Language of document : ECLI:EU:C:2024:329

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

18. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Gemeinsame Agrarpolitik – Direktzahlungsregelung für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe – Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 – Regelung über die einheitliche Flächenzahlung – Art. 58 – In Fällen von zu viel angemeldeten Flächen anwendbare Kürzungen und Ausschlüsse – Sanktion in Fällen von zu viel angemeldeten Flächen, die 50 % der ermittelten Fläche übersteigen – Verrechnung der Sanktion im Verlauf der drei Kalenderjahre, die auf das Kalenderjahr der Feststellung folgen – Begriff ‚Feststellung‘ – Kontrollbericht, mit dem Unregelmäßigkeiten im betreffenden Beihilfeantrag festgestellt werden“

In der Rechtssache C‑79/23 [Kaszamás](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 24. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Februar 2023, in dem Verfahren

FJ

gegen

Agrárminiszter

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Aquilina und V. Bottka als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 35 der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates vom 21. Juni 2005 über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. 2005, L 209, S. 1) und von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor (ABl. 2009, L 316, S. 65) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1368/2011 der Kommission vom 21. Dezember 2011 (ABl. 2011, L 341, S. 33) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1122/2009).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FJ und dem Agrárminiszter (Landwirtschaftsminister, Ungarn) über einen FJ im Rahmen der Regelung über die einheitliche Flächenzahlung für das Jahr 2020 gewährten Vorschuss, der zur Verrechnung einer Sanktion einbehalten wurde, die gegen FJ wegen zu viel angemeldeter Flächen nach dieser Regelung für das Jahr 2013 verhängt worden war.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 1290/2005

3        Art. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 lautete:

„Mit dieser Verordnung werden die besonderen Bedingungen und Regelungen für die Finanzierung der Ausgaben im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik festgelegt, einschließlich der Ausgaben für die Entwicklung des ländlichen Raums.“

4        Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung sah vor:

„Um die im Vertrag niedergelegten Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik zu erreichen und die Finanzierung der verschiedenen agrarpolitischen Maßnahmen einschließlich der Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums zu gewährleisten, werden zwei Fonds eingerichtet:

a)      ein Europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft, nachstehend ‚EGFL‘ genannt, und

b)      ein Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums, nachstehend ‚ELER‘ genannt.“

5        Titel IV („Rechnungsabschluss und Überwachung durch die [Europäische] Kommission“) der Verordnung enthielt ein Kapitel 2 betreffend „Unregelmäßigkeiten“, in dem die Art. 32 bis 35 enthalten waren.

6        Art. 32 der Verordnung Nr. 1290/2005, der besondere Bestimmungen für den EGFL enthielt, bestimmte in Abs. 5 Unterabs. 1:

„Ist die Wiedereinziehung nicht innerhalb einer Frist von vier Jahren ab der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung erfolgt bzw., wenn sie Gegenstand eines Verfahrens vor den nationalen Gerichten ist, innerhalb einer Frist von acht Jahren, so werden die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom Gemeinschaftshaushalt getragen.“

7        Art. 33 dieser Verordnung, der besondere Bestimmungen für den ELER enthielt, bestimmte in Abs. 8 Unterabs. 1:

„Hat die Wiedereinziehung nicht vor Abschluss eines Entwicklungsprogramms für den ländlichen Raum stattgefunden, so werden die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom Gemeinschaftshaushalt getragen und entweder am Ende eines Zeitraums von vier Jahren nach der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung oder von acht Jahren, wenn die Wiedereinziehung Gegenstand einer Klage vor den nationalen Gerichten ist, oder bei Abschluss des Programms berücksichtigt, wenn diese Fristen vor dessen Abschluss enden.“

8        Art. 35 der Verordnung lautete:

„Die erste amtliche oder gerichtliche Feststellung im Sinne dieses Kapitels ist die erste schriftliche Bewertung einer zuständigen Verwaltungs- oder Gerichtsbehörde, in der diese anhand konkreter Tatsachen zu dem Schluss kommt, dass eine Unregelmäßigkeit vorliegt, auch wenn dieser Schluss aufgrund des weiteren Verlaufs des Verwaltungs- bzw. Gerichtsverfahrens möglicherweise revidiert oder zurückgezogen werden muss.“

9        Die Verordnung Nr. 1290/2005, die in zeitlicher Hinsicht in Bezug auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens einschlägig ist, wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 549, berichtigt in ABl. 2016, L 130, S. 13) aufgehoben.

