeln des Völkerrechts.


57      Zu Beispielen für Divergenzschemata bei Auslegungen des Völkerrechts vgl. Roberts, A., „Patterns of difference and dominance“, in Roberts, A., Is international law international? Oxford University Press, Oxford 2017, S. 232 ff.


58      Vgl. hierzu Malenovský, J., „Le juge et la coutume internationale: perspectives de l’Union européenne et de la Cour de justice“, The Law and Practice of International Courts and Tribunals, Bd. 12, 2013, S. 218, und Odermatt, J., „The European Union’s role in the making and confirmation of customary international law“, in Lusa Bordin, F., Müller, A., und Pascual-Vives, F. (Hrsg.), The European Union and Customary International Law, Cambridge University Press, Cambridge 2023, S. 74 f.


59      Vgl. hierzu Urteile vom 21. Dezember 2016, Swiss International Air Lines (C‑272/15, EU:C:2016:993, Rn. 24), und vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 99) (in denen der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Unionsorgane bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen über eine große Bandbreite politischer Entscheidungsbefugnisse verfügen, was zwangsläufig Entscheidungen politischer Natur impliziert).


60      Meines Erachtens kann daher selbst im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, in dem die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt ist, seine Befugnis zur Kontrolle der Vereinbarkeit des Handelns der Union mit den Grundrechten nicht ausgeschlossen werden. Vgl. in diesem Sinne meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen KS und KD/Rat u. a. sowie Kommission/KS und KD (C‑29/22 P und C‑44/22 P, EU:C:2023:901, Nrn. 115 bis 120). Diese Rechtssachen sind noch beim Gerichtshof anhängig.


61      Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a. (C‑366/10, EU:C:2011:864, Rn. 101) (im Folgenden: Urteil Air Transport Association of America u. a.).


62      Vor dem Hintergrund des Vorbringens, mit dem die Stichhaltigkeit des dritten Klagegrundes des Front Polisario in Zweifel gezogen wurde, stellte das Gericht fest, dass sich diese Partei auf das Urteil Rat/Front Polisario und auf die darin vorgenommene Auslegung des Rechts auf Selbstbestimmung und des Grundsatzes der relativen Wirkung von Verträgen berufen könne, um die Gültigkeit des angefochtenen Beschlusses in Frage zu stellen. Vgl. angefochtenes Urteil, Rn. 297.


63      Ich habe insoweit auch keine Zweifel, da es einen Weg geben muss, der es der Union ermöglicht, mit bestimmten Gebieten, an denen sie ein berechtigtes Interesse hat, zu interagieren, ohne notwendigerweise die Unparteilichkeit der Union oder ihrer Mitgliedstaaten in Bezug auf den Status dieser Gebiete gefährden zu müssen. Diese auf zwei Säulen beruhende Politik wurde in der Lehre so beschrieben, dass sie darauf abzielt, „einen politischen und rechtlichen Raum“ zu öffnen, in dem die Begründung von Beziehungen von der Anerkennung getrennt ist; vgl. Fischer, S., The EU’s non-recognition and engagement policy towards Abkhazia and South Ossetia, European Institute for Security Studies (1.‑2. Dezember 2010), S. 3, und Coppieters, B., „Engagement without recognition“, in Vosioka, G., Doyle, J., Newman, E., Routledge Handbook of State Recognition, 1. Aufl., Routledge, London 2019, S. 243 f. (worin die Art und Weise beschrieben wird, in der die Herangehensweise der Union bei umstrittenen Gebieten entweder der Formel „Nichtanerkennung und Beziehungen“ oder der Formel „Beziehungen ohne Anerkennung“ folgt). Zu einem praktischen Beispiel für diesen Ansatz, bezüglich des Konflikts um Abchasien, vgl. Kooperationsrat EU-Georgien, 14. Tagung vom 12. Dezember 2023 (EU-GE 4651/1/13), Nr. 4.


