Language of document : ECLI:EU:T:2011:444

Rechtssache T‑257/07

Französische Republik

gegen

Europäische Kommission

„Gesundheitspolizei – Verordnung (EG) Nr. 999/2001 – Schutz gegen transmissible spongiforme Enzephalopathien – Schafe und Ziegen – Verordnung (EG) Nr. 746/2008 – Erlass von Tilgungsmaßnahmen, die weniger einschränkend sind als die vorangegangenen – Vorsorgeprinzip“

Leitsätze des Urteils

1.      Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Durchführung – Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Gesundheit – Anwendung des Vorsorgeprinzips

(Art. 3 Buchst. p EG, 6 EG, 152 Abs. 1 EG, 153 Abs. 1 und 2 EG und 174 Abs. 1 und 2 EG; Verordnung Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 1)

2.      Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Durchführung – Wissenschaftliche Risikobewertung

(Art. 152 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 6 Abs. 2)

3.      Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Durchführung – Risikobewertung – Bestimmung des Risikoniveaus

(Art. 152 Abs. 1 EG)

4.      Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Durchführung – Berücksichtigung der Erfordernisse im Bereich des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und der Umwelt – Anwendung des Vorsorgeprinzips

(Art. 152 Abs. 1 EG; Verordnung Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 2)

5.      Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Ermessen der Unionsorgane – Umfang – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

6.      Einrede der Rechtswidrigkeit – Gegenstand – Beurteilung der Rechtmäßigkeit – Kriterien

(Art. 263 AEUV)

7.      Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Anwendung des Vorsorgeprinzips – Umfang – Grenzen – Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht

(Art. 152 Abs. 1 EG)

8.      Landwirtschaft – Angleichung der gesundheitspolizeilichen Vorschriften – Schutzmaßnahmen in Bezug auf transmissible spongiforme Enzephalopathien – Identifizierung der gefährdeten Tiere im Rahmen der Ermittlungen

(Verordnung Nr. 999/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 13 Abs. 1 Buchst. b und c, 23 und 24 Abs. 2)

1.      Das Vorsorgeprinzip stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der in den Art. 3 Buchst. p EG, 6 EG, 152 Abs. 1 EG, 153 Abs. 1 und 2 EG und 174 Abs. 1 und 2 EG verankert ist und die zuständigen Behörden verpflichtet, im genauen Rahmen der Ausübung ihrer Befugnisse nach der einschlägigen Regelung geeignete Maßnahmen zu treffen, um bestimmte potenzielle Risiken für die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt auszuschließen, indem sie den mit dem Schutz dieser Interessen verbundenen Erfordernissen Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen einräumen.

Ferner erlaubt das Vorsorgeprinzip, wie dies in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit im Zusammenhang des Lebensmittelrechts zum Ausdruck kommt, den Erlass vorläufiger Maßnahmen des Risikomanagements zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus, wenn nach einer Auswertung der verfügbaren Informationen die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen festgestellt wird, aber wissenschaftlich noch Unsicherheit besteht.

Wenn daher das Vorliegen oder der Umfang von Gefahren für die menschliche Gesundheit wissenschaftlich ungewiss ist, können die Organe in Anwendung des Vorsorgeprinzips Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe dieser Gefahren klar dargelegt sind.

Innerhalb des Verfahrens, das mit dem Erlass geeigneter Maßnahmen zur Vermeidung bestimmter potenzieller Gefahren für die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt aufgrund des Vorsorgeprinzips durch ein Organ endet, lassen sich drei aufeinanderfolgende Schritte unterscheiden: erstens die Ermittlung der potenziell abträglichen Wirkungen, die sich aus einem Vorgang ergeben, zweitens die Bewertung der mit diesem Vorgang verbundenen Gefahren für die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt und drittens, wenn die ermittelten potenziellen Gefahren die Schwelle der gesellschaftlichen Akzeptanz überschreiten, das Risikomanagement durch den Erlass geeigneter Schutzmaßnahmen. Während der erste dieser Schritte keiner näheren Erläuterung bedarf, verdienen die beiden nächsten eine nähere Betrachtung.

