Language of document : ECLI:EU:C:2019:823

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

3. Oktober 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Beschluss Nr. 2/76 – Art. 7 – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 13 – Stillhalteklauseln – Neue Beschränkung – Erhebung, Speicherung und Aufbewahrung biometrischer Daten türkischer Staatsangehöriger in einer zentralen Datei – Zwingende Gründe des Allgemeininteresses – Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug – Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf Achtung des Privatlebens – Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑70/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 31. Januar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Februar 2018, in dem Verfahren

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

A,

B,

P

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richterin C. Toader und der Richter A. Rosas und M. Safjan,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Januar 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von A, B und P, vertreten durch D. Schaap, advocaat,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. A. M. de Ree als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Wolff und P. Ngo als Bevollmächtigte,

–        Irlands, vertreten durch A. Joyce als Bevollmächtigten im Beistand von D. Fennelly, Barrister,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, zunächst vertreten durch R. Fadoju, dann durch S. Brandon als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils, D. Martin und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Mai 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von zwei Beschlüssen des Assoziationsrats, der durch das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) eingesetzt wurde, und zwar von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 vom 20. Dezember 1976 und von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation.

2        Es ergeht im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der einen und A auf der anderen Seite bzw. dem Staatssekretär auf der einen und B und P auf der anderen Seite wegen der Verpflichtung, bei der Erhebung biometrischer Daten von A und B im Hinblick auf die Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande mitzuwirken.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Assoziierungsabkommen

3        Der zu Kapitel 3 („Sonstige Bestimmungen wirtschaftlicher Art“) von Titel II des Assoziierungsabkommens gehörende Art. 12 bestimmt:

„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39], [40] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.“

 Beschluss Nr. 2/76

4        Art. 1 des Beschlusses Nr. 2/76 über die Durchführung von Artikel 12 des Assoziierungsabkommens bestimmt:

„(1)      Mit diesem Beschluss werden für eine erste Stufe die Durchführungsbestimmungen zu Artikel 36 des (am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und durch die Verordnung [EWG] Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 [ABl. 1972, L 293, S. 1] im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls) festgelegt.

(2)      Die Dauer dieser ersten Stufe wird auf vier Jahre vom 1. Dezember 1976 an festgesetzt.“

5        Art. 7 dieses Beschlusses lautet:

„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die [Republik] Türkei dürfen für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“

6        Art. 11 dieses Beschlusses lautet:

„Der Assoziationsrat nimmt ein Jahr vor Ablauf der ersten Stufe und im Lichte der während dieser Stufe erzielten Ergebnisse Beratungen auf, um den Inhalt der folgenden Stufe festzulegen und sicherzustellen, dass der Beschluss über die folgende Stufe zum Zeitpunkt des Ablaufs der ersten Stufe in Kraft tritt. Der vorliegende Beschluss gilt bis zum Inkrafttreten der folgenden Stufe.“

7        Nach seinem Art. 13 trat der Beschluss Nr. 2/76 am 20. Dezember 1976 in Kraft.

 Beschluss Nr. 1/80

8        Art. 13 in Abschnitt 1 („Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“) von Kapitel II („Soziale Bestimmungen“) des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die [Republik] Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“

9        Art. 14 Abs. 1 dieses Beschlusses, der ebenfalls zu Abschnitt 1 gehört, bestimmt:

„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.“

10      Nach Art. 16 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sind die Bestimmungen des Abschnitts 1 von Kapitel II ab 1. Dezember 1980 anwendbar.