 Verordnung Nr. 885/2006

10      Art. 5b der Verordnung (EG) Nr. 885/2006 der Kommission vom 21. Juni 2006 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates hinsichtlich der Zulassung der Zahlstellen und anderen Einrichtungen sowie des Rechnungsabschlusses für den EGFL und den ELER (ABl. 2006, L 171, S. 90) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1034/2008 der Kommission vom 21. Oktober 2008 (ABl. 2008, L 279, S. 13) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 885/2006) lautete:

„Unbeschadet anderer in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehener Vollstreckungsmaßnahmen rechnen die Mitgliedstaaten eine noch ausstehende Forderung an einen Begünstigten, die im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften festgestellt worden ist, gegen eine etwaige künftige Zahlung auf, die von der für die Einziehung des geschuldeten Betrags zuständigen Zahlstelle an denselben Begünstigten zu leisten ist.“

11      Diese in zeitlicher Hinsicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbare Verordnung wurde durch die Delegierte Verordnung (EU) Nr. 907/2014 der Kommission vom 11. März 2014 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Zahlstellen und anderen Einrichtungen, die finanzielle Verwaltung, den Rechnungsabschluss, Sicherheiten und die Verwendung des Euro (ABl. 2014, L 255, S. 18) aufgehoben.

 Verordnung Nr. 1122/2009

12      Wie sich aus ihrem Titel ergibt, legte die Verordnung Nr. 1122/2009 u. a. Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates vom 19. Januar 2009 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1290/2005, (EG) Nr. 247/2006, (EG) Nr. 378/2007 sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 (ABl. 2009, L 30, S. 16) hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der Verordnung Nr. 73/2009 fest.

13      Die Erwägungsgründe 73, 90, 92 und 101 der Verordnung Nr. 1122/2009 lauteten:

„(73)      Es sind Regeln für die Abfassung ausführlicher und spezifischer Kontrollberichte über die Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen festzulegen. Die vor Ort eingesetzten spezialisierten Inspektoren sollten hierin sämtliche von ihnen getroffene Feststellungen verzeichnen und darüber hinaus den Schweregrad des Verstoßes beurteilen, um es der Zahlstelle zu ermöglichen, entsprechende Kürzungen der Direktzahlungen oder je nach Fall den Ausschluss von deren Gewährung zu beschließen.

(90)      Die Informationen über die Ergebnisse der Kontrollen der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen sollten allen Zahlstellen zugänglich gemacht werden, die für die Verwaltung der verschiedenen anderweitigen Verpflichtungen unterliegenden Zahlungen zuständig sind, damit bei entsprechenden Feststellungen geeignete Kürzungen vorgenommen werden.

(92)      In Bezug auf die anderweitigen Verpflichtungen sollte neben einer Staffelung der Kürzungen und Ausschlüsse zwecks Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorgesehen werden, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt wiederholte Verstöße gegen dieselben anderweitigen Verpflichtungen nach vorheriger Verwarnung des Betriebsinhabers als vorsätzliche Verstöße betrachtet werden.

(101)      Um die einheitliche Anwendung des Grundsatzes des guten Glaubens in der gesamten [Europäischen] Gemeinschaft zu gewährleisten, sollten bei der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge die Voraussetzungen, unter denen sich der Betroffene auf diesen Grundsatz berufen kann, unbeschadet der Behandlung der betreffenden Ausgaben im Rahmen des Rechnungsabschlusses gemäß der Verordnung [Nr. 1290/2005] festgelegt werden.“

14      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 1122/2009 bestimmte:

„Es gelten auch folgende Begriffsbestimmungen:

10.      ‚Unregelmäßigkeiten‘: jede Missachtung der für die Gewährung der betreffenden Beihilfe geltenden Rechtsvorschriften;

12.      ‚flächenbezogene Beihilferegelungen‘: … alle Beihilferegelungen nach den Titeln IV und V der Verordnung … Nr. 73/2009 …;

23.      ‚ermittelte Fläche‘: Fläche, die allen in den Vorschriften für die Beihilfegewährung festgelegten Voraussetzungen genügt; …

31.      ‚Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen‘: Grundanforderungen an die Betriebsführung und Erhaltung in gutem landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand nach den Artikeln 5 und 6 der Verordnung … Nr. 73/2009;

…“

15      Titel III („Kontrollen“) des Teils II der Verordnung Nr. 1122/2009 enthielt ein Kapitel II, das „Kontrollen in Bezug auf die Beihilfevoraussetzungen“ betraf. In Abschnitt II („Vor-Ort-Kontrollen“) dieser Verordnung sah Art. 32 („Kontrollbericht“) vor:

„(1)      Über jede gemäß diesem Abschnitt durchgeführte Vor-Ort-Kontrolle ist ein Kontrollbericht anzufertigen, der es ermöglicht, die Einzelheiten der vorgenommenen Kontrollschritte nachzuvollziehen. …

(2)      Der Betriebsinhaber erhält Gelegenheit, den Bericht zu unterzeichnen und dadurch seine Anwesenheit bei der Kontrolle zu bezeugen und Bemerkungen zu dieser Kontrolle hinzuzufügen. Werden Unregelmäßigkeiten festgestellt, so erhält der Betriebsinhaber eine Ausfertigung des Berichts.