(vgl. Randnrn. 66-69)

2.      Die Bewertung der Gefahren für die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt besteht für das Organ, das sich mit potenziell abträglichen Wirkungen eines Vorgangs konfrontiert sieht, in der wissenschaftlichen Einschätzung dieser Gefahren und der Feststellung, ob sie das für die Gesellschaft annehmbar erscheinende Gefahrenniveau überschreiten. Damit die Organe der Union eine solche Einschätzung der Gefahren vornehmen können, müssen sie daher zum einen über eine wissenschaftliche Bewertung der Gefahren verfügen und zum anderen das Gefahrenniveau festlegen, das für die Gesellschaft nicht mehr akzeptabel erscheint.

Insbesondere ist die wissenschaftliche Risikobewertung ein wissenschaftliches Verfahren, mit dem so weit wie möglich eine Gefahr ermittelt und beschrieben, eine Abschätzung des Risikos vorgenommen und das Risiko umschrieben wird. Da es sich um ein wissenschaftliches Verfahren handelt, muss die zuständige Stelle die wissenschaftliche Risikobewertung wissenschaftlichen Experten übertragen.

Im Übrigen muss die wissenschaftliche Risikobewertung gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit auf den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und ist in einer unabhängigen, objektiven und transparenten Art und Weise vorzunehmen. Insoweit bedeutet die Pflicht der Organe, ein hohes Niveau des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und der Umwelt sicherzustellen, dass ihre Entscheidungen unter voller Berücksichtigung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Daten getroffen und auf die neuesten internationalen Forschungsergebnisse gestützt werden müssen.

Von einer wissenschaftlichen Risikobewertung kann nicht verlangt werden, dass sie den Organen zwingende wissenschaftliche Beweise für das tatsächliche Vorliegen des Risikos und die Schwere der potenziellen nachteiligen Wirkungen im Fall seiner Verwirklichung liefert. Der Kontext der Anwendung des Vorsorgeprinzips entspricht nämlich jedenfalls einem Kontext wissenschaftlicher Unsicherheit. Eine vorbeugende Maßnahme darf indessen nicht mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden, die auf wissenschaftlich noch nicht verifizierte bloße Vermutungen gestützt ist.

Außerdem darf eine vorbeugende Maßnahme oder umgekehrt ihre Rücknahme oder Abschwächung nicht von dem Nachweis abhängig gemacht werden, dass keinerlei Risiken bestehen, weil ein solcher Nachweis im Allgemeinen aus wissenschaftlicher Sicht nicht erbracht werden kann, da es in der Praxis ein Risikoniveau „null“ nicht gibt. Mithin kann eine vorbeugende Maßnahme nur dann getroffen werden, wenn das Risiko, ohne dass seine Existenz und sein Umfang durch zwingende wissenschaftliche Daten in vollem Umfang nachgewiesen worden wären, auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Maßnahme verfügbaren wissenschaftlichen Daten gleichwohl hinreichend dokumentiert erscheint. In einem solchen Zusammenhang entspricht somit der Begriff „Risiko“ dem Grad der Wahrscheinlichkeit nachteiliger Wirkungen für das von der Rechtsordnung geschützte Gut aufgrund der Akzeptanz bestimmter Maßnahmen oder bestimmter Verfahren.

Schließlich kann sich eine vollständige wissenschaftliche Risikobewertung wegen der Unzulänglichkeit der verfügbaren wissenschaftlichen Daten als unmöglich erweisen kann. Dies kann indessen die zuständige Behörde nicht daran hindern, aufgrund des Vorsorgeprinzips vorbeugende Maßnahmen zu treffen. In diesem Fall müssen die wissenschaftlichen Experten trotz der fortbestehenden wissenschaftlichen Ungewissheit eine wissenschaftliche Risikobewertung vornehmen, die der zuständigen öffentlichen Stelle eine so zuverlässige und fundierte Information vermittelt, dass diese Stelle die volle Tragweite der aufgeworfenen wissenschaftlichen Frage erfassen und ihre Politik in Kenntnis der Sachlage bestimmen kann.

Mithin ist die Unerlässlichkeit bestimmter Bewertungen durch Wissenschaftler, die an der wissenschaftlichen Bewertung der Risiken für die menschliche Gesundheit durch den Erlass von Vorschriften, mit denen nach dem Vorsorgeprinzip getroffene vorläufige Maßnahmen abgeschwächt werden, teilhaben, insbesondere aufgrund der verfügbaren Daten zu beurteilen.

