Language of document : ECLI:EU:C:2021:126

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 23. Februar 2021(1)

Rechtssache C603/20 PPU

SS

gegen

MCP

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England & Wales], Family Division [Hoher Gerichtshof (England und Wales), Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Art. 10 – Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung – Widerrechtlich in einen Drittstaat verbrachtes Kind, das dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat – Kindeswohl – Zeitlich unbegrenzte Beibehaltung der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“






I.      Einleitung

1.        Ein Kind mit britischer Staatsangehörigkeit, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hatte, wird von seiner Mutter widerrechtlich in einen Drittstaat, hier Indien, verbracht, wo es seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt. Vor einem britischen Gericht erhebt der Vater dieses Kindes eine Klage, mit der er dessen Rückkehr ins Vereinigte Königreich und ein Umgangsrecht erwirken will.

2.        Ist dieses britische Gericht für eine solche Klage nach Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003(2) zuständig? So lautet im Kern die Frage des High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich).

3.        Im vorliegenden Fall sind somit der räumliche Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 10 dieser Verordnung zu prüfen.

4.        In meiner Analyse werde ich zu dem Ergebnis kommen, dass, wenn ein Kind entführt und in einen Drittstaat verbracht wird, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben, und zwar auch dann, wenn das Kind in diesem Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

5.        Das am 19. Oktober 1996 in Den Haag geschlossene Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1996) sieht Regeln vor, die den Schutz von Kindern im internationalen Bereich verbessern und Konflikte zwischen den Rechtssystemen der Unterzeichnerstaaten in Bezug auf die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Maßnahmen zum Schutz von Kindern vermeiden sollen.

6.        Art. 7 dieses Übereinkommens lautet:

„(1)      Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes bleiben die Behörden des Vertragsstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle das Verbringen oder Zurückhalten genehmigt hat, oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Staat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen, kein während dieses Zeitraums gestellter Antrag auf Rückgabe mehr anhängig ist und das Kind sich in seinem neuen Umfeld eingelebt hat.

(2)      Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)      dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.

(3)      Solange die in Absatz 1 genannten Behörden zuständig bleiben, können die Behörden des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, nur die nach Artikel 11 zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes erforderlichen dringenden Maßnahmen treffen.“

B.      Unionsrecht

1.      Vorschriften über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union

7.        Mit seinem Beschluss (EU) 2020/135 vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft(3) (im Folgenden: Austrittsabkommen) hat der Rat im Namen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft dieses Abkommen genehmigt, das diesem Beschluss beigefügt ist(4).

8.        Art. 86 („Vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Rechtssachen“) des Austrittsabkommens sieht in seinen Abs. 2 und 3 vor:

„(2)      Der Gerichtshof der Europäischen Union ist weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden.

(3)      Für die Zwecke dieses Kapitels gilt ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Zeitpunkt als eingeleitet und ein Vorabentscheidungsersuchen zu dem Zeitpunkt als vorgelegt, zu dem die Unterlagen zur Einleitung des Verfahrens von der Kanzlei des Gerichtshofs der Europäischen Union registriert wurden.“

9.        Nach den Art. 126 bis 132 des Austrittsabkommens gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 außer im Fall der Verlängerung endet, weiterhin für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich nach Maßgabe dieses Abkommens.

2.      Verordnung Nr. 2201/2003

10.      In den Erwägungsgründen 1, 2, 12, 21 und 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„(1)      Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.

(2)      Auf seiner Tagung in Tampere hat der Europäische Rat den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, der für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar ist, anerkannt und die Besuchsrechte als Priorität eingestuft.

(12)      Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(21)      Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.

(33)      Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der Grundrechtscharta der Europäischen Union zu gewährleisten.“

11.      Art. 1 („Anwendungsbereich“) dieser Verordnung, der sich in deren Kapitel I („Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen“) findet, bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:

„(1)      Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b)      die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(2)      Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:

a)      das Sorgerecht und das Umgangsrecht,

…“

12.      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung, der sich ebenfalls in deren Kapitel I findet, sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

3.      ‚Mitgliedstaat‘ jeden Mitgliedstaat mit Ausnahme Dänemarks;

7.      ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

11.      ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

13.      Kapitel II („Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält in seinem Abschnitt 2 mit den Art. 8 bis 15 Zuständigkeitsregeln für den Bereich der elterlichen Verantwortung.

14.      Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung lautet:

„(1)      Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)      Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

15.      Art. 10 („Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung“) der Verordnung enthält folgende Regelung:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a)      jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)      das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i)      Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii)      ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii)      ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv)      von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

16.      In Art. 12 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) der Verordnung heißt es:

„(1)      Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem nach Artikel 3 über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zu entscheiden ist, sind für alle Entscheidungen zuständig, die die mit diesem Antrag verbundene elterliche Verantwortung betreffen, wenn

a)      zumindest einer der Ehegatten die elterliche Verantwortung für das Kind hat

und

b)      die Zuständigkeit der betreffenden Gerichte von den Ehegatten oder von den Trägern der elterlichen Verantwortung zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt wurde und im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