Wird die Vor-Ort-Kontrolle mittels Fernerkundung gemäß Artikel 35 durchgeführt, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass dem Betriebsinhaber bzw. seinem Vertreter keine Gelegenheit zur Unterzeichnung des Kontrollberichts gegeben werden muss, wenn bei der Kontrolle durch Fernerkundung keine Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden. Falls aufgrund solcher Kontrollen Unregelmäßigkeiten festgestellt werden, so ist Gelegenheit zur Unterzeichnung des Berichts zu geben, bevor die zuständige Behörde aus den Feststellungen ihre Schlussfolgerungen im Hinblick auf etwaige sich daraus ergebende Kürzungen oder Ausschlüsse zieht.“

16      Titel III des Teils II der Verordnung Nr. 1122/2009 enthielt außerdem ein Kapitel III betreffend „Kontrollen in Bezug auf die Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen“, dessen Abschnitt III („Vor-Ort-Kontrollen“) Art. 54 enthielt. Dieser Artikel („Kontrollbericht“) sah vor:

„(1)      Über jede Vor-Ort-Kontrolle im Rahmen dieses Kapitels ist von der zuständigen Kontrollbehörde oder unter ihrer Verantwortung … ein Kontrollbericht anzufertigen.

Der Kontrollbericht untergliedert sich in folgende Teile:

b)      einen Teil, aus dem gesondert für jeden bzw. jede der Rechtsakte und Normen die durchgeführten Kontrollen hervorgehen und der insbesondere folgende Angaben enthält:

i)      die der Vor-Ort-Kontrolle unterzogenen Anforderungen und Normen,

ii)      Art und Umfang der durchgeführten Kontrollen,

iii)      die Kontrollergebnisse,

iv)      die Rechtsakte und Normen, bei denen Verstöße festgestellt wurden;

(2)      Der Betriebsinhaber wird über jeden festgestellten Verstoß innerhalb von drei Monaten nach dem Zeitpunkt der Vor-Ort-Kontrolle informiert.

(3)      …

Fungiert als zuständige Kontrollbehörde nicht die Zahlstelle selbst, so ist der Bericht innerhalb eines Monats nach seiner Fertigstellung an die Zahlstelle oder die koordinierende Behörde zu übermitteln.

…“

17      Titel IV („Berechnungsgrundlage für die Beihilfen sowie die Kürzungen und Ausschlüsse“) des Teils II der Verordnung Nr. 1122/2009 enthielt ein Kapitel II („Feststellungen in Bezug auf die Beihilfevoraussetzungen“), dessen Abschnitt I die „Betriebsprämienregelung und andere flächenbezogene Beihilferegelungen“ betraf. Der in diesem Abschnitt enthaltene Art. 58 („Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von zu viel angemeldeten Flächen“) lautete:

„Liegt bei einer Kulturgruppe die angemeldete Fläche für die Zwecke der flächenbezogenen Beihilferegelungen über der gemäß Artikel 57 ermittelten Fläche, so wird die Beihilfe auf der Grundlage der ermittelten Fläche, gekürzt um das Doppelte der festgestellten Differenz, berechnet, wenn die Differenz über 3 % oder 2 ha liegt, aber nicht mehr als 20 % der ermittelten Fläche ausmacht.

Liegt die Differenz über 20 % der ermittelten Fläche, so wird für die betreffende Kulturgruppe keine flächenbezogene Beihilfe gewährt.

Beläuft sich die Differenz auf mehr als 50 %, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe des Betrags, der der Differenz zwischen der angemeldeten Fläche und der gemäß Artikel 57 der vorliegenden Verordnung ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen. Dieser Betrag wird gemäß Artikel 5b der Verordnung … Nr. 885/2006 der Kommission verrechnet. Kann der Betrag im Verlauf der drei Kalenderjahre, die auf das Kalenderjahr der Feststellung folgen, nicht vollständig gemäß dem genannten Artikel verrechnet werden, so wird der Restbetrag annulliert.“

18      Titel IV des Teils II der Verordnung Nr. 1122/2009 enthielt außerdem ein Kapitel III mit dem Titel „Feststellungen in Bezug auf die anderweitigen Verpflichtungen“. Der in diesem Kapitel enthaltene Art. 70 („Allgemeine Grundsätze und Definitionen“) Abs. 4 bestimmte:

„Verstöße gelten als festgestellt, sofern sie sich als Folge jedweder Kontrollen nach Maßgabe der vorliegenden Verordnung ergeben oder der zuständigen Kontrollbehörde bzw. Zahlstelle auf andere Weise zur Kenntnis gelangt sind.“

19      Die Verordnung Nr. 1122/2009, die in zeitlicher Hinsicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, soweit dieser einen Beihilfeantrag für das Jahr 2013 betrifft, wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2015 durch die Delegierte Verordnung (EU) Nr. 640/2014 der Kommission vom 11. März 2014 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem und die Bedingungen für die Ablehnung oder Rücknahme von Zahlungen sowie für Verwaltungssanktionen im Rahmen von Direktzahlungen, Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum und der Cross-Compliance (ABl. 2014, L 181, S. 48) aufgehoben.