(vgl. Randnrn. 70-71, 73-77, 178-179)

3.      Im Rahmen der Risikobewertung steht die Bestimmung des Risikoniveaus, das für die Gesellschaft unannehmbar erscheint – soweit die anwendbaren Rechtsvorschriften gewahrt werden –, den Organen zu, die für die in der Festlegung des für diese Gesellschaft angemessenen Schutzniveaus bestehende politische Entscheidung zuständig sind. Diese Organe haben die kritische Schwelle für die Wahrscheinlichkeit nachteiliger Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt und für die Schwere dieser potenziellen Wirkungen festzulegen, die ihnen für diese Gesellschaft nicht mehr annehmbar erscheint und bei deren Überschreitung im Interesse des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und der Umwelt trotz der weiterhin bestehenden wissenschaftlichen Ungewissheit der Rückgriff auf vorbeugende Maßnahmen erforderlich wird.

Bei der Bestimmung des für die Gesellschaft unannehmbar erscheinenden Risikoniveaus sind die Organe durch ihre Pflicht zur Sicherstellung eines hohen Niveaus des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und der Umwelt gebunden. Dieses hohe Schutzniveau muss nicht unbedingt auf das in technischer Hinsicht Höchstmögliche abzielen, um mit dieser Vorschrift vereinbar zu sein. Im Übrigen ist den Organen eine rein hypothetische Betrachtung des Risikos und eine Ausrichtung ihrer Entscheidungen auf ein „Nullrisiko“ untersagt.

Die Bestimmung des für die Gesellschaft unannehmbar erscheinenden Risikoniveaus hängt von der Beurteilung der besonderen Umstände jedes Einzelfalls durch die zuständige öffentliche Stelle ab. Insoweit kann die betreffende Stelle insbesondere die Schwere der Auswirkung, die der Eintritt dieses Risikos auf die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt hat, einschließlich des Umfangs der möglichen nachteiligen Wirkungen, die Dauer, die Reversibilität oder die möglichen Spätfolgen dieser Schäden sowie die mehr oder weniger konkrete Wahrnehmung des Risikos nach dem Stand der verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen.

(vgl. Randnrn. 78-80)

4.      Im Rahmen der Anwendung des Vorsorgeprinzips umfasst das Risikomanagement die Gesamtheit der Maßnahmen eines mit einem Risiko konfrontierten Organs, die dieses auf ein für die Gesellschaft annehmbar erscheinendes Niveau zurückführen sollen, wie es seiner Pflicht zur Gewährleistung eines hohen Niveaus des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und der Umwelt entspricht. Übersteigt nämlich dieses Risiko das für die Gesellschaft annehmbar erscheinende Niveau, ist das Organ aufgrund des Vorsorgeprinzips gehalten, vorläufige Maßnahmen des Risikomanagements zu ergreifen, die erforderlich sind, um ein hohes Schutzniveau sicherzustellen.

Gemäß Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit müssen die betreffenden vorläufigen Maßnahmen im Vergleich zu entsprechenden bereits erlassenen Maßnahmen verhältnismäßig, frei von Diskriminierung, transparent und kohärent sein.

Schließlich ist es Sache der zuständigen Behörde, die betreffenden vorläufigen Maßnahmen binnen angemessener Frist zu überprüfen. Wenn nämlich neue Informationen die Wahrnehmung eines Risikos ändern oder zeigen, dass diesem Risiko durch Maßnahmen begegnet werden kann, die weniger einschränkend sind als die bestehenden, obliegt es den Organen und insbesondere der Kommission, die das Initiativrecht hat, für eine Anpassung der Regelung an die neuen Gegebenheiten zu sorgen. Jedenfalls muss die Abschwächung zuvor erlassener vorbeugender Maßnahmen mit neuen Gesichtspunkten gerechtfertigt werden, die zu einer anderen Bewertung des betreffenden Risikos führen.