 Richtlinie 95/46/EG

11      Art. 2 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31) sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

a)      ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘); als bestimmbar wird eine Person angesehen, die direkt oder indirekt identifiziert werden kann, insbesondere durch Zuordnung zu einer Kennnummer oder zu einem oder mehreren spezifischen Elementen, die Ausdruck ihrer physischen, physiologischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität sind;

b)      ‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten;

c)      ‚Datei mit personenbezogenen Daten‘ (,Datei‘) jede strukturierte Sammlung personenbezogener Daten, die nach bestimmten Kriterien zugänglich sind, gleichgültig ob diese Sammlung zentral, dezentralisiert oder nach funktionalen oder geografischen Gesichtspunkten aufgeteilt geführt wird;

…“

 Verordnung (EG) Nr. 767/2008

12      Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über das Visa‑Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung) (ABl. 2008, L 218, S. 60) bestimmt:

„Das VIS dient der Verbesserung der Durchführung der gemeinsamen Visumpolitik, der konsularischen Zusammenarbeit und der Konsultation zwischen zentralen Visumbehörden durch die Erleichterung des Datenaustauschs zwischen Mitgliedstaaten über Visumanträge und die damit verbundenen Entscheidungen, um

c)      die Betrugsbekämpfung zu erleichtern;

…“

 Verordnung (EU) 2019/817

13      Art. 2 der Verordnung (EU) 2019/817 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 zur Errichtung eines Rahmens für die Interoperabilität zwischen EU‑Informationssystemen in den Bereichen Grenzen und Visa und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008, (EU) 2016/399, (EU) 2017/2226, (EU) 2018/1240, (EU) 2018/1726 und (EU) 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Entscheidung 2004/512/EG des Rates und des Beschlusses 2008/633/JI des Rates (ABl. 2019, L 135, S. 27) bestimmt:

„(1)      Durch die mittels dieser Verordnung sichergestellte Interoperabilität sollen folgende Ziele erreicht werden:

a)      Verbesserung der Wirksamkeit und Effizienz der Grenzübertrittskontrollen an den Außengrenzen,

b)      Beitrag zur Verhinderung und Bekämpfung illegaler Einwanderung,

(2)      Die Ziele nach Absatz 1 sollen durch folgende Maßnahmen erreicht werden:

a)      Sicherstellung der korrekten Identifizierung von Personen,

b)      Beitrag zur Bekämpfung von Identitätsbetrug,

…“

 Niederländisches Recht

14      Art. 106a Abs. 1 des Vreemdelingwet 2000 (Ausländergesetz 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) in der Fassung der Wet tot wijziging van de Vreemdelingenwet 2000 in verband met de uitbreiding van het gebruik van biometrische kenmerken in de vreemdelingenketen in verband met het verbeteren van de identiteitsvaststelling van de vreemdeling (Gesetz zur Änderung des Ausländergesetzes 2000 hinsichtlich der erweiterten Verwendung biometrischer Identifikatoren im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den für Ausländerfragen zuständigen Stellen im Hinblick auf eine bessere Identifizierung von Ausländern) vom 11. Dezember 2013 (Stb. 2014, Nr. 2, im Folgenden: Ausländergesetz) bestimmt:

„Soweit nicht nach den europäischen Verordnungen über biometrische Daten im Sinne von Art. 1 ein Gesichtsbild oder Fingerabdrücke erfasst und verarbeitet werden können, können ein Gesichtsbild und zehn Fingerabdrücke eines Ausländers erfasst und verarbeitet werden, um für Zwecke der Durchführung des vorliegenden Gesetzes seine Identität festzustellen. Diese Gesichtsbilder und Fingerabdrücke werden mit denjenigen in der Ausländerdatei verglichen.“

15      Art. 107 des Ausländergesetzes bestimmt:

„1.      Es wird eine Ausländerdatei eingerichtet, die durch den Minister verwaltet wird. Die Ausländerdatei enthält

a.      die in Art. 106a Abs. 1 genannten Gesichtsbilder und Fingerabdrücke;

2.      Zweck der Ausländerdatei ist die Verarbeitung

a.      der in Abs. 1 Buchst. a genannten Daten zur Durchführung dieses Gesetzes, des Reichsgesetzes über die niederländische Staatsangehörigkeit und der aufgrund dieser Gesetze erlassenen Bestimmungen,

5.      Unbeschadet des in Abs. 2 Buchst. a genannten Ziels dürfen … die in Abs. 1 Buchst. a genannten Daten nur für die folgenden Zwecke zur Verfügung gestellt werden:

c.      Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten;