(3)      Die Gerichte eines Mitgliedstaats sind ebenfalls zuständig in Bezug auf die elterliche Verantwortung in anderen als den in Absatz 1 genannten Verfahren, wenn

a)      eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem Mitgliedstaat besteht, insbesondere weil einer der Träger der elterlichen Verantwortung in diesem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt,

und

b)      alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts die Zuständigkeit ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt haben und die Zuständigkeit in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

(4)      Hat das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat, der nicht Vertragspartei des [Haager Übereinkommens von 1996] ist, so ist davon auszugehen, dass die auf diesen Artikel gestützte Zuständigkeit insbesondere dann in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht, wenn sich ein Verfahren in dem betreffenden Drittstaat als unmöglich erweist.“

17.      Art. 14 („Restzuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Soweit sich aus den Artikeln 8 bis 13 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, bestimmt sich die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates.“

C.      Recht des Vereinigten Königreichs

18.      In den Sections 1 bis 3 des Family Law Act 1986 (Gesetz von 1986 über das Familienrecht) ist die Zuständigkeit der Gerichte in England und Wales für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung geregelt.

III. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

19.      Die zum Zeitpunkt der Vorlageentscheidung 3 Jahre und 4 Monate alte P (im Folgenden: Kind) ist britische Staatsbürgerin. Die Eltern des Kindes, die nicht miteinander verheiratet sind, aber ihm gegenüber die elterliche Verantwortung gemeinsam ausüben, besitzen die indische Staatsangehörigkeit und verfügen über eine Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich.

20.      MCP, die Mutter des Kindes (im Folgenden: Mutter), trägt vor, sie und das Kind seien von SS, dem Vater des Kindes (im Folgenden: Vater), misshandelt worden, woraufhin sie im November 2017 mit dem Kind für vier Monate nach Indien geflüchtet sei, da sie im Vereinigten Königreich keine Hilfe erhalten habe. Nach weiterer häuslicher Gewalt sei sie im Oktober 2018 mit dem Kind erneut nach Indien geflohen.

21.      Sie habe das Kind im April 2019 vorübergehend für knapp zwei Wochen ins Vereinigte Königreich zurückgeholt, da das Kind nach indischem Einwanderungsrecht nicht mehr als 180 Tage in Indien habe bleiben dürfen. Seit April 2019 sei das Kind ununterbrochen in Indien geblieben. Sie selbst sei ins Vereinigte Königreich zurückgekehrt, um dort zu leben, und habe das Kind bei seiner Großmutter mütterlicherseits gelassen.

22.      Der Vater heiratete eine andere Frau und hat mittlerweile ein weiteres Kind. Er trägt vor, das Kind seit 2018 nicht mehr gesehen zu haben, und möchte, dass es bei ihm lebt, hilfsweise, dass er mit ihm Kontakte unterhalten kann.

23.      Am 26. November 2019 beantragte die Mutter beim Family Court Chelmsford (Familiengericht Chelmsford, Vereinigtes Königreich) den Erlass einer Entscheidung über eine spezielle Frage („specific issue order“) mit dem Ziel, eine „Genehmigung für eine Änderung der das Kind betreffenden Zuständigkeit“ („permission to change jurisdiction of the child“) zu erlangen. Aus dem daraufhin ergangenen Beschluss geht hervor, dass sich das Familiengericht wegen des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes für zuständig erklärt hat.

24.      Am 26. August 2020 erhob der Vater beim High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen), dem vorlegenden Gericht, eine Klage, mit der er u. a. die Rückkehr des Kindes ins Vereinigte Königreich sowie ein Umgangsrecht erwirken will.

25.      In dieser Rechtssache hat das vorlegende Gericht die in den Nrn. 23 und 24 dieser Schlussanträge erwähnten Anträge der Mutter und des Vaters zu prüfen.

26.      Das Gericht führt aus, auch wenn dem Vorbringen der Mutter in vollem Umfang Rechnung getragen werde, erfülle ihr Verhalten sehr wahrscheinlich den Tatbestand eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens des Kindes nach bzw. in Indien.

27.      Was die Frage seiner Zuständigkeit für den Ausgangsrechtsstreit betrifft, äußert das Gericht diesbezüglich Zweifel und weist darauf hin, dass die Verordnung Nr. 2201/2003, die unmittelbare Wirkung entfalte und dem britischen Recht im Rang vorgehe, gegenüber den Sections 1 bis 3 des Gesetzes von 1986 über das Familienrecht vorrangig anzuwenden sei. Im Übrigen spiele der Umstand, dass das Kind bei einer Anhörung vom 7. September 2020 unter gerichtliche Vormundschaft gestellt worden sei, keine Rolle für die Zuständigkeit des Gerichts für den Ausgangsrechtsstreit.

28.      Als der Vater am 26. August 2020 seine Klage beim vorlegenden Gericht erhoben habe, habe sich das Kind bereits seit 22 Monaten in Indien befunden, wo es bei seiner Großmutter mütterlicherseits gewohnt habe; während dieses Zeitraums habe es im April 2019 zwei Wochen im Vereinigten Königreich verbracht. Am 26. August 2020 sei das Kind deshalb vollständig in ein sozio-familiäres indisches Umfeld integriert gewesen. Folglich habe sich zu diesem Zeitpunkt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in Indien befunden, so dass Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 keine Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts für den Ausgangsrechtsstreit begründe.

