Language of document : ECLI:EU:C:2024:340

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

18. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Werte und Ziele der Europäischen Union – Art. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Unabhängiges und unparteiisches Gericht – Neuorganisation der gerichtlichen Zuständigkeiten in einem Mitgliedstaat – Abschaffung eines spezialisierten Strafgerichts – Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens“

In der Rechtssache C‑634/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Oktober 2022, in dem Strafverfahren gegen

OT,

PG,

CR,

VT,

MD,

Beteiligte:

Sofiyska gradska prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, E. Rousseva und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. November 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts.

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das gegen fünf Personen aufgrund von Taten eingeleitet worden war, die als organisierte Kriminalität eingestuft wurden.

 Rechtlicher Rahmen

3        § 43 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Zakon za izmenenie i dopalnanie na Zakona za sadebnata vlast (Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes) (DV Nr. 32 vom 26. April 2022, im Folgenden: ZIDZSV) bestimmt:

„Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes werden der Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien)], der Apelativen spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafberufungsgericht, Bulgarien)], die Spetsializirana prokuratura [(Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien)] und die Apelativna spetsializirana prokuratura [(Staatsanwaltschaft beim Spezialisierten Strafberufungsgericht, Bulgarien)] abgeschafft.“

4        § 44 dieser Übergangs- und Schlussbestimmungen lautet:

„(1)      Die Richter des Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht)] und des Apelativen spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafberufungsgericht)] werden unter den Voraussetzungen und nach dem Verfahren des Art. 194 Abs. 1 versetzt.

(2)      Innerhalb von 14 Tagen nach Verkündung dieses Gesetzes können die in Abs. 1 genannten Personen gegenüber dem Richterkollegium des Obersten Justizrats schriftlich erklären, dass sie an die Richterstelle zurückkehren möchten, die sie vor ihrer Ernennung zum Richter am Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht)] bzw. am Apelativen spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafberufungsgericht)] innehatten.

(3)      Innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf der in Abs. 2 genannten Frist entscheidet das Richterkollegium des Obersten Justizrats über die Schaffung der Richterstellen an den Gerichten, die den im Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht)] und dem Apelativen spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafberufungsgericht)] abgeschafften Stellen entsprechen, wobei es die Arbeitsbelastung des jeweiligen Gerichts berücksichtigt. Höchstens ein Viertel der Richter des abgeschafften Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht)] und höchstens ein Drittel der Richter des abgeschafften Apelativen spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafberufungsgericht)] wird an ein und dasselbe Gericht versetzt.

(4)      Nach Ablauf der in Abs. 3 vorgesehenen Frist nimmt das Richterkollegium des Obersten Justizrats die Versetzung der Richter ab Inkrafttreten dieses Gesetzes vor.

(5)      Die in Abs. 4 genannten Entscheidungen des Richterkollegiums des Obersten Justizrats sind sofort vollstreckbar.“

5        § 49 der Übergangs- und Schlussbestimmungen sieht vor:

„Erstinstanzliche Strafverfahren vor dem Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht)], in denen vor Inkrafttreten dieses Gesetzes keine Vorverhandlung stattgefunden hat, werden innerhalb von sieben Tagen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes an die zuständigen Gerichte verwiesen.“

6        In § 50 der Übergangs- und Schlussbestimmungen heißt es:

„(1)      Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes ist für erstinstanzliche Strafverfahren vor dem Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht)], in denen eine Vorverhandlung stattgefunden hat, das Sofiyski gradski sad [(Stadtgericht Sofia, Bulgarien)] zuständig, und der Spruchkörper, der die Verhandlung durchgeführt hat, ist dafür zuständig, die Strafsache weiterzubearbeiten.

(2)      Die Richter der Spruchkörper, die nicht an das Sofiyski gradski sad [(Stadtgericht Sofia)] versetzt wurden, werden abgeordnet, um bis zum Abschluss des Verfahrens an der Prüfung der Strafsachen mitzuwirken.

(3)      Die Richter des Spruchkörpers, die die erstinstanzlichen Strafverfahren, in denen ein Urteil ergangen ist, bearbeitet haben, werden mit der Urteilsbegründung beauftragt, sofern sie nicht an das Sofiyski gradski sad [(Stadtgericht Sofia)] versetzt wurden.