 Ungarisches Recht

20      Art. 60 Abs. 1 des A mezőgazdasági, agrár-vidékfejlesztési, valamint halászati támogatásokhoz és egyéb intézkedésekhez kapcsolódó eljárás egyes kérdéseiről szóló 2007. évi XVII. törvény (Gesetz Nr. XVII von 2007 über bestimmte Verfahrensfragen im Zusammenhang mit Beihilfen und anderen Maßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft, Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raums und Fischerei, im Folgenden: Beihilfengesetz) sieht vor:

„Sofern in einem unmittelbar anwendbaren Rechtsakt des Gemeinschaftsrechts nichts anderes bestimmt ist, wird die Beihilfe, auf die der Beteiligte einen Anspruch hat, von der Beihilfeeinrichtung für Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums bis zur Höhe der Verbindlichkeit des Beteiligten im Rahmen der Maßnahmen einbehalten, so dass die Verbindlichkeit als beglichen gilt. Deckt der Betrag der Beihilfe, die verlangt werden kann, nicht alle Verbindlichkeiten des Begünstigten, so ist er auf die verbuchten Verbindlichkeiten in der Reihenfolge ihrer Fälligkeit anzurechnen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21      FJ ist Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs und stellte am 14. Mai 2013 beim Magyar Államkincstár (Ungarische Staatskasse, im Folgenden: erstinstanzliche Behörde) einen Beihilfeantrag im Rahmen der Regelung über die einheitliche Flächenzahlung für das Jahr 2013 (im Folgenden: Beihilfeantrag für 2013).

22      Nach mehreren Vor-Ort-Kontrollen in den Jahren 2013 und 2014 lehnte die erstinstanzliche Behörde mit Bescheid vom 30. September 2014 den Beihilfeantrag für 2013 ab und schloss FJ von der Gewährung einer Beihilfe in Höhe von 3 834 105 ungarischen Forint (HUF) (etwa 9 900 Euro) aus.

23      Mit Beschluss vom 23. Juni 2016 hob der Landwirtschaftsminister in seiner Eigenschaft als Behörde zweiter Instanz den Bescheid wegen Begründungsmangel auf und gab der erstinstanzlichen Behörde auf, ein neues Verfahren einzuleiten.

24      Diese entschied mit Bescheid vom 9. April 2018 erneut über den Beihilfeantrag für 2013. Auf einen Widerspruch von FJ hin wurde dieser Bescheid jedoch durch Beschluss des Landwirtschaftsministers vom 13. Mai 2019 aufgehoben, mit dem der erstinstanzlichen Behörde zum zweiten Mal aufgegeben wurde, ein neues Verfahren einzuleiten.

25      Mit Bescheid vom 27. Januar 2020 lehnte die erstinstanzliche Behörde den Beihilfeantrag für 2013 erneut ab und schloss FJ auf der Grundlage von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009, der Sanktionen in Fällen zu viel angemeldeter Flächen betrifft, die 50 % der ermittelten Fläche übersteigen, von der Gewährung einer Beihilfe in Höhe von 4 253 460 HUF (etwa 11 000 Euro) aus. FJ focht diesen Bescheid nicht an.

26      Am 15. Mai 2020 stellte FJ bei der erstinstanzlichen Behörde einen Beihilfeantrag im Rahmen der Regelung über die einheitliche Flächenzahlung für das Jahr 2020.

27      Mit Bescheid vom 20. Oktober 2020 gewährte die Behörde FJ aufgrund dieses Beihilfeantrags einen Vorschuss in Höhe von 235 564 HUF (etwa 600 Euro).

28      Mit Beschluss vom 21. Oktober 2020 ordnete diese Behörde jedoch gemäß Art. 60 Abs. 1 des Beihilfengesetzes die Einbehaltung dieses Vorschusses in voller Höhe zur Verrechnung der mit ihrem Bescheid vom 27. Januar 2020 gegen FJ verhängten Sanktion an.

29      Mit Beschluss vom 23. Februar 2021 bestätigte der Landwirtschaftsminister diesen Beschluss mit der Begründung, dass gemäß Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 und Art. 60 Abs. 1 des Beihilfengesetzes die Einziehung dieser Sanktion innerhalb von drei Kalenderjahren ab Erlass des Bescheids vom 27. Januar 2020 erfolgen könne.

30      FJ erhob gegen den Beschluss vom 23. Februar 2021 Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht. Er bringt vor, der Landwirtschaftsminister habe dadurch, dass er das Kalenderjahr der Feststellung im Sinne von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 dem Jahr gleichgestellt habe, in dem der endgültige Bescheid über den Beihilfeantrag des Klägers erlassen worden sei, Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 außer Acht gelassen, in dem der Begriff „Feststellung“ im Fall einer Unregelmäßigkeit im Rahmen der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik definiert sei.

31      Im vorliegenden Fall entspreche das Kalenderjahr der Feststellung unter Berücksichtigung dieses Begriffs der Feststellung dem Jahr 2013 oder anderenfalls dem Jahr 2014; in diesen beiden Jahren seien die Vor-Ort-Kontrollen durchgeführt und die Protokolle über diese Kontrollen erstellt worden sowie der erste Bescheid auf der Grundlage dieser Kontrollen ergangen. Daher sei gemäß Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 der in Rede stehende Sanktionsbetrag, der in den drei auf das Jahr 2014 folgenden Kalenderjahren nicht verrechnet worden sei, zu annullieren.