29.      Auch habe die Mutter bis zum 26. August 2020 nie die Zuständigkeit eines englischen Gerichts für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für das Kind eindeutig anerkannt. Das vorlegende Gericht sei somit auch nicht aufgrund von Art. 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständig.

30.      Was Art. 10 dieser Verordnung angehe, so folge aus einer wörtlichen Auslegung, dass dieser Artikel das Verhältnis zwischen Gerichten zweier Mitgliedstaaten betreffe. Diese Auslegung finde sich in Unterabschnitt 4.2.1.1 des Praxisleitfadens der Europäischen Kommission für die Anwendung der Brüssel‑IIa-Verordnung(5) (im Folgenden: Leitfaden). Jedoch habe der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Rechtsmittelgericht [England und Wales] [Zivilabteilung], Vereinigtes Königreich) in einem Urteil vom 29. Juli 2014(6) diesen Art. 10 dahin gehend ausgelegt, dass ihm globale Tragweite zukomme.

31.      Schließlich habe der Gerichtshof in Rn. 33 des Urteils UD(7) den Schlussanträgen des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe(8) beigepflichtet und entschieden, dass die Anwendung der Art. 9, 10 und 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 ihrem Wortlaut zufolge zwangsläufig einen potenziellen Zuständigkeitskonflikt zwischen Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten voraussetze. Diese Feststellung sei freilich kein tragender Grund für die Entscheidung des Rechtsstreits in jener Rechtssache gewesen, so dass darin ein obiter dictum gesehen werden könne.

32.      Das vorlegende Gericht ist daher der Ansicht, seine Zuständigkeit für den Ausgangsrechtsstreit hänge vom räumlichen Geltungsbereich des Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 ab, dessen Auslegung unklar sei.

33.      Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Bleibt ein Mitgliedstaat, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht (oder dort zurückgehalten) wurde, wo es im Anschluss seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zeitlich unbegrenzt zuständig?

IV.    Eilverfahren

34.      Mit am 16. November 2020 eingereichtem Schreiben hat das vorlegende Gericht beantragt, sein Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen. Das Gericht hat diesen Antrag damit begründet, dass der Zeitablauf der Beziehung zwischen dem Kind und einem seiner Elternteile, hier dem Vater, oder der Entwicklung des Kindes sowie seiner Integration in seine Familie und sein soziales Umfeld schweren, wenn nicht gar irreparablen Schaden zufügen könnte.

35.      Die Fünfte Kammer des Gerichtshofs hat am 2. Dezember 2020 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben.

36.      Der Vater, die Mutter und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie haben auch alle in der Sitzung vom 4. Februar 2021 mündlich verhandelt.

V.      Würdigung

37.      Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 86 des am 1. Februar 2020 in Kraft getretenen Austrittsabkommens weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig ist, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt wurden. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 16. November 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Daher bleibt der Gerichtshof für dieses Ersuchen zuständig.

38.      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass bei Entführung eines Kindes in einen Drittstaat die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben, und zwar auch dann, wenn das Kind in diesem Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.

A.      Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003

1.      Vorbemerkungen

a)      Räumlicher Geltungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003

39.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 legt ihren räumlichen Geltungsbereich nicht ausdrücklich fest. Der Gerichtshof war schon mit der Frage konfrontiert, ob diese Verordnung generell nur für Rechtsverhältnisse gilt, die einen Bezug zu Mitgliedstaaten aufweisen, oder ob sie auch Drittstaaten betreffen kann.

40.      So hat der Gerichtshof in der dem Urteil UD zugrunde liegenden Rechtssache, die einen potenziellen Zuständigkeitskonflikt zwischen einem Mitgliedstaat – dem Vereinigten Königreich – und einem Drittstaat – der Volksrepublik Bangladesch – zum Gegenstand hatte, geprüft, ob er für die Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen zuständig war, die insbesondere Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 betrafen.

41.      In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof zunächst fest, Art. 1 dieser Verordnung, der deren Anwendungsbereich definiere, lege fest, für welche Zivilsachen die Verordnung gelte und für welche nicht, ohne dass sich dort ein Hinweis auf irgendeine Beschränkung ihres räumlichen Geltungsbereichs fände(9). Der Gerichtshof führte weiter aus, nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 seien für die elterliche Verantwortung betreffende Entscheidungen die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, wobei sich im Wortlaut dieser Vorschrift kein Anhaltspunkt dafür finde, dass die von ihr aufgestellte allgemeine Zuständigkeitsregel für die elterliche Verantwortung betreffende Entscheidungen an die Voraussetzung geknüpft sei, dass ein Rechtsverhältnis vorliege, das einen Bezug zu mehreren Mitgliedstaaten aufweise(10).