64      Vgl. hierzu angefochtenes Urteil, Rn. 187 bis 189 und 240 bis 250).


65      Im ersten Rechtszug stützte der Front Polisario seine Klage auf insgesamt zehn Klagegründe, wobei nur der erste und der dritte Klagegrund dem angefochtenen Urteil zugrunde lagen. Die übrigen acht Klagegründe werfen auch weitere völkerrechtliche Fragen auf, wie die Achtung des humanitären Völkerrechts (zweiter Klagegrund), das Selbstbestimmungsrecht (siebter Klagegrund), die relative Wirkung von Verträgen (achter Klagegrund), das Recht der völkerrechtlichen Haftung (zehnter Klagegrund) sowie unionsrechtliche Fragen wie Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit (fünfter und sechster Klagegrund). Da das Gericht diese Klagegründe im angefochtenen Urteil nicht behandelt hat, werden sie von den vorliegenden Rechtsmitteln nicht erfasst.


66      Diese Fragen waren auch unmittelbar oder mittelbar in den Klagen enthalten, die den Beschlüssen vom 19. Juli 2018, Front Polisario/Rat (T‑180/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:496) (betreffend ein Protokoll zur Festlegung von Fangmöglichkeiten in den an die Westsahara angrenzenden Gewässern), vom 30. November 2018, Front Polisario/Rat (T‑275/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:869) (betreffend ein Luftverkehrsabkommen mit dem Königreich Marokko) und vom 8. Februar 2019, Front Polisario/Rat (T‑376/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:77) (betreffend einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über ein partnerschaftliches Fischereiabkommen mit dem Königreich Marokko im Licht des Urteils Western Sahara Campaign UK) zugrunde lagen.


67      Vgl. Urteile Rat/Front Polisario, Rn. 88 und 89, und Western Sahara Campaign UK, Rn. 63. Zu diesen Urteilen vgl. ferner Nrn. 96 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


68      Vgl. hierzu angefochtenes Urteil, Rn. 295 und 360.


69      Vgl. z. B. Weller, M., Escaping the self-determination trap, Nijhoff, Leiden 2008, S. 16 f. und Fn. 15 („Echte koloniale Selbstbestimmungsorgane besitzen bereits vor der Verwaltung des Selbstbestimmungsakts Rechtspersönlichkeit, haben das Recht auf die räumliche Einheit, das Recht, frei von Gewalt und repressiven Maßnahmen zu sein, sie können über eine nationale Befreiungsbewegung kämpfen und bei ihrem Kampf zweifellos international unterstützt werden. Sie können auch einseitig das Recht internationaler bewaffneter Konflikte anstelle des viel eingeschränkteren Rechts innerstaatlicher bewaffneter Konflikte, das nationale Konflikte abdeckt, zur Anwendung bringen“), und Knoll, B., The Legal Status of Territories Subject to Administration by International Organisations, Cambridge University Press, Cambridge 2009, S. 124 (demzufolge „eine Einheit … ein Rechtssubjekt [ist], soweit in Regeln des Völkerrechtssystems auf sie Bezug genommen wird“).


70      Urteil vom 22. Juni 2021 (C‑872/19 P, EU:C:2021:507).


71      Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat (Beeinträchtigung eines Drittstaats) (C‑872/19 P, EU:C:2021:507, Rn. 34).


72      Wie das Gericht in Rn. 144 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, liegt die in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehene Voraussetzung, dass eine natürliche oder juristische Person von dem mit der Klage angefochtenen Beschluss unmittelbar betroffen sein muss, nach ständiger Rechtsprechung nur vor, wenn zwei Kriterien kumulativ erfüllt sind. Als Erstes muss sich die beanstandete Maßnahme der Union auf die Rechtsstellung der betreffenden Person unmittelbar auswirken. Als Zweites darf sie ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lassen, ihre Umsetzung muss vielmehr rein automatisch erfolgen und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung anderer Durchführungsvorschriften ergeben. Vgl. auch Urteil vom 12. Juli 2022, Nord Stream 2/Parlament und Rat (C‑348/20 P, EU:C:2022:548, Rn. 43).


73      Demgemäß ist die sich aus dem Urteil vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission (25/62, EU:C:1963:17, S. 238), ergebende strenge Voraussetzung der individuellen Betroffenheit erfüllt.