6.      Die Weitergabe von Fingerabdruckdaten des Ausländers aus der Ausländerdatei erfolgt in den in Abs. 5 Buchst. c genannten Fällen zu Zwecken der Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten nur im Zusammenhang mit einer Straftat, für die Untersuchungshaft zulässig ist, und nach schriftlicher Genehmigung des Untersuchungsrichters auf Antrag der Staatsanwaltschaft,

a.      wenn der begründete Verdacht besteht, dass der Verdächtige Ausländer ist, oder

b.      im Interesse einer Ermittlung, wenn die Vorermittlungen nicht vorankommen oder schnelle Ergebnisse zur Aufklärung der Straftat erforderlich sind.

…“

16      Art. 8.34 der Vreemdelingenbesluit 2000 (Ausländerverordnung 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 497) bestimmt:

„1.      Die Beamten, die die Ausländerdatei führen, haben direkten Zugang zu den Gesichtsbildern und Fingerabdrücken in der Datei, soweit sie diesen Zugang benötigen, um ihre Aufgabe sachgerecht zu erfüllen, und der Minister sie dazu ermächtigt hat.

…“

17      Art. 8.35 der Ausländerverordnung 2000 bestimmt:

„Die in der Ausländerdatei erfassten Gesichtsbilder und Fingerabdrücke werden nicht länger aufbewahrt als

a.      fünf Jahre, nachdem der Antrag auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist;

b.      im Fall des rechtmäßigen Aufenthalts: fünf Jahre, nachdem der betreffende Ausländer, dessen rechtmäßiger Aufenthalt beendet ist, das niederländische Hoheitsgebiet nachweislich verlassen hat, oder

c.      wenn gegen den Ausländer ein Einreiseverbot verhängt oder er für unerwünscht erklärt worden ist: fünf Jahre nach dem Ablauf der Geltungsdauer des Einreiseverbots oder der Unerwünschterklärung.“

18      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Drittstaatsangehörige, die sich länger als 90 Tage zum Zweck eines normalen Aufenthalts in den Niederlanden aufhalten wollten, grundsätzlich zum Zeitpunkt ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet über eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis verfügen müssten.

19      Zudem sei ein Drittstaatsangehöriger, der eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis beantrage, nach Art. 54 Abs. 1 Buchst. c des Ausländergesetzes in Verbindung mit Art. 1.31 der Ausländerverordnung 2000 verpflichtet, im Zuge der Antragstellung bei der Erhebung und Verarbeitung seiner biometrischen Daten mitzuwirken.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

20      Am 15. November 2013 beantragte eine Gesellschaft niederländischen Rechts im Namen von A, einem türkischen Staatsangehörigen, eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis, um ihn in den Niederlanden als Arbeitnehmer beschäftigen zu können.

21      Mit Bescheid vom 28. März 2014 gab der Staatssekretär diesem Antrag statt. In diesem Bescheid wurde die Erteilung der vorläufigen Aufenthaltserlaubnis jedoch von der Bedingung abhängig gemacht, dass A bestimmte biometrische Daten vorlegt, nämlich ein Gesichtsbild und seine zehn Fingerabdrücke. A wirkte bei der Erhebung seiner biometrischen Daten mit und erhielt eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande.

22      B ist ein türkischer Staatsangehöriger, dessen Ehefrau P in den Niederlanden wohnt und die türkische und die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt. Am 17. Februar 2014 beantragte P für B eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Familienzusammenführung.

23      Der Staatssekretär lehnte diesen Antrag zunächst ab. B und P legten dagegen Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 4. April 2014 erklärte der Staatssekretär diesen Widerspruch für begründet und gab dem Antrag auf vorläufige Aufenthaltserlaubnis statt, machte deren Erteilung aber davon abhängig, dass B bestimmte biometrische Daten vorlegt, nämlich ein Gesichtsbild und seine zehn Fingerabdrücke. B wirkte bei der Erhebung seiner biometrischen Daten mit und erhielt eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande.