42.      Der Gerichtshof entschied sodann, dass sich Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 von den in dieser – auf die Anerkennung von Entscheidungen eines Gerichts eines Mitgliedstaats beschränkten – Verordnung vorgesehenen Vorschriften für die Anerkennung und Vollstreckung unterscheide(11). Schließlich wies der Gerichtshof darauf hin, dass die einheitlichen Zuständigkeitsvorschriften in dieser Verordnung nicht nur zur Anwendung auf Sachverhalte bestimmt seien, die einen tatsächlichen und hinreichenden Bezug zum Funktionieren des Binnenmarkts aufwiesen, der definitionsgemäß mehrere Mitgliedstaaten betreffe, selbst wenn die Vereinheitlichung der Zuständigkeitsvorschriften durch diese Verordnung als solche ganz sicher zum Ziel habe, die Hemmnisse für das Funktionieren des Binnenmarkts, die sich aus den Unterschieden in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften ergeben könnten, zu beseitigen(12).

43.      Der Gerichtshof schloss seine Prüfung mit der Feststellung, dass die in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene allgemeine Zuständigkeitsvorschrift auf Rechtsstreitigkeiten angewandt werden könne, die Anknüpfungspunkte zu den Gerichten nur eines Mitgliedstaats und zu den Gerichten eines Drittstaats aufwiesen, und nicht nur auf solche, die Anknüpfungspunkte zu Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten aufwiesen, so dass er für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig sei(13).

44.      Folglich ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig, dass die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 Rechtsverhältnisse betreffen kann, die einen Bezug zu Drittstaaten aufweisen, obwohl im Wortlaut dieser Bestimmung keine Rede von Drittstaaten ist.

b)      Verhältnis zwischen Art. 8 und Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003

45.      Wie sich aus seiner Überschrift ergibt, enthält Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine allgemeine Zuständigkeitsvorschrift in Bezug auf die elterliche Verantwortung. Daneben enthält Art. 10 dieser Verordnung, ebenfalls zur elterlichen Verantwortung, eine besondere Zuständigkeitsvorschrift für den Fall einer internationalen Kindesentführung.

46.      In unserem Fall hält es das vorlegende Gericht in seiner Entscheidung für sehr wahrscheinlich, dass das Verhalten der Mutter den Tatbestand eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens des Kindes nach bzw. in Indien erfüllt. Bei dieser Konstellation steht es nach meinem Dafürhalten außer Zweifel, dass allein Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 anzuwenden ist.

47.      Nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung findet nämlich Abs. 1 dieses Artikels „vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung“. Art. 10 dieser Verordnung stellt, mit anderen Worten, eine besondere Zuständigkeitsvorschrift dar, die in den von ihr speziell erfassten Situationen, d. h. bei Kindesentführungen, als lex specialis Art. 8 Abs. 1 der Verordnung vorgeht(14).

48.      Soweit es also um die elterliche Verantwortung bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes geht, bestimmt sich die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten ausschließlich nach Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003.

2.      Tragweite von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Fall einer Kindesentführung in einen Drittstaat

49.      Es ist zu prüfen, welche Tragweite Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat, wenn ein Kind, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hatte, widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht wird und dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, wie es im Ausgangsverfahren der Fall ist.

50.      Insoweit sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen(15).

a)      Wortlaut von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003

51.      Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor, dass bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig bleiben, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und sofern bestimmte in diesem Artikel genannte Voraussetzungen erfüllt sind.

52.      Dieser Artikel könnte nach einer ersten Lesart in dem Sinne verstanden werden, dass er nur Anwendung findet, wenn das Kind in einen anderen Mitgliedstaat entführt wird(16). Meiner Meinung nach ist diese Auslegung aber nicht die richtige. Dieser Artikel besteht nämlich aus zwei ganz unterschiedlichen Teilen, wobei das entscheidende Element die Worte „bleiben zuständig“ sind. Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 wäre demnach folgendermaßen zu verstehen.

53.      Wenn ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hatte, wie es bei dem Kind hier der Fall ist, bleiben die Gerichte dieses Mitgliedstaats so lange zuständig, bis das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt. Da nur von einem anderen Mitgliedstaat die Rede ist, folgt daraus meines Erachtens: Wird ein Kind widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht oder dort zurückgehalten, bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

54.      Wenngleich Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur von Mitgliedstaaten spricht, regelt er doch aus meiner Sicht auch Rechtsverhältnisse, die einen Bezug zu einem Drittstaat aufweisen, und zwar dergestalt, dass diese Rechtsverhältnisse keine Übertragung der Zuständigkeit auf die Gerichte dieses Drittstaats zur Folge haben können. Dabei ist es unerheblich, ob das betreffende Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Drittstaat begründet, da es laut Art. 10 dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem anderen Mitgliedstaat erlangt.

55.      Im Gegensatz zu der zwischen zwei Mitgliedstaaten bestehenden Situation bleiben daher die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich das Kind vor seiner Entführung in einen Drittstaat gewöhnlich aufhielt, zeitlich unbegrenzt zuständig (perpetuatio fori).

56.      Mit anderen Worten: In Anbetracht des Wortlauts von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 gibt es keine „Regelungslücke“ für den Fall, dass ein Kind widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht oder dort zurückgehalten wird. Da die Entführung nicht in einen Mitgliedstaat erfolgt, sind für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung für dieses Kind immer die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zuständig.

b)      Kontext von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003

57.      Die Auslegung, wonach die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bei einer Entführung in einen Drittstaat zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben, dürfte durch den Regelungszusammenhang von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestätigt werden.