74      Eine in gewisser Hinsicht ähnliche Frage wurde in dem Verfahren vermieden, das zum Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat (Beeinträchtigung eines Drittstaats) (C‑872/19 P, EU:C:2021:507), führte, da sich die Bolivarische Republik Venezuela, als diese Rechtssache erstmals beim Gericht anhängig gemacht wurde, inmitten eines Kampfes konkurrierender Ansprüche auf Vertretung dieses Landes zwischen Herrn Nicolás Maduro und Herrn Juan Guaidó befand, wobei die Mitgliedstaaten bezüglich der Frage, wer als Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela handeln könne, gespaltet waren. Der Gerichtshof brauchte sich mit der Frage nach der Fähigkeit, im Namen dieser Republik die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens zu genehmigen, jedoch nicht zu befassen, da der Rat im Januar 2021 Schlussfolgerungen erließ, mit denen diese festgefahrene Situation zugunsten von Herrn Nicolás Maduro aufgelöst wurde. Vgl. Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen des Rates zu Venezuela (25. Januar 2021, 5582/21).


75      In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission den Standpunkt eingenommen, dass keine(r) der 60 Organisationen, NGOs, Bauernverbände, gewählten Vertreter auf kommunaler Ebene, landwirtschaftlichen Organisationen oder anderen an den Konsultationen beteiligten Akteure befugt sei, gegen den angefochtenen Beschluss Klage zu erheben.


76      Insoweit kann ich mich dem Standpunkt des Rates und der Kommission anschließen, wonach der Umstand, dass der Front Polisario in der Resolution 34/37 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 21. November 1979, „Westsaharafrage“, als der Vertreter des Volkes der Westsahara benannt wurde, für sich genommen nicht ausreicht, um die Behauptung zu begründen, dass diese Partei in dieser Eigenschaft von der UNO und der internationalen Gemeinschaft tatsächlich anerkannt sei.


77      Vergleiche die Lage dieser Bewegung mit der Rolle der Palästinensischen Behörde für das Westjordanland und den Gazastreifen, die nach den „Bestimmungen des Israelisch-Palästinensischen Interimsabkommens vom 28. September 1995 über das Westjordanland und den Gazastreifen in bestimmten Gebieten internationale Übereinkünfte zugunsten der Palästinensischen Behörde schließen kann“. Vgl. Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss eines Europa-Mittelmeer‑Interimsassoziationsabkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der PLO zugunsten der Palästinensischen Behörde für das Westjordanland und den Gazastreifen (vorgelegt von der Kommission) (KOM[97] 51 endg.).


78      Der Front Polisario hat jedoch nie von der UNO oder von der Union und ihren Mitgliedstaaten die Bezeichnung „Volksbefreiungsbewegung“ erhalten. Zum Status und zu den Befugnissen einer „Volksbefreiungsbewegung“ vgl. Crawford, J., Brownlie’s Principles of Public International Law, 9. Aufl., Oxford University Press, 2019, S. 113, wonach diese als Befreiungsbewegungen anerkannten politischen Organisationen eine Reihe von Rechten und Pflichten haben, die u. a. die Fähigkeit umfassen, verbindliche internationale Übereinkünfte mit anderen internationalen juristischen Personen zu schließen, und das Recht, an Sitzungen der UNO als Beobachter teilzunehmen, wobei dieses Recht in verschiedenen Resolutionen der Generalversammlung ausdrücklich verliehen wird.


79      Vgl. in diesem Sinne auch angefochtenes Urteil, Rn. 6 und 104. Ähnlich die Präambel und die Art. 1, 24, 32, 46, 144 und 146 der „Verfassung“ der DARS. In Art. 32 heißt es u. a., dass „bis zur vollständigen Wiedererlangung der nationalen Souveränität … der Frente POLISARIO der politische Rahmen [ist], in dem die Saharauis vereint und politisch aktiviert werden, um ihren Bestrebungen und legitimen Rechten auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit Ausdruck zu verleihen und ihre nationale Einheit zu verteidigen und den Aufbau ihres unabhängigen Saharauischen Staates zu vervollständigen“.


80      Müsste man eine Parallele zur Organisation einer westlichen demokratischen Gesellschaft ziehen, wäre der Front Polisario bestenfalls eine der politischen Parteien, die sich um ein Mandat in einer noch zu bildenden Regierung bemühen. Eine noch zu wählende Partei wäre jedoch nicht fähig, diese Regierung zu vertreten.