24      A bzw. B und P legten beim Staatssekretär Widerspruch gegen die Bescheide vom 28. März bzw. 4. April 2014 ein, soweit diese A und B verpflichteten, bei der Erhebung ihrer biometrischen Daten mitzuwirken, um eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande zu erhalten.

25      Mit Bescheiden vom 23. Dezember 2014 und vom 6. Januar 2015 wies der Staatssekretär die Widersprüche von B und P bzw. von A zurück.

26      Sowohl A als auch B und P fochten die Widerspruchsbescheide vor der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Rotterdam (Gericht Den Haag, Sitzungsort Rotterdam, Niederlande) an.

27      Mit Urteilen vom 3. Februar 2016 erklärte dieses Gericht die Klagen für begründet. Es stellte fest, dass die nationale Regelung über die Erhebung, Speicherung und Aufbewahrung biometrischer Daten türkischer Staatsangehöriger in einer zentralen Datei eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 sei. Ferner stehe diese Maßnahme nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel, nämlich der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug. Das Gericht hob daher zum einen die Bescheide des Staatssekretärs vom 28. März und 4. April 2014 insoweit auf, als A und B aufgegeben wurde, bei der Erhebung ihrer biometrischen Daten mitzuwirken, und wies zum anderen den Staatssekretär an, ihre biometrischen Daten in der zentralen Datei innerhalb von sechs Wochen nach Zustellung dieser Urteile zu löschen.

28      Der Staatssekretär hat gegen diese Urteile vom 3. Februar 2016 beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) Rechtsmittel eingelegt.

29      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die nationale Regelung über die Erhebung, Speicherung und Aufbewahrung biometrischer Daten von Drittstaatsangehörigen in einer zentralen Datei eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 sei. Eine solche Beschränkung sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verboten, es sei denn, sie sei durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und gehe nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus. Das vorlegende Gericht, das davon ausgeht, dass die genannte Regelung ein legitimes Ziel verfolgt und zu dessen Erreichung geeignet ist, wirft jedoch die Frage auf, ob die Erhebung, Speicherung und Aufbewahrung biometrischer Daten von Drittstaatsangehörigen in einer zentralen Datei, wie sie in dieser Regelung vorgesehen sind, nicht über das zur Erreichung des Ziels der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug Erforderliche hinausgeht. Da die Erhebung und Verarbeitung biometrischer Daten eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 darstelle und diese Daten zu einer besonderen Datenkategorie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie gehörten, müssten sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs nach dem Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970, Rn. 96), auf das absolut Notwendige beschränken.

30      Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung unter bestimmten Voraussetzungen die Übermittlung biometrischer Daten türkischer Staatsangehöriger an Dritte zum Zweck der Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten erlaubt, möchte das vorlegende Gericht zudem wissen, ob eine solche Regelung eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellt und, wenn ja, ob eine solche Beschränkung in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel steht. In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht insbesondere, ob die Auswirkungen dieser Regelung auf den Zugang türkischer Staatsangehöriger zum Arbeitsmarkt in den Niederlanden als zu ungewiss und zu indirekt zu betrachten sein könnten, um von einer „neuen Beschränkung“ im Sinne der genannten Bestimmungen auszugehen.

31      Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

l.      a)      Sind Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 bzw. Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass diese Bestimmungen einer nationalen Regelung, in der die allgemeine Verarbeitung und Aufbewahrung biometrischer Daten von Drittstaatsangehörigen, darunter türkischen Staatsangehörigen, in einer Datei im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 95/46 vorgesehen ist, nicht entgegenstehen, da diese nationale Regelung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit der Regelung verfolgten legitimen Ziels, Identitäts- und Dokumentenbetrug zu verhindern und zu bekämpfen, erforderlich ist?

b)      Ist dabei von Bedeutung, dass die Dauer der Aufbewahrung der biometrischen Daten an die Dauer des legalen und/oder illegalen Aufenthalts der Drittstaatsangehörigen, darunter der türkischen Staatsangehörigen, gebunden ist?

