Language of document : ECLI:EU:C:2017:584

Rechtssache C79/15 P

Rat der Europäischen Union

gegen

Hamas

„Rechtsmittel – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Bekämpfung des Terrorismus – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen – Einfrieren von Geldern – Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP – Art. 1 Abs. 4 und 6 – Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 – Art. 2 Abs. 3 – Belassung einer Organisation auf der Liste der an terroristischen Handlungen beteiligten Personen, Vereinigungen und Körperschaften – Voraussetzungen – Tatsächliche Grundlage der Beschlüsse über das Einfrieren von Geldern – Beschluss einer zuständigen Behörde – Begründungspflicht“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. Juli 2017

1.        Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus – Beschluss über das Einfrieren von Geldern – Aufrechterhaltung auf der Grundlage eines nationalen Beschlusses über das Einfrieren von Geldern – Nationaler Beschluss, der für sich allein nicht mehr die Schlussfolgerung erlaubt, dass die Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten fortbesteht – Pflicht des Rates, neuere Tatsachen zu berücksichtigen, die das Fortbestehen dieser Gefahr belegen

(Gemeinsamer Standpunkt 2001/931 des Rates, Art. 1 Abs. 6)

2.        Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus – Beschluss über das Einfrieren von Geldern – Erlass oder Aufrechterhaltung auf der Grundlage eines nationalen Beschlusses über das Einfrieren von Geldern – Erfordernis, dass neue Umstände, die die Belassung auf der Liste rechtfertigen, Gegenstand eines nationalen Beschlusses sind, der nach dem der erstmaligen Aufnahme in die Liste zugrunde gelegten Beschluss erlassen wurde – Fehlen

(Gemeinsamer Standpunkt 2001/931 des Rates, Art. 1 Abs. 4 und 6)

3.        Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus – Beschluss über das Einfrieren von Geldern – Aufrechterhaltung auf der Grundlage eines nationalen Beschlusses über das Einfrieren von Geldern – Umfang der Kontrolle – Kontrolle sämtlicher Angaben zum Beleg des Fortbestehens der Gefahr einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten – Angaben, von denen nicht alle einem innerstaatlichen Beschluss einer zuständigen Behörde entstammen – Keine Auswirkung

(Art. 296 AEUV)

1.      Bei Folgebeschlüssen über das Einfrieren von Geldern kommt es bei der Prüfung, ob eine Person oder Organisation auf einer Liste betreffend das Einfrieren von Geldern belassen wird, auf die Frage an, ob sich seit der Aufnahme des Namens dieser Person oder Organisation in diese Liste oder seit der letzten Überprüfung die Sachlage derart geändert hat, dass aus ihr im Hinblick auf die Beteiligung der fraglichen Person oder Organisation an terroristischen Aktivitäten nicht mehr dieselbe Schlussfolgerung gezogen werden kann.

Demzufolge darf der Rat bei einer Überprüfung nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 die betroffene Person oder Organisation auf der vorgenannten Liste belassen, wenn er zu dem Ergebnis gelangt, dass die Gefahr ihrer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten, die ihre erstmalige Aufnahme in diese Liste gerechtfertigt hatte, fortbesteht. Wird eine Person oder Organisation auf dieser Liste belassen, stellt dies folglich im Wesentlichen eine Verlängerung der erstmaligen Aufnahme in die Liste dar.

Bei der Prüfung der Frage, ob die Gefahr einer Beteiligung der betroffenen Person oder Organisation an terroristischen Aktivitäten fortbesteht, ist gebührend zu berücksichtigen, was mit dem nationalen Beschluss, der der erstmaligen Aufnahme dieser Person oder Organisation in die Liste über das Einfrieren von Geldern zugrunde gelegt wurde, anschließend geschehen ist, insbesondere ob er wegen neuer Tatsachen oder einer geänderten Bewertung durch die zuständige nationale Behörde aufgehoben oder zurückgenommen worden ist.

Demgemäß stellt sich noch die Frage, ob der Umstand, dass der nationale Beschluss, der der erstmaligen Aufnahme in die Liste zugrunde gelegt wurde, in Kraft geblieben ist, für sich allein ausreichen kann, um die betroffene Person oder Organisation auf der Liste zu belassen.

Insoweit ist der Rat, wenn in Anbetracht der verstrichenen Zeit und aufgrund der Veränderung der Umstände des in Frage stehenden Falles die Tatsache allein, dass der der erstmaligen Aufnahme in die Liste zugrunde gelegte nationale Beschluss weiter in Kraft ist, nicht mehr die Schlussfolgerung erlaubt, dass die Gefahr einer Beteiligung der betroffenen Person oder Organisation an terroristischen Aktivitäten fortbesteht, dazu verpflichtet, die Belassung dieser Person oder Organisation auf der betreffenden Liste auf eine aktualisierte Lagebeurteilung zu stützen und neuere Tatsachen zu berücksichtigen, die das Fortbestehen dieser Gefahr belegen.

(vgl. Rn. 25, 29-32)

2.      Nach Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ist Voraussetzung für die Aufnahme einer Person oder Organisation in die Liste betreffend das Einfrieren von Geldern ein nationaler Beschluss, der von einer zuständigen Behörde stammt, oder ein Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, mit dem eine Sanktion angeordnet wird.

Eine solche Voraussetzung ist hingegen nicht in Art. 1 Abs. 6 dieses Gemeinsamen Standpunkts vorgesehen.