81      Der derzeitige Standpunkt der Union scheint zu sein, dass der politische Prozess über die Westsaharafrage abzielen sollte auf „eine gerechte, realistische, pragmatische, nachhaltige und für beide Seiten annehmbare politische Lösung …, die auf einem ‚Kompromiss‘ beruht“; siehe Gemeinsame Erklärung der Europäischen Union und Marokkos für die 14. Tagung des Assoziationsrates (27. Juni 2019), Nr. 13, abrufbar unter https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2019/06/27/joint-declaration-by-the-european-union-and-the-kingdom-of-morocco-for-the-fourteenth-meeting-of-the-association-council/.


82      Vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2016, Swiss International Air Lines (C‑272/15, EU:C:2016:993, Rn. 24) (worin der Gerichshof ausgeführt hat, dass die Gestaltung der auswärtigen Beziehungen Entscheidungen politischer Natur verlangt, für die die Union in der Lage sein muss, frei zu entscheiden, welche Art von Behandlung Drittstaaten gewährt wird).


83      Vgl. zu den Folgen einer wirksamen Kontrolle das Gutachten vom 21. Juni 1971 concerning the legal consequences for States of the continued presence of South Africa in Namibia (South West Africa), notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970) (ICJ Reports 1971, S. 16, Rn. 118) (worin erläutert wird, dass „die physische Kontrolle eines Gebiets und nicht die Souveränität oder die Legitimität des Titels die Grundlage [bildet] für die Haftung des Staates für Handlungen, die andere Staaten betreffen“).


84      Vgl. hierzu Resolution 1514 (XV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Declaration on the granting of independence to colonial countries and peoples (14. Dezember 1960) (in der es heißt, dass „jeder Versuch einer teilweisen oder vollständigen Störung der nationalen Einheit und der territorialen Integrität eines Landes mit den Zielen und Grundsätzen der [VN‑]Charta unvereinbar ist“).


85      Diese Zuerkennung sollte ihm jedoch nur insoweit gewährt werden, als er tatsächlich danach strebt, die Interessen (eines Teils) des Volkes der Westsahara zu vertreten. Vgl. entsprechend Urteil vom 21. September 2023, China Chamber of Commerce for Import and Export of Machinery and Electronic Products u. a./Kommission (C‑478/21 P, EU:C:2023:685, Rn. 67) (Bedingung des Status eines „repräsentativen Verbandes“ in Bezug auf das Bestehen allgemeiner und kollektiver Interessen von Einführern oder Ausführern in einem Drittstaat sowie über das Nichteinschreiten eines Drittstaats).


86      Vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat (Beeinträchtigung eines Drittstaats) (C‑872/19 P, EU:C:2021:507, Rn. 34) (Anerkennung der Eigenschaft eines Drittstaats als „juristische Person“, da dieser Staat sonst keine Möglichkeit hätte, seine Interessen im Fall einer Verletzung seiner Rechte zu schützen).


87      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat (C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 127 und 128), und vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat (C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 192 und 193).


88      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament (294/83, EU:C:1986:166, Rn. 23).


89      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 93.


90      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung. Der Gerichtshof hat auf das Westsahara-Gutachten, Rn. 54 bis 56, und auf das Urteil des IGH vom 30. Juni 1995, Osttimor (Portugal/Australien) (ICJ Reports 1995, S. 90, Rn. 29) Bezug genommen.


91      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 89.


92      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 90. Schließlich enthält die Resolution 2625 (XXV) die „Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen“.


93      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 92.


94      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 98.


95      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 99. Für Kritik an der vom Gerichtshof vorgenommenen Prüfung der fehlenden Absicht der Union und des Königreichs Marokko bezüglich des Liberalisierungsabkommens von 2012 im Urteil Rat/Front Polisario, vgl. Kassoti, E., „The EU and Western Sahara: an assessment of recent developments“, European Law Review, Bd. 43(5), S. 746 ff., der die Ansicht vertreten hat, dass die Absicht der Parteien, die Westsahara einzubeziehen, schon nach den Umständen des Falles klar gewesen sei.


96      Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge wurde am 23. Mai 1969 in Wien geschlossen (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331).


97      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 100.


98      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 106.


99      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 106. So hat der Gerichtshof auch seine Schlussfolgerungen im Urteil Western Sahara Campaign UK (Rn. 63) zusammengefasst.