2.      Sind Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 bzw. Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung keine Beschränkung im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, wenn die Auswirkungen der nationalen Regelung auf den Zugang zum Arbeitsmarkt gemäß diesen Bestimmungen zu ungewiss und zu mittelbar sind, als dass angenommen werden könnte, dass dieser Zugang behindert wird?

3.      a)      Wenn die Antwort auf Frage 2 lautet, dass eine nationale Regelung, die es ermöglicht, die biometrischen Daten von Drittstaatsangehörigen, darunter türkischen Staatsangehörigen, aus einer Datei Dritten zur Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung von – terroristischen oder nicht terroristischen – Straftaten zur Verfügung zu stellen, eine neue Beschränkung ist, muss Art. 52 Abs. 1 in Verbindung mit den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union so ausgelegt werden, dass er einer solchen nationalen Regelung entgegensteht?

b)      Ist dabei von Bedeutung, dass der Drittstaatsangehörige zu dem Zeitpunkt, zu dem er wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat festgenommen wird, das Aufenthaltsdokument, in dem seine biometrischen Daten gespeichert sind, mit sich führt?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

32      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen sind, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis für Drittstaatsangehörige, einschließlich türkischer Staatsangehöriger, von der Bedingung abhängig macht, dass ihre biometrischen Daten erhoben und in einer zentralen Datei gespeichert und aufbewahrt werden, eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmungen darstellt und ob sie gegebenenfalls durch das Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug gerechtfertigt werden kann.

33      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sowohl Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 als auch Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 Stillhalteklauseln enthalten, die allgemein die Einführung jeder neuen innerstaatlichen Maßnahme verbieten, die bezweckt oder bewirkt, dass die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Beschlüsse in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (Urteil vom 7. August 2018, Yön, C‑123/17, EU:C:2018:632, Rn. 39).

34      Der Gerichtshof hat zum einen bereits festgestellt, dass Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 in zeitlicher Hinsicht auf nationale Maßnahmen anwendbar ist, die in der Zeit vom 20. Dezember 1976 bis zum 30. November 1980 eingeführt wurden, und dass zum anderen Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 in zeitlicher Hinsicht auf nationale Maßnahmen anwendbar ist, die ab dem 1. Dezember 1980, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses, eingeführt wurden (Urteil vom 7. August 2018, Yön, C‑123/17, EU:C:2018:632, Rn. 48).

35      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nach dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 in den Niederlanden eingeführt wurde.

36      Daraus folgt, dass diese Regelung in den zeitlichen Anwendungsbereich von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 fällt, so dass im Rahmen der Beantwortung der ersten Frage nur diese Bestimmung auszulegen ist.

37      Wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verbietet die in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltene Stillhalteklausel allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C‑652/15, EU:C:2017:239, Rn. 25).

38      Der Gerichtshof hat auch anerkannt, dass dieser Artikel der Einführung neuer Beschränkungen der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in das Recht eines Mitgliedstaats einschließlich solcher Beschränkungen, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats betreffen, die dort von dieser Freiheit Gebrauch machen wollen, von dem Zeitpunkt an entgegensteht, zu dem der Beschluss Nr. 1/80 in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist (Urteil vom 7. November 2013, Demir, C‑225/12, EU:C:2013:725, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich außerdem, dass eine nationale Regelung, die die Voraussetzungen für eine Familienzusammenführung von sich rechtmäßig im betreffenden Mitgliedstaat aufhaltenden türkischen Arbeitnehmern im Vergleich zu denjenigen verschärft, die in diesem Mitgliedstaat galten, als der Beschluss Nr. 1/80 in Kraft trat, eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch diese türkischen Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat darstellt (Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C‑652/15, EU:C:2017:239, Rn. 31).