…“

7        § 59 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des ZIDZSV lautet:

„(1)      Der Sofiyski gradski sad [(Stadtgericht Sofia)] tritt für Aktiva, Passiva, Rechte und Pflichten die Rechtsnachfolge des Spetsializiran nakazatelen sad [(Spezialisiertes Strafgericht)] an.

(2)      Der Apelativen sad Sofia (Berufungsgericht Sofia, Bulgarien) tritt für Aktiva, Passiva, Rechte und Pflichten die Rechtsnachfolge des Apelativen spetsializiran nakazatelen sad [Spezialisiertes Strafberufungsgericht] an.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8        Seit dem 12. Juli 2019 werden OT, PG, CR, VT und MD zunächst vor dem Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) und seit seiner Abschaffung vor dem Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) wegen Beteiligung an einer organisierten kriminellen Vereinigung zur Begehung abgestimmter Erpressungshandlungen strafrechtlich verfolgt.

9        Der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) und der Apelativen spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafberufungsgericht) (im Folgenden zusammen: spezialisierte Strafgerichte) wurden vom bulgarischen Gesetzgeber 2011 eingerichtet. Ursprünglich waren sie nur für die Entscheidung über Straftaten zuständig, die von organisierten kriminellen Gruppen begangen wurden. Ihre Zuständigkeit wurde in der Folge auf „Straftaten gegen die Republik [Bulgarien]“ und auf Korruptionsdelikte gegen Personen in hohen öffentlichen Ämtern ausgedehnt.

10      Mit dem ZIDZSV wurden die spezialisierten Strafgerichte mit Wirkung vom 28. Juli 2022 abgeschafft.

11      Das ZIDZSV sieht vor, dass ab diesem Zeitpunkt der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) und der Apelativen sad Sofia (Berufungsgericht Sofia) an die Stelle des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) bzw. des Apelativen spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafberufungsgericht) treten.

12      Nach der Begründung des ZIDZSV sollen diese strukturellen und organisatorischen Änderungen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz und den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger gewährleisten, da die spezialisierten Strafgerichte im Lauf ihrer zehnjährigen Tätigkeit die bei ihrer Einrichtung gesetzten Ziele nicht erreicht haben und die Vermischung von sachlichen und persönlichen Kriterien der Spezialisierung, die die Zuständigkeit dieser Gerichte bestimmen, Fragen hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit aufgeworfen hat.

13      Nach § 50 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des ZIDZSV sind Strafsachen wie die des Ausgangsverfahrens, in denen vor dem Inkrafttreten des ZIDZSV eine Vorverhandlung stattgefunden hat, ungeachtet der Abschaffung der spezialisierten Strafgerichte von dem Spruchkörper, der diese Verhandlung durchgeführt hat, weiter zu bearbeiten. Zu diesem Zweck hat der bulgarische Gesetzgeber vorgesehen, dass diese Strafsachen auf den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) und den Apelativen sad Sofia (Berufungsgericht Sofia) übertragen werden, das Mandat der beteiligten Laienrichter geändert wird, damit sie als Laienrichter an diesen beiden Gerichten angesehen werden, und die spezialisierten Strafrichter, die nicht an diese Gerichte versetzt werden, dorthin abgeordnet werden.

14      Im vorliegenden Fall weist die Kammer des Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia), die nunmehr für die Entscheidung im Ausgangsverfahren zuständig ist, somit die gleiche Besetzung auf wie die Kammer des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht), die vor dessen Abschaffung für die Entscheidung dieser Strafsache zuständig war.

15      In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass sich die Rechtsanwältin von OT am 25. Februar 2022, also während des Verfahrens der öffentlichen Konsultation zu dem Gesetzesentwurf, der zum Erlass des ZIDZSV geführt habe, als Vertreterin einer Nichtregierungsorganisation öffentlich für die Abschaffung des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) ausgesprochen habe, weil dieses Gericht kein faires Verfahren gewährleisten könne.

16      OT habe aber auch nach Erlass des ZIDZSV keinen Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit gestellt. Es gebe für das vorlegende Gericht auch keinen Grund, sich für befangen zu erklären, da es weder hinsichtlich der Strafsache noch hinsichtlich der Beteiligten des Ausgangsverfahrens parteiisch sei.