100      Vgl. in diesem Sinne auch Molnar, T., „The Court of Justice of the EU and the Interprétation of Customary International Law: Close Encounters of a Third Kind?“, in Merkouris, P., Follesdal, A., Ulfstein, G., Westerman, P. (Hrsg.), The interpretation of customary international law in international courts: Methods of interpretation, normative interactions and the role of coherence, Cambridge University Press, Cambridge 2023, S. 14 f. (nach dessen Ansicht „der Gerichtshof der EU es unterlassen hat, das Selbstbestimmungsrecht wirklich auszulegen“).


101      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, Brita (C‑386/08, EU:C:2010:91, Rn. 44 und 52), und Rat/Front Polisario, Rn. 100 (wobei Art. 34 WÜRV als „besondere Ausprägung“ des Grundsatzes der relativen Wirkung von Verträgen betrachtet wird). Für ein Beispiel, bei dem das WÜRV nach Auffassung des Gerichtshofs nicht das Völkergewohnheitsrecht widergespiegelt hat, vgl. Urteil vom 16. Juni 1998, Racke (C‑162/96, EU:C:1998:293, Rn. 59).


102      Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass das Völkergewohnheitsrecht die Union bindet. Vgl. z. B. Urteil Air Transport Association of America u. a., Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung.


103      Vor dem Urteil Rat/Front Polisario hatte der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein „Dritter“ im Sinne des Grundsatzes der relativen Wirkung von Verträgen, wie er in Art. 34 WÜRV kodifiziert ist, nicht nur einen „Staat“ zu betreffen hat. So hat er in seinem Urteil vom 25. Februar 2010, Brita (C‑386/08, EU:C:2010:91, Rn. 52), festgestellt, dass eine Auslegung des Assoziierungsabkommens EG‑Israel (ABl. 2000, L 147, S. 3) dahin gehend, dass die israelischen Zollbehörden für Waren mit Ursprung im Westjordanland zuständig wären, darauf hinausliefe, den palästinensischen Zollbehörden ohne die Zustimmung der Palästinensischen Befreiungsorganisation eine Verpflichtung aufzuerlegen.


104      Für eine andere Ansicht vgl. Odermatt, J., „International law as a challenge to EU acts: Front Polisario II“, Common Market Law Review, Bd. 60(1), Fn. 61 und Text S. 230 f.


105      Daher kann der Gerichtshof nicht wie im Urteil Rat/Front Polisario zu dem Ergebnis gelangen, dass das Gebiet der Westsahara nicht vom Geltungsbereich des streitigen Abkommens umfasst ist.


106      Angefochtenes Urteil, Rn. 311.


107      Das Gericht hat entschieden, dass das streitige Abkommen nur für Einzelpersonen wie die Ausführer der von diesem Abkommen erfassten Erzeugnisse und nicht für das Volk der Westsahara als „Dritter“ dieses Abkommens Rechte begründen könne, vgl. angefochtenes Urteil, Rn. 321 und 322. Im Schrifttum und in den Vorarbeiten zum WÜRV wird gewiss davon ausgegangen, dass unterschieden werden kann zwischen Verträgen, die natürlichen oder juristischen Personen in Drittstaaten faktische Vorteile verschaffen, und solchen, die für einen Drittstaat Rechte und Pflichten begründen. Vgl. hierzu Dahm, G., Delbrück, J., Wolfrum, R., Völkerrecht / Der Staat und andere Völkerrechtssubjekte; Räume unter internationaler Verwaltung, Bd. I/3, 2. Aufl., De Gruyter, Berlin 2002, S. 617, Fizmaurice, M., „Third Parties and the law of Treaties“, in von Bogdandy, A., und Wolfrum, R. (Hrsg.), Max Planck Yearbook of United Nations Law, Bd. 6, 2002, S. 104 f., und Waldock, H., „Third Report on the Law of Treaties“, Yearbook of the International Law Commission, Bd. 2, 1964, S. 21 (die allesamt unterscheiden zwischen echten Verträgen zugunsten Dritter [d. h. solchen, die dem Dritten eigene Rechte einräumen] und Verträgen zugunsten Dritter im technischen Sinne [die dem Dritten oder dessen Rechtssubjekten Vorteile verschaffen, ohne dass sie am Vertrag beteiligt sind oder ihnen bestimmte Rechte verliehen werden]).