32      Vor dem vorlegenden Gericht macht der Landwirtschaftsminister nach wie vor geltend, da die Sanktion mit dem Bescheid vom 27. Januar 2020 verhängt worden sei, habe das Jahr dieses Bescheids als Kalenderjahr der Feststellung zu gelten.

33      In dieser Hinsicht hegt das vorlegende Gericht zunächst Zweifel daran, ob der Begriff „Feststellung“ im Sinne von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009, der in dieser Verordnung nicht definiert ist, unter Berücksichtigung des Begriffs „Feststellung“ im Sinne von Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 auszulegen ist. Art. 35 enthalte die Wendung „im Sinne dieses Kapitels“, so dass er möglicherweise nur im Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen des Unregelmäßigkeiten betreffenden Kapitels 2 des Titels IV der Verordnung anwendbar sein könne. Das vorlegende Gericht schließt jedoch nicht aus, dass der Begriff „Feststellung“ im Sinne von Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 auch für die Verrechnung der in Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 vorgesehenen Sanktion gelten könne, da dieser auf Art. 5b der Verordnung Nr. 885/2006 Bezug nehme und die letztgenannte Verordnung die Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1290/2005 festlege.

34      Sodann vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, es gebe auf der Grundlage des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens drei mögliche Auslegungen des Begriffs „Feststellung“ im Sinne von Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005.

35      Nach der ersten, vom Landwirtschaftsminister vertretenen Auslegung sei die Feststellung der das Beihilfeverfahren abschließende Bescheid. Diese Auslegung stehe im Einklang mit dem Zweck eines solchen Bescheids, mit dem die Behörde den Sachverhalt feststelle und rechtlich einstufe. Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob diese Auslegung mit der in den Erwägungsgründen 92 und 101 der Verordnung Nr. 1122/2009 zum Ausdruck gebrachten Absicht des Unionsgesetzgebers im Einklang steht, die Einhaltung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Abstufung und von Treu und Glauben im Rahmen der Kürzung und des Ausschlusses von Beihilfen zu gewährleisten, insbesondere dann, wenn die Behörde ihren endgültigen Bescheid über den Beihilfeantrag wie im vorliegenden Fall sieben Jahre nach der Einreichung des Beihilfeantrags sowie nach Aufhebung zweier früherer Bescheide über diesen Antrag wegen deren Rechtswidrigkeit erlässt.

36      Nach der zweiten Auslegung sei die Feststellung die von der zuständigen Behörde durchgeführte Vor-Ort-Kontrolle. Diese Kontrolle könne nämlich als erste schriftliche Bewertung angesehen werden, die die zuständige Behörde vornehme, um anhand konkreter Tatsachen zu dem Schluss zu kommen, dass eine Unregelmäßigkeit vorliege. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese Auslegung für den Fall, dass die genannte Behörde mehrere Vor-Ort-Kontrollen vornehme, die Frage aufwerfe, ob die Feststellung die erste oder die letzte dieser Kontrollen bezeichne.

37      Nach der dritten Auslegung sei die Feststellung der erste Bescheid der zuständigen Behörde im Rahmen des Verfahrens der Beihilfebeantragung. Dabei handele es sich im vorliegenden Fall um den Beschluss vom 30. September 2014. Diese Auslegung werde durch den Wortlaut von Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 gestützt, der auf die „erste … Feststellung“ Bezug nehme und klarstelle, dass diese eine spätere Revision oder Zurückziehung dieser Maßnahme unberührt lasse.

38      Für den Fall, dass die Definition des Begriffs „Feststellung“ in Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 nicht für die Auslegung von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 gelten sollte, fragt sich das vorlegende Gericht schließlich, welches Jahr im vorliegenden Fall als Kalenderjahr der Feststellung angesehen werden kann.

39      Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Begriff der Feststellung, wie er in Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik bestimmt wird, auf die Auslegung und Anwendung von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 anwendbar?

2.      Für den Fall, dass die vorstehende Frage bejaht wird: Ist der in Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 bestimmte Begriff der Feststellung dahin auszulegen, dass als Kalenderjahr der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung das Kalenderjahr anzusehen ist, in dem

–        die zuständige Behörde, die mit dem aufgrund des Antrags eingeleiteten Verwaltungsverfahren befasst ist, die erste Beweiserhebung durchführt, bei der sie eine Unregelmäßigkeit feststellt, was in der vorliegenden Rechtssache das Jahr ist, in dem der Bericht, der die Schlussfolgerungen der Vor-Ort-Kontrolle enthielt, erstellt wurde, oder

–        die erste Sachentscheidung auf der Grundlage dieser Beweiserhebung ergeht, oder

–        im Rahmen dieses Verfahrens der endgültige bzw. abschließende Ausschlussbescheid ergeht?

3.      Ist es für die Beantwortung der vorstehenden Frage von Bedeutung, dass die schriftliche Bewertung, die die Feststellung darstellt, später infolge eines dem Betroffenen gesetzlich eingeräumten Rechtsbehelfs und nicht aufgrund von Änderungen des Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens revidiert oder zurückgezogen werden kann?