Diese neuen Gesichtspunkte, wie etwa neue Erkenntnisse oder neue wissenschaftliche Entdeckungen, ändern, wenn sie eine Abschwächung einer vorbeugenden Maßnahme rechtfertigen, den konkreten Inhalt der Pflicht der Behörden zur ständigen Aufrechterhaltung eines hohen Niveaus des Schutzes der menschlichen Gesundheit. Diese neuen Gesichtspunkte können nämlich die Bewertung sowie das Niveau des gesellschaftlich annehmbar erscheinenden Risikos ändern. Die Rechtmäßigkeit des Erlasses einer weniger einschränkenden vorbeugenden Maßnahme ist nicht anhand des Niveaus des gesellschaftlich annehmbar erscheinenden Risikos zu beurteilen, das beim Erlass der ursprünglichen vorbeugenden Maßnahmen Berücksichtigung gefunden hat. Der Erlass der ursprünglichen vorbeugenden Maßnahmen mit dem Ziel, das Risiko auf ein gesellschaftlich annehmbar erscheinendes Niveau zu bringen, erfolgt nämlich aufgrund einer Bewertung der Risiken und insbesondere der Festlegung des gesellschaftlich annehmbar erscheinenden Risikoniveaus. Wenn neue Gesichtspunkte diese Bewertung der Risiken ändern, ist die Rechtmäßigkeit des Erlasses weniger einschränkender vorbeugender Maßnahmen unter Berücksichtigung dieser neuen Gesichtspunkte und nicht nach Maßgabe der Gesichtspunkte zu würdigen, die die Bewertung der Risiken im Rahmen des Erlasses der ursprünglichen vorbeugenden Maßnahmen bestimmt haben. Nur wenn das neue Risikoniveau das gesellschaftlich annehmbar erscheinende Risikoniveau übersteigt, hat der Richter eine Verletzung des Vorsorgeprinzips festzustellen.

(vgl. Randnrn. 81-83, 212-213)

5.      Die Unionsorgane verfügen im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen hinsichtlich der Definition der verfolgten Ziele und der Wahl des für ihr Vorgehen geeigneten Instrumentariums. Außerdem müssen sie bei ihrer Risikobewertung komplexe Würdigungen vornehmen, um anhand der technischen und wissenschaftlichen Informationen, die ihnen von Experten im Rahmen der wissenschaftlichen Risikobewertung geliefert werden, zu prüfen, ob die Risiken für die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und die Umwelt das für die Gesellschaft annehmbar erscheinende Risikoniveau überschreiten.

Dieses weite Ermessen und diese komplexen Beurteilungen bedeuten, dass die Prüfung durch den Unionsrichter beschränkt ist. Dieses Ermessen und diese Beurteilungen führen nämlich dazu, dass sich die gerichtliche Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob die Organe bei der Ausübung ihrer Befugnisse einen offensichtlichen Fehler oder einen Ermessensmissbrauch begangen oder die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten haben.

Bei der Prüfung durch den Unionsrichter, ob dem Rechtsakt eines Organs ein offensichtlicher Beurteilungsfehler anhaftet, kann ein die Nichtigerklärung dieses Rechtsakts rechtfertigender offensichtlicher Irrtum eines Organs bei der Würdigung eines komplexen Sachverhalts nur festgestellt werden, wenn die vom Kläger vorgebrachten Beweise ausreichen, um die Sachverhaltswürdigung in dem Rechtsakt als nicht plausibel erscheinen zu lassen. Vorbehaltlich dieser Plausibilitätsprüfung darf das Gericht die Beurteilung eines komplexen Sachverhalts durch den Urheber der Entscheidung nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen.

Die Beschränkung der Kontrolle durch den Unionsrichter berührt jedoch nicht dessen Pflicht, die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen sowie zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen.

In Fällen, in denen ein Organ über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, kommt der Kontrolle der Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht, grundlegende Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört u. a. die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und seine Entscheidung hinreichend zu begründen.

Die Vornahme einer möglichst erschöpfenden wissenschaftlichen Risikobewertung auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten, die auf den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, der Transparenz und der Unabhängigkeit beruhen, stellt daher eine wichtige Verfahrensgarantie zur Gewährleistung der wissenschaftlichen Objektivität der Maßnahmen und zur Verhinderung des Erlasses willkürlicher Maßnahmen dar.

(vgl. Randnrn. 84-89, 214)

6.      Die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts der Union ist anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen. Folglich können Umstände, die nach dem Erlass des Rechtsakts der Union eingetreten sind, bei der Beurteilung seiner Rechtmäßigkeit nicht berücksichtigt werden.