108      Angefochtenes Urteil, Rn. 323 bis 326.


109      Angefochtenes Urteil, Rn. 384.


110      Vgl. hierzu Wrange, P., „Self-Determination, occupation and the authority to exploit natural resources: trajectories from four European judgments on Western Sahara“, Israel Law Review, Bd. 52(1), 2019, S. 18.


111      Angefochtenes Urteil, Rn. 337.


112      Vgl., in Bezug auf Art. 35 WÜRV, Laly-Chevalier, C., und Rezek, F., „Article 35 – Convention de 1969“, in Corten, O., und Klein, P. (Hrsg.), Les conventions de Vienne sur le droit des traités – commentaire article par article, Bd. II, Bruylant, Brüssel 2006, S. 1429, und Proells, A., „Article 35 General rule regarding third States“, in Dörr, O., Schmalenbach, K. (Hrsg.), Vienna Convention on the law of Treaties: A commentary, Springer, Berlin 2018, S. 707. Vgl. auch, in Bezug auf Art. 36 WÜRV, d’Argent, P., in Corten, O., und Klein, P., ebd., S. 1468 f., und Proells, A., in Dörr, O., Schmalenbach, K., ebd., S. 720.


113      Vgl. hierzu Odermatt, J., „International law as a challenge to EU acts: Front Polisario II“, Common Market Law Review, Bd. 60(1), S. 231, der darin ausführt: „Im Fall von Staaten oder internationalen Organisationen ist klar, wie die Zustimmung zu erteilen ist: durch schriftliche Zustimmung. Wie sich bei der vorliegenden Rechtssache zeigt, ist das Zustandebringen der Zustimmung eines Dritten, insbesondere eines unter Okkupation lebenden Volkes, eine schwierigere Aufgabe.“


114      Siehe hierzu meine Erörterung in den Nrn. 79 bis 88 der vorliegenden Schlussanträge.


115      Nach Ansicht von Crawford besteht die übliche, wenn auch restriktive Auffassung darin, dass Kapitel XI nur auf „Gebiete, die zum Zeitpunkt der Annahme der Charta als Kolonien bekannt waren“, Anwendung finden sollte. Das Gebiet der Westsahara erfüllt dieses Kriterium. Vgl. auch Crawford, J., The Creation of States in International Law, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford 2007, S. 607.


116      Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 23, 93 und 105.


117      Wie Crawford formuliert hat „lag es weitgehend an Kapitel XI, dass Mitglieder die Anwendung des Rechts auf Selbstbestimmung ausgeweitet und entwickelt haben“. Vgl. Crawford, J., The Creation of States in International Law, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford 2007, S. 603.


118      Vereinte Nationen, „Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung je Region“, abrufbar unter https://www.un.org/dppa/decolonization/en/nsgt.


119      Hervorhebung nur hier.


120      Siehe Nr. 17 der vorliegenden Schlussanträge. In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Rat/Front Polisario (C‑104/16 P, EU:C:2016:677, Nrn. 188 bis 191) hat Generalanwalt Wathelet vorgeschlagen, dass Spanien nicht rechtmäßig auf seine Eigenschaft als Verwaltungsmacht verzichten könne, so dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass Spanien bis heute die Verwaltungsmacht des Gebiets der Westsahara bleibe.


121      Vgl. z. B. Chapaux, V., „The sovereignty over natural resources: the question of the EU-Morocco Fisheries Agreement“, in Arts, K., und Pinto Leite, P. (Hrsg.), International Law and the Question of Western Sahara, International Platform of Jurists for East Timor, University of Michigan, 2008, S. 241.


122      Torres-Spelliscy, G., „National Resources in Non-Self-Governing Territories“, in Boukhars, A., und Rousselier, J. (Hrsg.), Perspective on Western Sahara: Myths, Nationalisms and Geopolitics, Rowman & Littlefield, Lanham 2013, S. 241.