17      Eine öffentliche Erklärung wie diejenige der Anwältin von OT führe jedoch dazu, dass berechtigte Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts entstünden. Gleiches gelte für die Gründe, die der bulgarische Gesetzgeber angeführt habe, um die Abschaffung der spezialisierten Strafgerichte zu rechtfertigen, da damit nicht nur die Unabhängigkeit der Kammer, die in dem gegen OT eingeleiteten Strafverfahren zu entscheiden habe, sondern die des gesamten Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) in Frage gestellt werde.

18      Zweitens äußert das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Gründe mit dem Unionsrecht.

19      Bis zum Erlass des ZIDZSV sei unbestritten gewesen, dass der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) die Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 Abs. 3 AEUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta erfülle.

20      Außerdem habe der bulgarische Gesetzgeber die Gründe, die er für die Schlussfolgerung, dass die spezialisierten Strafgerichte nicht unabhängig seien und die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger nicht schützten, angeführt habe, nie auf konkrete Beweise gestützt, obwohl es eines angemessenen Nachweises bedurft hätte.

21      Drittens fragt sich das vorlegende Gericht, ob es in Anbetracht der Gründe für die Abschaffung des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) weiterhin in den bei ihm anhängigen Verfahren entscheiden könne und welche Folgen es für die von ihm zu erlassenden Entscheidungen hätte, wenn es sich nicht für befangen erkläre.

22      Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass die Unabhängigkeit eines Gerichts, das mit dem ZIDZSV abgeschafft wird, wobei die Richter aber die bei diesem Gericht anhängigen Sachen, in denen bereits Vorverhandlungen stattgefunden haben, bis zu dem Zeitpunkt der Abschaffung des Gerichts und auch danach weiter bearbeiten müssen, beeinträchtigt wird, wenn die Abschaffung des Gerichts damit begründet wird, dass so der verfassungsrechtliche Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger gewahrt werden, aber nicht ordnungsgemäß dargelegt wird, welche Tatsachen zu dem Schluss führen, dass dieser Grundsatz verletzt wird?

2.      Sind die genannten unionsrechtlichen Bestimmungen dahin auszulegen, dass sie nationalen Vorschriften wie jenen des ZIDZSV entgegenstehen, die zur vollständigen Abschaffung eines eigenständigen Justizorgans in Bulgarien (des Spetsializiran nakazatelen sad [Spezialisiertes Strafgericht]) mit der angeführten Begründung und zur Versetzung der Richter (einschließlich der Richter des Spruchkörpers, der mit der konkreten Strafsache befasst ist) von diesem Gericht an verschiedene andere Gerichte führen, aber diese Richter verpflichten, die bereits an dem abgeschafften Gericht anhängigen und von ihnen begonnenen Sachen weiter zu bearbeiten?

3.      Wenn ja, welche Verfahrenshandlungen sollten – auch im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts – von den Richtern der gerade abgeschafften Gerichte in den Sachen des abgeschafften Gerichts (die sie nach dem Gesetz zu Ende führen müssen) auch im Hinblick auf ihre Verpflichtung, genau zu prüfen, ob sie sich wegen Befangenheit in diesen Sachen selbst ablehnen, vorgenommen werden? Welche Folgen hätte dies für die prozessualen Entscheidungen des gerade abgeschafften Gerichts in den Sachen, die zu Ende geführt werden müssen, und für die abschließenden Rechtsakte in diesen Sachen?

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

23      Die polnische Regierung macht im Wesentlichen geltend, dass Fragen der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten, wie sie mit den Vorlagefragen aufgeworfen würden, in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen.

24      Nach ständiger Rechtsprechung fällt die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit, doch müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 75, und vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Außerdem geht aus den Vorlagefragen klar hervor, dass diese nicht die Auslegung des bulgarischen Rechts, sondern die Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen betreffen, auf die sie sich beziehen.

26      Folglich ist der Gerichtshof für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zuständig.

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

27      Die polnische Regierung ist der Ansicht, dass das Ausgangsverfahren keinen Bezug zum Unionsrecht aufweise, so dass die Vorlagefragen für unzulässig zu erklären seien.

28      Die Europäische Kommission hält diese Fragen ebenfalls für unzulässig. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts seien insoweit hypothetisch, als dieses keinen subjektiven Grund dafür anführe, sich für befangen zu erklären, und die Beteiligten des Ausgangsverfahrens seine objektive Unparteilichkeit nicht in Frage stellten. Außerdem seien die Vorlagefragen für die Entscheidung im Ausgangsverfahren unerheblich, da die mit dem ZIDSZV vorgenommenen strukturellen und organisatorischen Änderungen nur den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht), nicht aber das vorlegende Gericht beträfen.