40      Im vorliegenden Fall sieht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, die – wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils festgestellt – nach dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 in den Niederlanden eingeführt wurde, vor, dass Drittstaatsangehörige, einschließlich türkischer Staatsangehöriger, die sich für eine Dauer von mehr als 90 Tagen in den Niederlanden aufhalten wollen, zuvor eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis einholen müssen. Die Erteilung dieser Erlaubnis setzt der Vorlageentscheidung zufolge jedoch voraus, dass die genannten Staatsangehörigen bei der Erhebung ihrer biometrischen Daten, d. h. von zehn Fingerabdrücken und einem Gesichtsbild, mitwirken. Diese Daten werden dann zum Zweck der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug in einer zentralen Datei gespeichert und aufbewahrt.

41      Somit schafft diese Regelung für türkische Staatsangehörige restriktivere Voraussetzungen für die erstmalige Einreise in das niederländische Hoheitsgebiet als diejenigen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 dort für sie galten.

42      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass in den Ausgangsverfahren die Erteilung vorläufiger Aufenthaltserlaubnisse für A und B im Hinblick auf die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in den Niederlanden bzw. die Familienzusammenführung mit P in diesem Mitgliedstaat der Bedingung unterlag, dass A und B ihre biometrischen Daten erheben lassen.

43      Unter diesen Umständen stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dar.

44      Nach ständiger Rechtsprechung ist eine solche Beschränkung verboten, es sei denn, sie gehört zu den in Art. 14 dieses Beschlusses aufgeführten Beschränkungen oder ist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus (Urteil vom 7. August 2018, Yön, C‑123/17, EU:C:2018:632, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Es ist daher zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung diese Voraussetzungen erfüllt.

46      Was als Erstes die Frage anbelangt, ob das mit der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung verfolgte Ziel, d. h. die Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses sein kann, mit dem sich eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtfertigen lässt, ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass das Ziel, die rechtswidrige Einreise und den rechtswidrigen Aufenthalt zu verhindern, einen solchen zwingenden Grund darstellt (Urteil vom 7. November 2013, Demir, C‑225/12, EU:C:2013:725, Rn. 41).

47      Zweitens hat der Gerichtshof ebenfalls entschieden, dass mit der Erfassung und Speicherung von Fingerabdrücken im Rahmen der Erteilung von Reisepässen, um zu verhindern, dass diese gefälscht und betrügerisch verwendet werden, ein von der Europäischen Union anerkanntes, dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt wird, nämlich die Verhinderung der illegalen Einreise von Personen in das Unionsgebiet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz, C‑291/12, EU:C:2013:670, Rn. 36 bis 38).

48      Drittens und letztens ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Unionsgesetzgeber dem Identitätsbetrug beimisst, wie insbesondere aus Art. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 767/2008 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung 2019/817 hervorgeht.

49      Unter diesen Umständen kann das Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug ein zwingender Grund des Allgemeininteresses sein, mit dem sich eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 rechtfertigen lässt.

50      Was als Zweites die Frage anbelangt, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung geeignet ist, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten, ist darauf hinzuweisen, dass die Erfassung, Speicherung und Aufbewahrung von zehn Fingerabdrücken und des Gesichtsbilds von Drittstaatsangehörigen in einer zentralen Datei es ermöglichen, die betreffende Person genau zu identifizieren und Identitäts- und Dokumentenbetrug aufzudecken, indem die biometrischen Daten der Person, die die Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis beantragt, mit den Daten in dieser Datei verglichen werden.

51      Daraus folgt, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung geeignet ist, das verfolgte Ziel zu gewährleisten.

52      Was als Drittes die Frage betrifft, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht, so ist sicherzustellen, dass sie nicht unter Berufung auf das Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug auf unverhältnismäßige Weise in das Recht auf Achtung des Privatlebens im Zusammenhang mit der Verarbeitung personenbezogener Daten eingreift.

53      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) u. a. vorsieht, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens hat. Nach Art. 8 Abs. 1 der Charta hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.

54      Die in den Art. 7 und 8 der Charta anerkannte Achtung des Privatlebens hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten erstreckt sich auf jede Information, die eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person betrifft (Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 52).