Diese Unterscheidung erklärt sich durch den Umstand, dass die Belassung einer Person oder Organisation auf einer Liste betreffend das Einfrieren von Geldern im Wesentlichen eine Verlängerung der erstmaligen Aufnahme darstellt und voraussetzt, dass die Gefahr einer Beteiligung der betroffenen Person oder Organisation an terroristischen Aktivitäten, wie sie der Rat aufgrund des der erstmaligen Aufnahme zugrunde gelegten innerstaatlichen Beschlusses ursprünglich festgestellt hatte, fortbesteht.

Somit verlangt Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zwar, dass der Rat mindestens einmal pro Halbjahr eine „Überprüfung“ vornimmt, um sicherzustellen, dass der „Verbleib“ einer Person oder Organisation, die bereits aufgrund eines von einer zuständigen Behörde erlassenen innerstaatlichen Beschlusses in diese Liste eingetragen worden ist, nach wie vor gerechtfertigt ist. Aber er verlangt nicht, dass jeder neue Umstand, den der Rat zur Rechtfertigung der Belassung der betroffenen Person oder Organisation auf der Liste heranzieht, Gegenstand eines nationalen Beschlusses war, den die zuständige Behörde nach dem Beschluss erlassen hat, der der erstmaligen Aufnahme in die Liste zugrunde gelegt worden war. Damit würde der Unterschied verkannt, der zwischen der Entscheidung über die erstmalige Aufnahme einer Person oder Organisation in die vorgenannte Liste und der späteren Entscheidung, die betroffene Person oder Organisation auf dieser Liste zu belassen, besteht.

Ferner würde eine solche Auslegung von Art. 1 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 zumindest stillschweigend auf der Annahme beruhen, dass entweder die zuständigen nationalen Behörden regelmäßig Beschlüsse erlassen, die den Überprüfungen, die dem Rat nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 obliegen, zugrunde gelegt werden könnten, oder aber der Rat die Möglichkeit hat, diese Behörden erforderlichenfalls um den Erlass solcher Beschlüsse zu ersuchen.

Für diese Annahme findet sich im Unionsrecht jedoch keine Grundlage.

Insoweit bedeutet zum einen der Umstand, dass die Mitgliedstaaten den Rat über die von ihren Behörden erlassenen Beschlüsse informieren und ihm diese übermitteln, nicht, dass die betreffenden Behörden verpflichtet wären, regelmäßig oder zumindest erforderlichenfalls Beschlüsse zu erlassen, die diesen Überprüfungen zugrunde gelegt werden können.

Zum anderen gibt der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Ermangelung jeglicher speziellen Rechtsgrundlage im Rahmen des mit dem Gemeinsamen Standpunkt 2001/931 geschaffenen Systems der restriktiven Maßnahmen dem Rat nicht die Befugnis, die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu verpflichten, erforderlichenfalls nationale Beschlüsse zu erlassen, die er den ihm nach Art. 1 Abs. 6 dieses Gemeinsamen Standpunkts obliegenden Überprüfungen zugrunde legen könnte.

Dieses System sieht im Gegenteil keinen Mechanismus vor, der es dem Rat ermöglichte, erforderlichenfalls über innerstaatliche Beschlüsse zu verfügen, die nach der erstmaligen Aufnahme der betreffenden Person oder Organisation in die Liste über das Einfrieren von Geldern erlassen worden sind, damit er seine Überprüfungen gemäß Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 vornehmen kann, in deren Rahmen er zu untersuchen hat, ob die Gefahr einer Beteiligung dieser Person oder Organisation an terroristischen Aktivitäten fortbesteht. In Ermangelung eines solchen Mechanismus kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieses System vom Rat verlangt, Überprüfungen ausschließlich auf der Grundlage solcher innerstaatlicher Beschlüsse durchzuführen, da andernfalls die dem Rat hierfür zur Verfügung stehenden Mittel ungebührlich beschränkt würden.

(vgl. Rn. 37-45)

3.      In Bezug auf die Aufnahme in eine Liste betreffend das Einfrieren von Geldern ist die betroffene Person oder Organisation insbesondere dadurch geschützt, dass sie die Möglichkeit hat, sowohl die innerstaatlichen Beschlüsse, die der erstmaligen Aufnahme in diese Liste zugrunde gelegt wurden, vor den nationalen Gerichten als auch die Aufnahme in die Liste selbst vor den Unionsgerichten anzufechten.

Was die Folgeentscheidungen über das Einfrieren von Geldern betrifft, ist die betroffene Person oder Organisation namentlich dadurch geschützt, dass sie die Möglichkeit hat, gegen diese Entscheidungen vor dem Unionsrichter Klage zu erheben. Der Unionsrichter muss insbesondere zum einen prüfen, ob die in Art. 296 AEUV vorgesehene Begründungspflicht eingehalten worden ist, und somit, ob die angeführten Gründe hinreichend präzise und konkret sind.

Die betroffene Person oder Organisation kann im Rahmen der Klage gegen ihre Belassung auf der Liste betreffend das Einfrieren von Geldern sämtliche Angaben bestreiten, auf die sich der Rat zum Beleg dafür stützt, dass die Gefahr ihrer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten fortbesteht, ohne dass es darauf ankäme, ob diese Angaben einem innerstaatlichen Beschluss einer zuständigen Behörde oder anderen Quellen entstammen. Im Bestreitensfall obliegt es dem Rat, die Stichhaltigkeit der behaupteten Tatsachen nachzuweisen, und dem Unionsrichter, deren inhaltliche Richtigkeit zu prüfen.

(vgl. Rn. 47-49)