29      Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des mit dem Ausgangsrechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten dieses Rechtsstreits sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daraus folgt, dass für die von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt und dass der Gerichtshof die Beantwortung dieser Fragen nur ablehnen kann, wenn die Auslegung, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung dieser Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil vom 21. Dezember 2023, European Superleague Company, C‑333/21, EU:C:2023:1011, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Wie sich nämlich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung]), C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Der Gerichtshof hat daher darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann. In einem solchen Verfahren muss also ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 64 und 65 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Mitglieder eines Gerichts, das von einem Mitgliedstaat abgeschafft wurde, um den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz zu wahren und die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger zu schützen, als Mitglieder des Gerichts, das an die Stelle des abgeschafften Gerichts getreten ist, weiterhin über bestimmte Sachen entscheiden können, mit denen sie als Mitglieder des abgeschafften Gerichts befasst waren.

33      Aus der Begründung der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die Vorlagefragen insbesondere die Auslegung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit betreffen, wie er durch die in der vorstehenden Randnummer genannten unionsrechtlichen Bestimmungen gewährleistet wird.

34      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verteilung oder Neuorganisation der gerichtlichen Zuständigkeiten in einem Mitgliedstaat zwar grundsätzlich unter die den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 2 EUV garantierte Freiheit fällt, doch gilt dies nur unter dem Vorbehalt, dass die Verteilung oder Neuorganisation die Einhaltung des in Art. 2 EUV verankerten Wertes der Rechtsstaatlichkeit und die sich insoweit aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen nicht beeinträchtigt, darunter das Erfordernis, dass die Gerichte, die Unionsrecht auszulegen und anzuwenden haben, unabhängig und unparteiisch sind und zuvor durch Gesetz errichtet wurden (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 263).

35      Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt verlangt, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Dieses Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit verlangt, dass die für nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern geltende Regelung insbesondere die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass diese Unabhängigkeit durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen von außen beeinträchtigt wird. Deshalb ist es wesentlich, dass solche Maßnahmen nur aus berechtigten Gründen beschlossen werden dürfen, und zwar insbesondere um die verfügbaren Ressourcen so zu verteilen, dass eine geordnete Rechtspflege gewährleistet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 117 und 118).

37      Im vorliegenden Fall hat der bulgarische Gesetzgeber aufgrund von Erfordernissen im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, eine geordnete Rechtspflege zu gewährleisten, entschieden, den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) abzuschaffen, dabei aber nicht die individuelle Unabhängigkeit der Mitglieder dieses Gerichts in Frage gestellt.

38      Zum einen geht nämlich aus der Begründung des ZIDZSV, wie sie in Rn. 15 der Vorlageentscheidung wiedergegeben wird, hervor, dass die Konzentration hochsensibler Strafsachen, die vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) bearbeitet werden sollen, dieses Gericht der Gefahr mangelnder Effektivität und eines unzulässigen Drucks aussetzen könnte. Zum anderen ergibt sich aus den einschlägigen Bestimmungen des bulgarischen Rechts, dass der bulgarische Gesetzgeber die Richter des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) als hinreichend unabhängig und unparteiisch angesehen hat, um die Strafsachen, in denen eine Vorverhandlung vor diesem Gericht stattgefunden hatte, am Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) weiter zu bearbeiten.

39      Außerdem haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens, wie in Rn. 16 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des vorlegenden Gerichts nicht in Frage gestellt, und dieses hat keinen Zweifel an seiner subjektiven Unparteilichkeit.

40      Unter diesen Umständen muss zwar jedes Gericht überprüfen, ob es ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne u. a. von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht (Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung), doch lässt sich dem Vorabentscheidungsersuchen nicht entnehmen, aus welchen Gründen im vorliegenden Fall ein solcher Zweifel bestehen soll.

41      Daher erscheint eine Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen, aus denen sich die Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, die das Unionsrecht auszulegen und anzuwenden haben, ergeben, für die Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht erforderlich.

42      Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig.

 Kosten

43      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Das Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. September 2022, ist unzulässig.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.