4.      Wenn das Kalenderjahr der Feststellung das Kalenderjahr der ersten Beweiserhebung ist und diese in der vorliegenden Rechtssache aus einer zu verschiedenen Zeitpunkten durchgeführten Vor-Ort-Kontrolle bestand, ist dann der Begriff der ersten Beweiserhebung gemäß Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 dahin auszulegen, dass er der ersten Vor-Ort-Kontrolle durch die Behörde entspricht, oder dahin, dass er der letzten Vor-Ort-Kontrolle durch die Behörde entspricht, bei der auch die vom Betroffenen vorgebrachten Bemerkungen und Beweise berücksichtigt wurden?

5.      Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Ändert sich dadurch etwas an dem zuvor bestimmten Inhalt der Feststellung, die für die Zwecke des Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 zu berücksichtigen ist?

 Zu den Vorlagefragen

40      Mit seinen fünf Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff „Feststellung“ im Sinne von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 – gegebenenfalls im Licht des Begriffs „Feststellung“ im Sinne von Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 – dahin auszulegen ist, dass er sich für den Fall, dass der Betriebsinhaber einer Vor-Ort-Kontrolle unterzogen wurde, auf den im Anschluss an diese Kontrolle erstellten Kontrollbericht, mit dem Unregelmäßigkeiten im betreffenden Beihilfeantrag festgestellt werden, oder auf die erste auf der Grundlage dieses Berichts erlassene Sachentscheidung oder aber auf die endgültige Entscheidung über den Ausschluss von der Beihilfe bezieht.

41      Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass sich die Fragen des vorlegenden Gerichts nach der Möglichkeit, Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 bei der Auslegung von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 zu berücksichtigen, insbesondere dadurch erklären, dass in diesen beiden Bestimmungen in der ungarischen Sprachfassung der Verordnungen ein und derselbe Begriff verwendet wird, nämlich „ténymegállapítás“. Wenngleich in einigen Sprachfassungen dieser Bestimmungen ebenfalls ein und derselbe Ausdruck verwendet wird, wie in der deutschen („Feststellung“) und der englischen Sprachfassung („finding“), oder zumindest ähnliche Ausdrücke verwendet werden, wie in der französischen Sprachfassung („acte de constat“ bzw. „constatation“), werden in anderen Sprachfassungen dieser Bestimmungen unterschiedliche Begriffe verwendet, wie in der spanischen („acto de comprobación“ bzw. „se haya descubierto la irregularidad“), der kroatischen („nalaz“ bzw. „kada je utvrđen“), der italienischen („verbale“ bzw. „accertamento“) und der portugiesischen Sprachfassung („auto“ bzw. „a diferença seja constatada“).

42      Zudem ist, obwohl diese beiden Verordnungen zur gemeinsamen Agrarpolitik gehören, darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1290/2005 allgemeine Geltung hat, da mit ihr gemäß ihrem Art. 1 und ihrem Art. 2 Abs. 1 die besonderen Bedingungen und Regeln für die Finanzierung der Ausgaben im Rahmen der genannten Politik festgelegt und die beiden Fonds für die Finanzierung dieser Ausgaben, nämlich der EGFL und der ELER, eingeführt werden, wohingegen mit der Verordnung Nr. 1122/2009 ein spezielleres Ziel verfolgt wird, nämlich die Verordnung Nr. 73/2009 in Bezug auf bestimmte Aspekte von Direktzahlungen zugunsten der Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe durchzuführen.

43      Genauer gesagt ist Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 in Kapitel 2 des Titels IV dieser Verordnung enthalten, das insbesondere die Aufteilung der finanziellen Belastung zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union für den Fall festlegt, dass die Ausgaben infolge von Unregelmäßigkeiten nicht wieder eingezogen werden, die von den Begünstigten verursacht wurden.

44      Zu diesem Zweck enthält Art. 35 eine Definition der amtlichen oder gerichtlichen Feststellung, die aber ausdrücklich nur „im Sinne dieses Kapitels“, d. h. des Kapitels 2 gilt, in dem die Art. 32 bis 35 der Verordnung enthalten sind. Dies spricht gegen die Relevanz dieser Definition für die Auslegung anderer Bestimmungen.

45      Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 betrifft hingegen nicht finanzielle Belastungen, die die Mitgliedstaaten und die Union zu tragen haben, sondern Sanktionen, die Betriebsinhabern aufzuerlegen sind, die eine Übererklärung abgegeben haben.

46      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass Art. 35 der Verordnung Nr. 1290/2005 für die Auslegung von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 nicht relevant ist.

47      Als Zweites sind nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 27. Januar 2021, De Ruiter, C‑361/19, EU:C:2021:71, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009, wie sich aus seinem Titel ergibt, Kürzungen und Ausschlüsse in Fällen von zu viel angemeldeten Flächen vorsieht. Zu viel angemeldete Flächen betreffen Fälle, in denen ein Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs, der für eine Kulturgruppe eine Beihilfe im Rahmen einer der flächenbezogenen Beihilferegelungen beantragt hat – zu denen, wie sich aus Art. 2 Nr. 12 dieser Verordnung ergibt, u. a. die in Titel V der Verordnung Nr. 73/2009 vorgesehene, im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung über die einheitliche Flächenzahlung gehört –, in seinem Beihilfeantrag eine Fläche anmeldet, die größer ist als die „ermittelte Fläche“. Diese ist in Art. 2 Nr. 23 der Verordnung Nr. 1122/2009 definiert als Fläche, die allen in den Vorschriften für die Beihilfegewährung festgelegten Voraussetzungen genügt.