55      So fallen zum einen die Fingerabdrücke und das Gesichtsbild einer natürlichen Person unter diesen Begriff, da sie objektiv unverwechselbare Informationen über natürliche Personen enthalten und deren genaue Identifizierung ermöglichen (Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz, C‑291/12, EU:C:2013:670, Rn. 27). Zum anderen stellt die Erfassung, Speicherung und Aufbewahrung von Fingerabdrücken und des Gesichtsbilds von Drittstaatsangehörigen in einer zentralen Datei eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 der Charta dar (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU–Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Schutz des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens auf Unionsebene, dass sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten auf das absolut Notwendige beschränken (Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU–Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Mitgliedstaaten zum Zwecke der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug die angegebene Identität der Person, die die Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis beantragt, überprüfen müssen. Wie der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erfordert dieses Ziel insbesondere, sicherzustellen, dass der Antragsteller nicht bereits zuvor unter einer anderen Identität einen anderen Antrag gestellt hat, indem seine Fingerabdrücke mit den in einer zentralen Datei vorhandenen verglichen werden.

58      Zweitens beschränken sich die Daten, auf die sich die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung bezieht, auf zehn Fingerabdrücke und ein Gesichtsbild. Die Erhebung dieser Daten – abgesehen davon, dass sie es ermöglicht, den Betroffenen zuverlässig zu identifizieren – ist kein Vorgang intimer Natur und für den Betroffenen auch nicht mit besonderen körperlichen oder psychischen Unannehmlichkeiten verbunden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz, C‑291/12, EU:C:2013:670‚ Rn. 48).

59      Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber selbst, insbesondere im Rahmen der Verordnung Nr. 767/2008, vorgesehen, dass Visumantragsteller verpflichtet sind, ihre zehn Fingerabdrücke und ein Gesichtsbild abzugeben.

60      Was drittens den Geltungsbereich der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung anbelangt, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass diese im Wesentlichen für alle Drittstaatsangehörigen gilt, die sich für einen Zeitraum von mehr als 90 Tagen in den Niederlanden aufhalten wollen oder die sich illegal dort aufhalten.

61      Insoweit ist festzustellen, dass sich das mit dieser Regelung verfolgte Ziel, nämlich die Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug durch Drittstaatsangehörige, nicht erreichen lässt, wenn die Anwendung dieser Regelung auf eine bestimmte Gruppe von Drittstaatsangehörigen beschränkt wird. Der Geltungsbereich der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung scheint daher die wirksame Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten.

62      Viertens ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der Zugang zu den biometrischen Daten in der zentralen Datei und ihre Verwendung auf Beamte der nationalen Behörden beschränkt ist, die – wie etwa die Mitarbeiter der diplomatischen und konsularischen Vertretungen – mit der Durchführung des nationalen Ausländerrechts betraut und insoweit vom zuständigen Minister ordnungsgemäß ermächtigt sind, und zwar zum Zwecke der Feststellung oder Überprüfung der Identität von Drittstaatsangehörigen, soweit dies für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist.

63      Was fünftens und letztens die Dauer der Aufbewahrung personenbezogener Daten betrifft, muss die betreffende nationale Regelung stets objektiven Kriterien genügen, die einen Zusammenhang zwischen den zu speichernden personenbezogenen Daten und dem verfolgten Ziel herstellen (Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU–Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 191).

64      Im vorliegenden Fall sieht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung vor, dass die biometrischen Daten in der zentralen Datei für fünf Jahre nach Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis, nach Ausreise des Betroffenen am Ende eines rechtmäßigen Aufenthalts oder nach Ablauf der Geltungsdauer eines Einreiseverbots oder einer Unerwünschterklärung aufbewahrt werden. Die biometrischen Daten werden sofort vernichtet, wenn der Drittstaatsangehörige während seines Aufenthalts in den Niederlanden eingebürgert wird.

65      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung einen Zusammenhang zwischen der Dauer der Aufbewahrung personenbezogener Daten und dem Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug herstellt.