58.      Wie in den Nrn. 40 bis 43 dieser Schlussanträge dargelegt, hat der Gerichtshof nämlich ausdrücklich anerkannt, dass der die allgemeine Zuständigkeit für die elterliche Verantwortung betreffende Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 auf Rechtsverhältnisse anwendbar ist, die einen Bezug zu Drittstaaten aufweisen.

59.      Ich sehe keinen Grund, weshalb die anderen Vorschriften dieser Verordnung – darunter auch Art. 10 –, in denen die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats für die elterliche Verantwortung geregelt sind, anders ausgelegt werden sollten. In der Tat erscheint es nicht folgerichtig, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 anwenden müsste, falls die Rechtsverhältnisse einen Bezug zu einem Drittstaat aufweisen, nicht aber Art. 10 dieser Verordnung im Fall einer Entführung in einen Drittstaat.

60.      Wenn zudem Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 auf Rechtsstreitigkeiten anwendbar ist, die das Verhältnis zwischen Gerichten eines Mitgliedstaats und solchen eines Drittstaats betreffen, muss dies meiner Ansicht nach auch für Art. 10 der Verordnung gelten, da Letzterer eine lex specialis gegenüber Art. 8 Abs. 1 darstellt.

61.      Im Übrigen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Verordnung Nr. 2201/2003, wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 21 hervorgeht, auf den für die Schaffung eines echten Rechtsraums unabdingbaren Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gestützt. Letzterer verlangt von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten(17).

62.      Im Rahmen der Anwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 rechtfertigt meines Erachtens der Umstand, dass alle Mitgliedstaaten grundsätzlich das Unionsrecht beachten, unter bestimmten Voraussetzungen die Anerkennung der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in den ein Kind entführt worden ist und in dem es einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.

63.      Ist ein Kind hingegen in einen Drittstaat entführt worden, können die Zusammenarbeit und das gegenseitige Vertrauen, wie sie im Unionsrecht vorgesehen sind, nicht gelten. Daher wäre es im Hinblick auf den Kontext von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht gerechtfertigt, die Zuständigkeit der Gerichte dieses Drittstaats anzuerkennen, und zwar auch dann nicht, wenn das entführte Kind in diesem Staat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat.

c)      Ziele von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003

64.      Dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 zufolge wurden die in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Folglich beruht die Verordnung auf der Leitidee, dass dem Kindeswohl der Vorrang gebührt(18).

65.      Diese Verordnung zielt gemäß ihrem 33. Erwägungsgrund darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne von Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu gewährleisten(19). Nach Art. 24 Abs. 2 der Charta muss bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

66.      Das Ziel der Verordnung Nr. 2201/2003 besteht somit zum Wohl des Kindes allgemein darin, dass das Gericht, das dem Kind räumlich am nächsten ist und daher dessen Situation und Entwicklungsstand am besten kennt, die erforderlichen Entscheidungen treffen kann(20). Art. 8 der Verordnung setzt dieses Ziel um, indem er für die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, eine allgemeine Zuständigkeit vorsieht(21).

67.      Mit Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 wollte der Gesetzgeber das Kindeswohl im speziellen Fall eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens schützen. So hat der Gerichtshof ausgeführt, diese Verordnung solle darauf hinwirken, dass von Kindesentführungen zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen und, wenn es zu einer Entführung komme, die Rückgabe des Kindes unverzüglich erwirkt werde. Das widerrechtliche Verbringen eines Kindes sollte grundsätzlich keine Übertragung der Zuständigkeit von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, auf die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht worden sei, zur Folge haben, selbst wenn das Kind nach der Entführung im letztgenannten Mitgliedstaat einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt habe. Die in Art. 10 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgestellten Voraussetzungen seien daher eng auszulegen(22).

68.      Der Gerichtshof hat somit festgestellt, dass auch dann, wenn das entführte Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem es sich vor seiner Entführung aufhielt, grundsätzlich für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung zuständig bleiben. Mit anderen Worten: Zum Schutz des Kindeswohls bewirkt eine rechtswidrige Handlung, d. h. die Entführung eines Kindes durch einen Elternteil, keinen Wechsel des für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung zuständigen Gerichts.

69.      Diese Zielsetzung geht auch eindeutig aus den Materialien zur Verordnung Nr. 2201/2003 hervor, in denen es heißt: „Da sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes bestimmt und sich die Zuständigkeit bei Änderung des Aufenthalts folglich ebenfalls ändert, besteht die Gefahr, dass eine künstliche Zuständigkeit unter Einsatz von Gewalt hergestellt wird, um das Sorgerecht zu erhalten.“(23)

70.      Es erscheint mir kaum denkbar, dass der Zweck, Kindesentführungen zu verhindern, wegfallen sollte, nur weil ein Kind in einen Drittstaat verbracht wird. Andernfalls bräuchte sich der Elternteil, der das Kind entführt, nur in einen Drittstaat zu begeben, der übrigens ganz nahe bei einem Mitgliedstaat liegen könnte, um der Anwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu entgehen. Damit würden dem Kind seine Rechte aus dieser Verordnung entzogen, die gerade sein Wohl schützen soll.