123      Weder die Union noch ihre Mitgliedstaaten sehen das Königreich Marokko als Besatzungsmacht an. Gleiches gilt für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. In zwei Resolutionen aus den 1970er Jahren sah die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Annexion der Westsahara durch das Königreich Marokko als Besatzung dieses Gebiets an. Dies unterscheidet sich insbesondere von der Situation in Bezug auf den Staat Israel und das Gebiet des Westjordanlands und des Gazastreifens, die die internationale Gemeinschaft, einschließlich der Union und ihrer Mitgliedstaaten, als einen Zustand der Besatzung betrachten. Vgl. u. a. Gutachten des IGH vom 9. Juli 2004 zu den Rechtsfolgen des Baus einer Mauer im besetzten palästinensischen Gebiet (ICJ Reports 2004, S. 136, Rn. 78). Vgl. auch Urteil vom 12. November 2019, Organisation juive européenne und Vignoble Psagot (C‑363/18, EU:C:2019:954, Rn. 34, 35 und 48). Die vorliegende Situation unterscheidet sich auch von derjenigen, die dem Urteil East Timor (Portugal/Australien) (ICJ Reports 1995, S. 90) zugrunde lag, in dem die Präsenz der Republik Indonesien in Ost-Timor von der internationalen Gemeinschaft als Besatzung angesehen wird. Hinzu kam, dass Portugal den Status einer Verwaltungsmacht dieses Gebiets hatte. Dagegen sind viele Stimmen im Schrifttum der Ansicht, dass der Status des Königreichs Marokko in der Westsahara der eines Besatzers sei. Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache Western Sahara Campaign UK (C‑266/16, EU:C:2018:1, Nr. 223).


124      Dies ergibt sich aus ihrer Entscheidung, die Westsahara wie ein NSGT und das saharauische Volk als Subjekt zu behandeln, das das Recht hat, die Zukunft dieses Gebiets zu wählen. Ebenso bedeutet die Tatsache, dass das Königreich Marokko als Verwaltungsmacht angesehen wird, dass es in Anbetracht seiner Verpflichtungen aus Art. 73 der VN-Charta, einschließlich der Verpflichtung, den Weg für das saharauische Volk vorzubereiten, die Wahl über die Art und Weise der Ausübung seiner Souveränität auszuüben, nicht die volle Souveränität ausüben kann.


125      Dieser Standpunkt der Neutralität kommt im dritten Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zum Ausdruck: „Die Union beeinträchtigt nicht das Ergebnis des politischen Prozesses unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen über den endgültigen Status der Westsahara und hat immer wieder ihr Engagement für die Beilegung der Streitigkeiten in der Westsahara, die gegenwärtig von den Vereinten Nationen in die Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung aufgenommen ist und derzeit in weiten Teilen durch das Königreich Marokko verwaltet wird, bekräftigt. Sie unterstützt voll und ganz die Bemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen und seines Persönlichen Gesandten, den Parteien dabei zu helfen, zu einer gerechten, dauerhaften und für beide Seiten annehmbaren politischen Lösung zu gelangen, die im Rahmen von Vereinbarungen, die den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen gemäß den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, insbesondere seiner Resolutionen 2152 (2014), 2218 (2015), 2385 (2016), 2351 (2017) und 2414 (2018), entsprechen, die Selbstbestimmung des Volkes von Westsahara ermöglichen würde.“


126      Vgl. u. a. Urteil vom 21. Dezember 2016, Swiss International Air Lines (C‑272/15, EU:C:2016:993, Rn. 24).


127      Das weite Ermessen, über das die Unionsorgane in (wirtschaftlichen) Außenbeziehungen insofern verfügen, als die Führung dieses Bereichs komplexe Beurteilungen politischer und wirtschaftlicher Art erfordert, bedeutet, dass der Gerichtshof seine Kontrollbefugnisse nur insoweit ausüben kann, als diesen Organen ein offensichtlicher Fehler unterlaufen ist. Vgl. insoweit Urteil vom 4. Oktober 1983, Fediol/Kommission (191/82, EU:C:1983:259, Rn. 30). Dies bedeutet, dass in Ermangelung klarer Völkerrechtssätze, anhand deren der Gerichtshof diese Kontrolle ausüben kann, die von den Unionsorganen vorgenommene Auslegung keinen offensichtlichen Fehler darstellen kann.


128      Vgl. hierzu auch Urteil Western Sahara Campaign UK, Rn. 72 (in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass das „Königreich Marokko … kategorisch ausgeschlossen [hat], Besatzungs- oder Verwaltungsmacht des Gebiets der Westsahara zu sein“).