66      Die Aufbewahrung biometrischer Daten von Drittstaatsangehörigen während ihres Aufenthalts in den Niederlanden lässt sich nämlich damit rechtfertigen, dass während dieses Zeitraums die Identität der Drittstaatsangehörigen und die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat gemäß dem Ausländergesetz überprüft werden muss, insbesondere im Zusammenhang mit einer Prüfung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis. Ferner ist diese Aufbewahrungsdauer, wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erforderlich, um zu verhindern, dass Anträge auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis unter der Identität von Drittstaatsangehörigen gestellt werden, die sich rechtmäßig in den Niederlanden aufhalten.

67      Zur Aufbewahrung biometrischer Daten von Drittstaatsangehörigen für fünf Jahre nach Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis, nach ihrer Ausreise am Ende eines rechtmäßigen Aufenthalts oder nach Ablauf der Geltungsdauer eines Einreiseverbots oder einer Unerwünschterklärung, die ihnen gegenüber ausgesprochen wurden, ist festzustellen, dass eine solche Aufbewahrungsdauer insbesondere verhindert, dass Drittstaatsangehörige, die sich in einer solchen Lage befinden, einen neuen Antrag unter einer anderen Identität stellen.

68      Insoweit erscheint diese Aufbewahrungsdauer von fünf Jahren im Hinblick auf das mit der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung verfolgte Ziel nicht überzogen.

69      Unter diesen Umständen geht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um das Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug zu erreichen.

70      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis für Drittstaatsangehörige, einschließlich türkischer Staatsangehöriger, von der Bedingung abhängig macht, dass ihre biometrischen Daten erhoben und in einer zentralen Datei gespeichert und aufbewahrt werden, eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Beschränkung ist jedoch durch das Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug gerechtfertigt.

 Zur zweiten Frage

71      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen sind, dass eine nationale Regelung dann keine Beschränkung im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, wenn ihre Auswirkungen auf den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ungewiss und zu mittelbar sind, als dass angenommen werden könnte, dass dieser Zugang behindert wird.

72      Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich insbesondere, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage wissen möchte, ob die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, da sie es auch erlaubt, dass biometrische Daten von Drittstaatsangehörigen, einschließlich türkischer Staatsangehöriger, Dritten zum Zweck der Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten zur Verfügung gestellt werden.

73      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Rechtfertigung für ein Vorabentscheidungsersuchen nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin liegt, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits über das Unionsrecht erforderlich ist (Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a., C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung im Wesentlichen vorsieht, dass biometrische Daten von Drittstaatsangehörigen, einschließlich türkischer Staatsangehöriger, Dritten zum Zweck der Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten nur im Zusammenhang mit einer Straftat, bei der Untersuchungshaft angeordnet werden kann, zur Verfügung gestellt werden können, wenn zumindest der Verdacht besteht, dass ein Drittstaatsangehöriger eine solche Straftat begangen hat.

75      Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch nicht, dass A und B unter dem Verdacht stünden, eine Straftat begangen zu haben, und dass ihre biometrischen Daten gemäß Art. 107 Abs. 5 und 6 des Ausländergesetzes übermittelt worden wären. Im Übrigen hat die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt, dass die biometrischen Daten von A und B nicht im Rahmen eines Strafverfahrens verwendet worden sind.

76      Unter diesen Umständen ist die zweite Vorlagefrage für unzulässig zu erklären.

 Zur dritten Frage

77      Da die zweite Frage für unzulässig erklärt wurde, ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

78      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 des durch das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingesetzten Assoziationsrats ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis für Drittstaatsangehörige, einschließlich türkischer Staatsangehöriger, von der Bedingung abhängig macht, dass ihre biometrischen Daten erhoben und in einer zentralen Datei gespeichert und aufbewahrt werden, eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Beschränkung ist jedoch durch das Ziel der Verhütung und Bekämpfung von Identitäts- und Dokumentenbetrug gerechtfertigt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.