71.      Nach alledem ist dem Wortlaut von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003, dem Kontext dieses Artikels sowie den Zielen der Regelung, zu der er gehört, meines Erachtens zu entnehmen, dass, wenn ein Kind in einen Drittstaat entführt wird, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hatte, die Gerichte dieses Mitgliedstaats für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung für das Kind zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben.

3.      Bedeutung der Unionsbürgerschaft des in einen Drittstaat entführten Kindes

72.      Im vorliegenden Fall wird die vorgeschlagene Auslegung noch dadurch untermauert, dass das Kind die britische Staatsangehörigkeit besitzt und damit zu der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeit Unionsbürger war.

73.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein(24).

74.      Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten(25).

75.      Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird(26).

76.      In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens sollte aus meiner Sicht diese Rechtsprechung herangezogen werden. Wird nämlich ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitzt, in einen Drittstaat entführt, so bedeutet die Anerkennung der Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für das Kind, dass jede Verbindung zum Unionsrecht gekappt wird, obwohl das Kind Opfer eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens ist. Diese unrechtmäßige Handlung darf meines Erachtens einem solchen Kind aber nicht die Möglichkeit nehmen, das Recht auf Prüfung der ihm gegenüber bestehenden elterlichen Verantwortung durch ein mitgliedstaatliches Gericht effektiv wahrzunehmen.

77.      Daher scheint mir Art. 20 AEUV die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats zu bestätigen, in dem ein Kind mit Unionsbürgerschaft seinen gewöhnlichen Aufenthalt unmittelbar vor seiner Entführung in einen Drittstaat hatte.

78.      Eine vollständige Beurteilung des räumlichen Geltungsbereichs und der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 erfordert noch eine Prüfung der Argumente, die für eine auf Mitgliedstaaten beschränkte Anwendung dieses Artikels vorgebracht werden.

4.      Argumente für eine auf Mitgliedstaaten beschränkte Anwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003

79.      Erstens erklärt das vorlegende Gericht, der Gerichtshof habe in Rn. 33 des Urteils UD erklärt, dass sich – anders als bei bestimmten Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003, wie ihren Art. 9, 10 und 15, deren Anwendung ihrem Wortlaut zufolge zwangsläufig einen potenziellen Zuständigkeitskonflikt zwischen Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten voraussetze – aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung nicht ergebe, dass diese Vorschrift auf solche Zuständigkeitskonflikte beschränkt sei.

80.      Diese Aussage scheint mir jedoch im Hinblick auf die Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats bei Kindesentführung in einen Drittstaat nicht entscheidend zu sein. Denn es handelt sich um ein obiter dictum, das auf einem Umkehrschluss beruht. Eine solche Argumentation ist aber definitionsgemäß von relativer und begrenzter rechtlicher Bedeutung, da sie nur die Prüfung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft. Überdies hat sich der Gerichtshof in diesem Urteil nicht mit der Auslegung von Art. 10 der Verordnung befasst, weil die Rechtssache keine Kindesentführung zum Gegenstand hatte.

81.      Zweitens verweist das vorlegende Gericht auf den Leitfaden, dem zufolge der räumliche Geltungsbereich von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 auf die Mitgliedstaaten beschränkt sei. Das Gericht erwähnt insoweit Unterabschnitt 4.2.1.1 dieses Leitfadens, in dem es heißt: „Um Kindesentführungen durch einen Elternteil zwischen Mitgliedstaaten zu verhindern, gewährleistet Artikel 10, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor der widerrechtlichen Verbringung oder dem widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Ursprungsmitgliedstaat), auch danach für die Hauptsache des Falles zuständig sind. Die Zuständigkeit kann den Gerichten des neuen Mitgliedstaats (des ersuchten Mitgliedstaats) nur unter sehr strengen Bedingungen übertragen werden.“

82.      Zum einen hat die Kommission in diesem Leitfaden jedoch die Situation einer Kindesentführung in einen Drittstaat nicht geprüft. Zum anderen hat der Leitfaden, auch wenn er ein zweckdienliches Instrument für die Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 darstellt, jedenfalls keine verpflichtende Wirkung und ist daher nicht geeignet, den Gerichtshof bei der Auslegung dieser Verordnung zu binden(27).

83.      Drittens macht das vorlegende Gericht weiter geltend, der räumliche Geltungsbereich von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 sei im Wege der Auslegung auf die Mitgliedstaaten zu beschränken, da andernfalls die Zuständigkeit des Ursprungsmitgliedstaats für immer fortbestünde. Dieser Mitgliedstaat befände sich in Bezug auf seine Zuständigkeit gegenüber einem Drittstaat in einer stärkeren Position als gegenüber einem Mitgliedstaat(28), was sehr schwer nachvollziehbar sei.