129      Ich gehe davon aus, dass auch aus diesem Grund das Königreich Marokko den Vereinten Nationen keine regelmäßigen Berichte über das Gebiet der Westsahara zu übermitteln scheint, wie dies nach Art. 73 Buchst. e der VN-Charta von einer Verwaltungsmacht verlangt würde.


130      Vgl. z. B. das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Kosovo * andererseits (ABl. 2016, L 71, S. 3, im Folgenden: Assoziierungsabkommen EU-Kosovo) (worin es im relevanten Teil des Abkommens heiß, dass es „nicht die Standpunkte zum Status [berührt] und … mit der Resolution 1244/99 des VN-Sicherheitsrates und dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Einklang steht“), das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen den CARIFORUM-Staaten einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits (ABl. 2008, L 289, S. 3), und das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den SADC‑WPA-Staaten andererseits (ABl. 2016, L 250, S. 3), in denen in Anhang IX des Protokolls Nr. 1 und in Anhang VIII mehrere Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung aufgeführt sind, „unbeschadet des Status dieser Länder und Hoheitsgebiete oder künftiger Änderungen ihres Status“.


131      Vgl. in diesem Sinne Urteil Rat/Front Polisario, Rn. 92.


132      Wie Crawford ausführt, „soweit diese Souveränität das absolute Recht bedeutet, das betreffende Gebiet zu kontrollieren oder über es zu verfügen, beschränken die Verpflichtung aus Art. 73b und der damit verbundene Grundsatz der Selbstbestimmung die Souveränität eines verwaltenden Staates erheblich“. Vgl. Crawford, J., The Creation of States in International Law, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford 2007, S. 615. Dass das Königreich Marokko seine souveränen Befugnisse im Gebiet der Westsahara nicht „sämtlich“ ausübt, war auch einer der Gründe, aus denen der Gerichtshof im Urteil vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario (C‑104/16 P, EU:C:2016:973, Rn. 95), festgestellt hat, dass das Assoziationsabkommen auf dieses Gebiet nicht anwendbar sei.


133      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache C‑399/22, Confédération paysanne (Melonen und Tomaten aus der Westsahara), Nr. 138.


134      Bezüglich der NSGT bekräftigt z. B. die Resolution 50/33 der Generalversammlung der Vereinten Nationen „das unveräußerliche Recht der Völker der Kolonialgebiete und der [NSGT] auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit und Nutzung der natürlichen Ressourcen ihrer Hoheitsgebiete sowie ihr Recht, über diese Ressourcen in ihrem besten Interesse zu verfügen“. In der Resolution 1803 (XVII) der Generalversammlung der Vereinten Nationen z. B. wird das Recht auf dauerhafte Souveränität über Reichtum und natürliche Ressourcen als „ein grundlegender Bestandteil des Rechts auf Selbstbestimmung“ eingestuft (VN Dok. A/RES/1803 [XVII], 14. Dezember 1962, Präambel, Nr. 2).


135      Vgl. z. B. Gilbert, J., Natural Resources and Human Rights: An Appraisal, Oxford University Press, Oxford 2018, S. 12 und das dort angeführte Schrifttum.


136      Schreiben des stellvertretenden Generalsekretärs für Rechtsangelegenheiten, Rechtsberater, an den Präsidenten des Sicherheitsrats vom 29. Januar 2002 (Dok. S/2002/161).


137      Ebd., Rn. 24. Wie das Gericht zu Recht hervorgehoben hat, ist dieses Schreiben keine Rechtsquelle und hat jedenfalls keine rechtliche Bindungswirkung. Vgl. angefochtenes Urteil, Rn. 385. Die Auffassung von Corell hat jedoch großes Gewicht im Schrifttum erlangt, in dem dies häufig als die richtige Auslegung des Völkerrechts anerkennt. Vgl. z. B. Torres-Spelliscy, G., „National Resources in Non-Self-management Territories“, in Boukhars, A., und Rousselier, J. (Hrsg.), Perspective on Western Sahara: Myths, Nationalisms and Geopolitics, Rowman & Littlefield, Lanham 2013, S. 235.


138      Angefochtenes Urteil, Rn. 328 bis 384.


139      Vgl. Art. 61 Abs. 1 Satz 2 2. Alternative der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union.