Language of document : ECLI:EU:C:2012:140

Rechtssache C‑135/10

Società Consortile Fonografici (SCF)

gegen

Marco Del Corso

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte d’appello di Torino)

„Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Unmittelbare Anwendbarkeit des Rom-Abkommens, des TRIPS-Übereinkommens und des WPPT in der Unionsrechtsordnung – Richtlinie 92/100/EG – Art. 8 Abs. 2 – Richtlinie 2001/29/EG – Begriff ‚Öffentliche Wiedergabe‘– Öffentliche Wiedergabe von Tonträgern im Rahmen von Radiosendungen, die in einer Zahnarztpraxis ausgestrahlt werden“

Leitsätze des Urteils

1.        Völkerrechtliche Verträge – Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) – Vertrag der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) über Darbietungen und Tonträger – Anwendbarkeit in der Unionsrechtsordnung – Keine unmittelbare Wirkung

(TRIPS-Übereinkommen; Vertrag der Weltorganisation für geistiges Eigentum über Darbietungen und Tonträger)

2.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen von Rom über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen – Unanwendbarkeit in der Unionsrechtsordnung – Mittelbare Auswirkungen

(Abkommen von Rom über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen)

3.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Richtlinien 92/100 und 2001/29 – Begriff der öffentlichen Wiedergabe – Auslegung im Lichte des Völkerrechts

(Richtlinie 2001/29 des Europäischen Parlaments und des Rates; Richtlinie 92/100 des Rates)

4.        Rechtsangleichung – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Vermiet- und Verleihrecht an geschützten Werken – Richtlinie 92/100 – Öffentliche Wiedergabe – Begriff – Kostenlose Wiedergabe von Tonträgern in einer privaten Zahnarztpraxis –Nichteinbeziehung

(Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 92/100 des Rates)

1.        Die Bestimmungen des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, das Anhang 1 C zum Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation bildet (TRIPS), und des Vertrags der Weltorganisation für geistiges Eigentum über Darbietungen und Tonträger sind in der Unionsrechtsordnung unmittelbar anwendbar.

Einzelpersonen können sich weder auf dieses Übereinkommen noch auf diesen Vertrag unmittelbar berufen.

(vgl. Randnr. 56, Tenor 1)

2.        Das internationale Abkommen von Rom über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen ist nicht Teil der Unionsrechtsordnung und daher in der Union nicht anwendbar. Es entfaltet dort jedoch mittelbare Wirkungen, da die Union, nach Art. 1 Abs. 1 des Vertrags der Weltorganisation für geistiges Eigentum über Darbietungen und Tonträger verpflichtet ist, die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus diesem Abkommen nicht zu beeinträchtigen.

Einzelpersonen können sich auf diesen Vertrag nicht unmittelbar berufen;

(vgl. Randnrn. 50, 56, Tenor 1)

3.        Der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ in den Richtlinien 92/100 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums und 2001/29 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ist im Licht der gleichen Begriffe im Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, das Anhang 1 C zum Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation bildet (TRIPS), des Vertrags der Weltorganisation für geistiges Eigentum über Darbietungen und Tonträger und des internationalen Abkommens von Rom über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen auszulegen.

Dieser Begriff ist so auszulegen, dass er mit dem Abkommen, dem Übereinkommen und dem Vertrag vereinbar bleibt, wobei auch der Kontext dieser Begriffe und die Zielsetzung der einschlägigen Bestimmungen der Übereinkünfte im Bereich des geistigen Eigentums zu berücksichtigen sind.

(vgl. Randnr. 56, Tenor 1)

4.        Der Begriff der „öffentlichen Wiedergabe“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 92/100 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums ist dahin auszulegen, dass er nicht die kostenlose Wiedergabe von Tonträgern in einer Zahnarztpraxis im Rahmen der Ausübung eines freien Berufs für die Patienten, die unabhängig von ihrem Willen in den Genuss dieser Wiedergabe kommen, betrifft. Infolgedessen begründet eine solche Wiedergabe für die Tonträgerhersteller keinen Anspruch auf Vergütung.

Die Patienten eines Zahnarztes bilden nämlich üblicherweise eine Gesamtheit von Personen, deren Zusammensetzung weitgehend stabil ist und stellen somit eine bestimmte Gesamtheit potenzieller Leistungsempfänger dar, da andere Personen grundsätzlich keinen Zugang zur Behandlung durch den Zahnarzt haben. Daher handelt es sich nicht um „Personen allgemein“. Was außerdem die Zahl der Personen angeht, für die der Zahnarzt denselben verbreiteten Tonträger hörbar macht, ist diese Mehrzahl von Personen unerheblich oder sogar unbedeutend, da der Kreis der gleichzeitig in dessen Praxis anwesenden Personen im Allgemeinen sehr begrenzt ist. Wenn außerdem die Patienten aufeinanderfolgen, so sind diese doch, da sie sich in der Anwesenheit abwechseln, in aller Regel nicht Hörer derselben Tonträger, insbesondere wenn diese über Rundfunk verbreitet werden. Schließlich kann ein Zahnarzt, der Tonträger in Anwesenheit seiner Patienten als Hintergrundmusik wiedergibt, vernünftigerweise allein wegen dieser Wiedergabe weder eine Erweiterung seines Patientenbestands erwarten noch die Preise der von ihm verabfolgten Behandlungen erhöhen. Daher ist eine solche Wiedergabe für sich genommen nicht geeignet, sich auf die Einkünfte dieses Zahnarztes auszuwirken. Die Patienten eines Zahnarztes begeben sich nämlich zu dem einzigen Zweck in eine Zahnarztpraxis, behandelt zu werden, und eine Wiedergabe von Tonträgern gehört nicht zur Zahnbehandlung. Die Patienten genießen zufällig und unabhängig von ihren Wünschen je nach dem Zeitpunkt ihres Eintreffens in der Praxis und der Dauer des Wartens sowie der Art der ihnen verabfolgten Behandlung Zugang zu bestimmten Tonträgern. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die normalen Patienten eines Zahnarztes für die in Rede stehende Wiedergabe aufnahmebereit wären. Daher hat eine solche Wiedergabe nicht den Charakter eines Erwerbszwecks.

(vgl. Randnrn. 95-99, 102, Tenor 2)