84.      Ich teile diese Sichtweise nicht. Wie schon in Nr. 61 dieser Schlussanträge dargelegt, beruht die Verordnung Nr. 2201/2003 auf der Zusammenarbeit und dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten; deswegen kann unter bestimmten Bedingungen die Zuständigkeit zwischen diesen Gerichten übertragen werden. Da im Hinblick auf die Gerichte eines Drittstaats keine Zusammenarbeit vorgesehen ist und kein gegenseitiges Vertrauen unterstellt wird, halte ich es für völlig gerechtfertigt und verordnungskonform, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem ein Kind unmittelbar vor seiner Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt zuständig bleiben, um den Schutz des Wohls dieses Kindes zu gewährleisten.

85.      Viertens könnte argumentiert werden, dass auf den Fall einer Kindesentführung in einen Drittstaat die Verordnung Nr. 2201/2003 keine Anwendung findet und somit das Haager Übereinkommen von 1996 heranzuziehen ist, dessen Art. 7 ganz ähnlich formuliert ist wie Art. 10 dieser Verordnung. Die Anwendung des Übereinkommens setzt allerdings voraus, dass der betreffende Drittstaat dem Übereinkommen beigetreten ist. Im vorliegenden Fall ist Indien aber keine Vertragspartei dieses Übereinkommens. Folglich braucht hier nicht genauer geprüft zu werden, wie die Verordnung Nr. 2201/2003 und das Haager Übereinkommen von 1996 miteinander in Einklang zu bringen sind(29). Ich stelle lediglich fest, dass dieser Fall zeigt: Hatte ein Kind unmittelbar vor seiner Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, wird bei Nichtanwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht immer Art. 7 des Haager Übereinkommens von 1996 als Ersatzlösung angewandt werden.

86.      Fünftens soll, wenn das Haager Übereinkommen von 1996 nicht gilt, entweder auf ein bilaterales Abkommen zwischen dem Mitgliedstaat und dem Drittstaat, die betroffen sind, oder gemäß Art. 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 auf die nationalen Vorschriften dieses Mitgliedstaats über die Zuständigkeit der Gerichte abgestellt werden. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass diese nationalen Vorschriften bei einer Entführung in einen Drittstaat zwangsläufig den gleichen Schutz für das Kindeswohl wie die Verordnung Nr. 2201/2003 oder ein noch höheres Schutzniveau bieten. So weist das vorlegende Gericht in unserem Fall darauf hin, dass die Sections 1 bis 3 des Gesetzes von 1986 über das Familienrecht keine Zuständigkeitskriterien enthalten, die über die in dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien hinausgehen.

87.      Sechstens haben die Mutter und die Kommission in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, wenn die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bei einer Entführung in einen Drittstaat zeitlich unbegrenzt zuständig blieben, könnte es zu einem Konflikt mit den von einem Elternteil angerufenen Gerichten dieses Drittstaats kommen, von denen die Zuständigkeit des Unionsgerichts nicht anerkannt werde.

88.      Zum einen besteht dieses Problem aber auch im Rahmen der Anwendung von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003. Das hat den Gerichtshof freilich nicht daran gehindert, im Urteil UD anzuerkennen, dass diese Bestimmung auf Rechtsstreitigkeiten anwendbar ist, die Anknüpfungspunkte zu Gerichten eines Mitgliedstaats und Gerichten eines Drittstaats aufweisen. Zum anderen gehört ein potenzieller Konflikt zwischen Gerichten eines Mitgliedstaats und Gerichten eines Drittstaats zum Wesen der Rechtsvorschriften der Union, die eine globale Geltung beanspruchen. Ein solcher potenzieller Konflikt reicht aus meiner Sicht nicht aus, um einem Kind im Fall seiner Entführung in einen Drittstaat den Schutz des Kindeswohls vorzuenthalten.

89.      Ich sehe daher kein Argument, das die Auslegung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Frage stellen könnte, wonach bei Entführung eines Kindes in einen Drittstaat die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung für das Kind zuständig bleiben, und zwar auch dann, wenn es in diesem Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.

B.      Art. 12 der Verordnung Nr. 2201/2003

90.      Für den Fall, dass der Gerichtshof diese Auffassung nicht teilt, sondern der Meinung ist, die Anwendung von Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 sei auf Rechtsverhältnisse beschränkt, die einen Bezug allein zu Mitgliedstaaten aufweisen, ist zu prüfen, ob die Gerichte eines Mitgliedstaats gleichwohl nach Art. 12 dieser Verordnung für die Entscheidung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens zuständig wären.

91.      Nach Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 sind die Gerichte eines Mitgliedstaats in Bezug auf die elterliche Verantwortung „in anderen als den in Absatz 1 genannten Verfahren“ zuständig, wenn eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem Mitgliedstaat besteht, insbesondere weil einer der Träger der elterlichen Verantwortung in diesem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, und alle Parteien des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts die Zuständigkeit ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt haben und die Zuständigkeit in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht. Gemäß Art. 12 Abs. 1 sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem nach Art. 3 über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebands oder Ungültigerklärung einer Ehe zu entscheiden ist, für alle Entscheidungen zuständig, die die mit diesem Antrag verbundene elterliche Verantwortung betreffen, wenn die dort aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind(30).