(vgl. Randnr. 172)

7.      Die Unionsorgane verfügen im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen hinsichtlich der Wahl des für ihr Vorgehen geeigneten Instrumentariums. Im Übrigen haben sie zwar die Pflicht, ein hohes Niveau des Schutzes der menschlichen Gesundheit sicherzustellen, verfügen aber hinsichtlich der Wahl des für ihr Vorgehen geeigneten Instrumentariums bei der Erfüllung dieser Verpflichtung ebenfalls über ein weites Ermessen. Dieses weite Ermessen der Organe bedeutet, dass der Kontrolle der Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht, grundlegende Bedeutung zukommt.

Eine dieser Garantien ist die Forderung an die Behörden, wenn sie aufgrund des Vorsorgeprinzips vorbeugende Maßnahmen erlassen, um ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit sicherzustellen, dass sie über alle hierfür erheblichen Anhaltspunkte verfügen müssen. Sie müssen somit über eine wissenschaftliche Risikobewertung verfügen, die auf den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, der Transparenz und der Unabhängigkeit beruht. Dieses Erfordernis stellt eine wichtige Garantie zur Gewährleistung der wissenschaftlichen Objektivität der Maßnahmen und zur Verhinderung des Erlasses willkürlicher Maßnahmen dar.

Eine andere dieser Garantien besteht in der Forderung an die Behörden, dass sie beim Erlass von Vorschriften, mit denen vorläufige Maßnahmen abgeschwächt werden, die aufgrund des Vorsorgeprinzips erlassen wurden, um ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit sicherzustellen, über eine wissenschaftliche Bewertung der Risiken für die menschliche Gesundheit verfügen, die durch den Erlass solcher Vorschriften entstehen. Eine solche wissenschaftliche Bewertung der Risiken für die menschliche Gesundheit umfasst grundsätzlich eine von wissenschaftlichen Experten vorgenommene vollständige Bewertung der Wahrscheinlichkeit einer Exposition des Menschen gegenüber schädlichen Wirkungen der Maßnahmen für seine Gesundheit. Mithin umfasst sie grundsätzlich eine quantitative Bewertung der betreffenden Risiken.

(vgl. Randnrn. 174-177)

8.      Gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 999/2001 mit Vorschriften zur Verhütung, Kontrolle und Tilgung bestimmter transmissibler spongiformer Enzephalopathien werden zur Identifizierung aller anderen gefährdeten Tiere nach Maßgabe von Anhang VII Nr. 1 Ermittlungen durchgeführt. Außerdem werden gemäß Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 999/2001 alle Tiere und tierischen Erzeugnisse gemäß Anhang VII Nr. 2 dieser Verordnung, die bei den Ermittlungen nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. b als gefährdet identifiziert wurden, getötet und nach der Verordnung Nr. 1774/2002 beseitigt. Somit werden nach dieser Vorschrift die Tiere getötet und beseitigt, die durch Ermittlungen gemäß Anhang VII Nr. 1 der Verordnung Nr. 999/2001 identifiziert wurden und die außerdem die Kriterien der Nr. 2 dieses Anhangs erfüllen.

Gemäß Art. 23 der Verordnung Nr. 999/2001 kann die Kommission nach Anhörung des zuständigen wissenschaftlichen Ausschusses zu allen Fragen, die sich auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken können, nach dem Ausschussverfahren des Art. 24 Abs. 2 die Anhänge dieser Verordnung ändern. Somit hat der Gesetzgeber der Kommission die Befugnis zur Änderung der Anhänge der Verordnung Nr. 999/2001 übertragen.

Angesichts des Geltungsumfangs von Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Art. 23 der Verordnung Nr. 999/2001 hat die Kommission die Zuständigkeit, durch Verordnung, die im Ausschussverfahren nach Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 999/2001 ergeht, die bei den Ermittlungen identifizierten Tiere abzugrenzen, die getötet und beseitigt werden müssen. Da nämlich Art. 13 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung unter Verweisung auf die Kriterien der Nr. 2 des Anhangs VII die Tiere bestimmt, die getötet und beseitigt werden müssen, verfügt die Kommission gemäß Art. 23 der Verordnung über die Befugnis, Vorschriften zu erlassen, mit denen die Tiere abgegrenzt werden, die zu töten und zu beseitigen sind, nachdem sie bei den erwähnten Ermittlungen identifiziert wurden.

(vgl. Randnrn. 206-208)