49      Nach Art. 58 Abs. 3 dieser Verordnung ist der Betriebsinhaber, wenn sich die festgestellte Differenz zwischen der im Beihilfeantrag angegebenen Fläche und der ermittelten Fläche auf mehr als 50 % der ermittelten Fläche beläuft, bis zur Höhe des Betrags, der dieser Differenz entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen. Dieser Betrag wird gemäß Art. 5b der Verordnung Nr. 885/2006 eingezogen, d. h. indem er gegen eine etwaige künftige Zahlung an diesen Betriebsinhaber aufgerechnet wird. Kann der Betrag jedoch im Verlauf der drei Kalenderjahre, die auf das Kalenderjahr der Feststellung folgen, nicht vollständig gemäß dem genannten Artikel verrechnet werden, so wird der Restbetrag annulliert.

50      Somit lässt sich allein anhand des Wortlauts von Art. 58 die Bedeutung des darin verwendeten Begriffs „Feststellung“ nicht klar bestimmen.

51      Zweitens ist zum Kontext von Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009 festzustellen, dass die Begriffe „Feststellung“, „Kontrollergebnis“ und „festgestellt(e)“ in dieser Verordnung mehrfach vorkommen.

52      Insoweit ist Art. 32 der Verordnung Nr. 1122/2009, der Vor-Ort-Kontrollen in Bezug auf die Beihilfevoraussetzungen betrifft – d. h., wie sich aus Art. 21 der Verordnung Nr. 73/2009 ergibt, die Voraussetzungen für die Gewährung der Beihilfen nach der Verordnung Nr. 73/2009 –, besonders relevant für die systematische Auslegung von Art. 58 der Verordnung Nr. 1122/2009, da Letzterer, wie sich aus Rn. 17 des vorliegenden Urteils ergibt, die Feststellungen in Bezug auf diese Voraussetzungen betrifft.

53      Zunächst sieht Art. 32 der Verordnung Nr. 1122/2009 vor, dass über jede Vor-Ort-Kontrolle im Zusammenhang mit den Beihilfevoraussetzungen ein Kontrollbericht anzufertigen ist, der es ermöglicht, die Einzelheiten der vorgenommenen Kontrollschritte nachzuvollziehen. Sodann erhält der Betriebsinhaber Gelegenheit, den Bericht zu unterzeichnen, und er erhält eine Ausfertigung des Berichts, wenn Unregelmäßigkeiten festgestellt werden. Schließlich ist, wenn die Vor-Ort-Kontrolle mittels Fernerkundung durchgeführt wird und dabei Unregelmäßigkeiten festgestellt werden, dem Betriebsinhaber Gelegenheit zur Unterzeichnung des Berichts zu geben, bevor die zuständige Behörde aus den Feststellungen ihre Schlussfolgerungen im Hinblick auf etwaige sich daraus ergebende Kürzungen oder Ausschlüsse zieht.

54      Aus Art. 32 geht somit klar hervor, dass Unregelmäßigkeiten im Kontrollbericht festgestellt werden und dass die zuständige Behörde auf der Grundlage der in diesem Bericht getroffenen Feststellungen über etwaige Kürzungen oder Ausschlüsse entscheidet.

55      Daraus folgt, dass der Begriff „Feststellung“ im Sinne der Verordnung Nr. 1122/2009 und insbesondere ihres Art. 58 Abs. 3 den Feststellungen über bei einer Vor-Ort-Kontrolle aufgedeckte Unregelmäßigkeiten entspricht, wie sie im Kontrollbericht enthalten sind, der bei dieser Gelegenheit erstellt wird.

56      Diese Auslegung wird durch den im Licht der Erwägungsgründe 73 und 90 ausgelegten Art. 54 der Verordnung Nr. 1122/2009 bestätigt, der die Kontrollberichte betrifft, die die zuständige Behörde im Anschluss an jede Vor-Ort-Kontrolle im Zusammenhang mit der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen zu erstellen hat – d. h., wie sich aus Art. 2 Nr. 31 dieser Verordnung ergibt, Grundanforderungen an die Betriebsführung und Erhaltung in gutem landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand nach den Art. 5 und 6 der Verordnung Nr. 73/2009. Art. 54 sieht nämlich insbesondere vor, dass diese Berichte u. a. die bei einer solchen Kontrolle erlangten Kontrollergebnisse enthalten, und dass, wenn als zuständige Kontrollbehörde nicht die Zahlstelle selbst fungiert, diese Berichte an die Zahlstelle zu übermitteln sind. Wie aus den Erwägungsgründen 73 und 90 der Verordnung hervorgeht, ermöglichen es die Feststellungen in den Kontrollberichten der Zahlstelle, die entsprechenden Kürzungen oder Ausschlüsse zu beschließen.