92.      Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 gibt somit vor, dass spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei dem gewählten Gericht eingereicht wird, das Bestehen einer ausdrücklichen oder zumindest eindeutigen Vereinbarung zwischen allen Parteien des Verfahrens über die Zuständigkeit dieses Gerichts nachgewiesen werden muss(31).

93.      In unserem Fall stellt das vorlegende Gericht fest, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Indien hat. Das Gericht weist aber auch darauf hin, dass die Mutter zum Zeitpunkt seiner Anrufung, d. h. am 26. August 2020, niemals die Zuständigkeit der britischen Gerichtsbarkeit für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für das Kind ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt hatte. Art. 12 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2201/2003 findet daher nach meinem Dafürhalten in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens keine Anwendung.

94.      Im Übrigen ist nach Art. 12 Abs. 4 dieser Verordnung, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat hat, der nicht Vertragspartei des Haager Übereinkommens von 1996 ist, davon auszugehen, dass die auf Art. 12 gestützte Zuständigkeit insbesondere dann in Einklang mit dem Wohl des Kindes steht, wenn sich ein Verfahren in dem betreffenden Drittstaat als unmöglich erweist. Da jedoch nicht alle Parteien die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt haben, ist jedenfalls auch diese Bestimmung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens meines Erachtens nicht anwendbar.

95.      Sofern der Gerichtshof die Art. 10 und 12 der Verordnung Nr. 2201/2003 im vorliegenden Fall für unanwendbar hält, sollte er meiner Meinung nach in Anbetracht der Rn. 41 und 42 des Urteils UD das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen nicht als unzulässig zurückweisen, sondern sich für unzuständig erklären.

VI.    Ergebnis

96.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich), wie folgt zu beantworten:

Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass bei Entführung eines Kindes in einen Drittstaat die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zeitlich unbegrenzt für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung für das Kind zuständig bleiben, und zwar auch dann, wenn das Kind in diesem Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Verordnung des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1). Die Verordnung Nr. 2201/2003 wird auch als „Brüssel‑IIa-Verordnung“ bezeichnet.


3      ABl. 2020, L 29, S. 1.


4      ABl. 2020, L 29, S. 7.


5      Dieser Leitfaden ist zugänglich unter https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/f7d39509-3f10-4ae2-b993-53ac6b9f93ed/language-de


6      Abrufbar unter der elektronischen Adresse http://www.bailii.org/ew/cases/EWCA/Civ/2014/1101.html


7      Urteil vom 17. Oktober 2018 (C‑393/18 PPU, im Folgenden: Urteil UD, EU:C:2018:835).


8      Schlussanträge in der Rechtssache UD (C‑393/18 PPU, EU:C:2018:749, Fn. 4).


9      Urteil UD, Rn. 31.


10      Urteil UD, Rn. 32.


11      Urteil UD, Rn. 34 und 35.


12      Vgl. in diesem Sinne Urteil UD, Rn. 40.


13      Urteil UD, Rn. 41 und 42.


14      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2018, Rudigier (C‑518/17, EU:C:2018:757, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15      Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Vgl. in diesem Sinne Pataut, É., und Gallant, E., „Article 10“, unter der Leitung von Magnus, U., Mankowski, P., Brussels II bis Regulation, Otto Schmidt, Köln, 2017, S. 123, Rn. 3.


17      Urteil vom 19. November 2020, ZW (C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Urteil vom 12. November 2014, L (C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau (C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 51).


20      Urteil vom 9. November 2010, Purrucker (C‑296/10, EU:C:2010:665, Rn. 84).


21      Urteil vom 15. Februar 2017, W und V (C‑499/15, EU:C:2017:118, Rn. 52).


22      Urteil vom 1. Juli 2010, Povse (C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 43 bis 45), und Beschluss vom 10. April 2018, CV (C‑85/18 PPU, EU:C:2018:220, Rn. 51).


23      Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 in Bezug auf Unterhaltssachen, von der Kommission am 3. Mai 2002 vorgelegt (KOM[2002] 222 endg., S. 12).


24      Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers) (C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers) (C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


26      Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real (Ehegatte eines Unionsbürgers) (C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27      Vgl. entsprechend Urteil vom 8. Mai 2019, Inspecteur van de Belastingdienst (C‑631/17, EU:C:2019:381, Rn. 41).


28      Insofern als Art. 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Zuständigkeitsübertragung zwischen Gerichten der Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen zulässt.


29      Nach Art. 52 Abs. 3 des Haager Übereinkommens von 1996 lassen „[k]ünftige Vereinbarungen eines oder mehrerer Vertragsstaaten über Angelegenheiten im Anwendungsbereich dieses Übereinkommens … im Verhältnis zwischen solchen Staaten und anderen Vertragsstaaten die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens unberührt“. Diese Bestimmung besagt also meines Erachtens: Weisen die Rechtsverhältnisse einen Bezug zu einem Mitgliedstaat und zu einem Drittstaat auf, der Vertragspartei dieses Übereinkommens ist, hat Letzteres Vorrang vor der Verordnung Nr. 2201/2003.


30      Urteil vom 12. November 2014, L (C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 39).


31      Urteil vom 12. November 2014, L (C‑656/13, EU:C:2014:2364, Rn. 56).