57      Im Übrigen bestimmt Art. 70 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1122/2009 betreffend Kürzungen und Ausschlüsse im Zusammenhang mit anderweitigen Verpflichtungen, dass Verstöße als „festgestellt“ gelten, sofern sie sich als Folge jedweder Kontrollen nach Maßgabe der Verordnung ergeben oder der zuständigen Kontrollbehörde bzw. Zahlstelle auf andere Weise zur Kenntnis gelangt sind. Diese Bestimmung bestätigt somit nicht nur, dass sich die Feststellungen im Allgemeinen unmittelbar aus den nach Maßgabe dieser Verordnung durchgeführten Kontrollen ergeben, sondern auch, dass Unregelmäßigkeiten als festgestellt angesehen werden können, die Verstößen entsprechen, die einer Behörde schlichtweg zur Kenntnis gebracht worden sind, und zwar auf welche Weise auch immer. Somit zeigt sich, dass der Begriff „Feststellung“ im Sinne dieser Verordnung informeller Natur ist und daher nicht notwendigerweise die Form einer auf der Grundlage eines Kontrollberichts ergangenen Sachentscheidung der Verwaltung annehmen muss.

58      Drittens wird die in Rn. 55 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung durch die mit Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 verfolgten Ziele gestützt.

59      In diesem Zusammenhang ist auf den Grundsatz der Rechtssicherheit hinzuweisen, den der Gerichtshof im Bereich der Beihilfen an Betriebsinhaber berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Januar 2021, De Ruiter, C‑361/19, EU:C:2021:71, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung), insbesondere wenn es sich um Vorschriften über verwaltungsrechtliche Sanktionen handelt, wie dies bei den Vorschriften über den Ausschluss von einer Beihilfe der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2006, Haug, C‑286/05, EU:C:2006:296, Rn. 22). Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 soll nämlich, soweit er eine Frist für die Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion festlegt, gerade die Rechtssicherheit für Betriebsinhaber gewährleisten.

60      Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt, dass eine Unionsregelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen; sie müssen ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 25. Juli 2018, Teglgaard und Fløjstrupgård, C‑239/17, EU:C:2018:597 Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Würde man den Begriff „Feststellung“ im Sinne von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 hingegen von den Unwägbarkeiten nationaler Verwaltungs- und gegebenenfalls Gerichtsverfahren abhängig machen, könnte dies, wie der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits zeigt, für den betreffenden Betriebsinhaber die finanziellen Folgen schwer vorhersehbar machen, die er zu tragen hat, wenn er einen neuen Beihilfeantrag stellt und diese Beihilfe aufgrund von mehr als drei Kalenderjahre zuvor aufgedeckten Unregelmäßigkeiten teilweise oder vollständig einbehalten wird.

62      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, dass im Ausgangsrechtsstreit aufgrund der zweimaligen Aufhebung der von der erstinstanzlichen Behörde erlassenen Bescheide zwischen dem Zeitpunkt im Juni 2013, zu dem die erste Vor-Ort-Kontrolle im Zusammenhang mit dem betreffenden Beihilfeantrag stattfand, und dem Zeitpunkt im Oktober 2020, zu dem die nationalen Behörden die Sanktion wegen zu viel angemeldeter Flächen einzogen, mehr als sieben Jahre verstrichen sind.

63      Somit ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass das Kalenderjahr der Feststellung im Sinne von Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 dem Kalenderjahr entspricht, in dem im Anschluss an eine Vor-Ort-Kontrolle der Kontrollbericht erstellt wurde, mit dem Unregelmäßigkeiten im betreffenden Beihilfeantrag festgestellt wurden.

64      Da im Ausgangsverfahren in den Jahren 2013 und 2014 mehrere Vor-Ort-Kontrollen stattgefunden haben, ist klarzustellen, dass es Sache des für die Beurteilung des Sachverhalts allein zuständigen nationalen Gerichts ist, festzustellen, welche dieser Kontrollen es ermöglicht hat, die später von den nationalen Behörden verhängte Sanktion, nämlich den Ausschluss von der Beihilfe in Höhe eines gemäß Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 berechneten Betrags, aufgrund der festgestellten Unregelmäßigkeiten endgültig zu begründen.

65      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 58 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1122/2009 dahin auszulegen ist, dass sich der Begriff „Feststellung“ im Sinne dieser Bestimmung für den Fall, dass der Betriebsinhaber einer Vor-Ort-Kontrolle unterzogen wurde, auf den im Anschluss an diese Kontrolle erstellten Kontrollbericht bezieht, mit dem Unregelmäßigkeiten im betreffenden Beihilfeantrag festgestellt werden.

 Kosten

66      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 58 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1368/2011 der Kommission vom 21. Dezember 2011 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

sich der Begriff „Feststellung“ im Sinne dieser Bestimmung für den Fall, dass der Betriebsinhaber einer Vor-Ort-Kontrolle unterzogen wurde, auf den im Anschluss an diese Kontrolle erstellten Kontrollbericht bezieht, mit dem Unregelmäßigkeiten im betreffenden Beihilfeantrag festgestellt werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.