SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 24. November 2022(1)
Rechtssache C‑528/21
M. D.
gegen
Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága
(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzen, Asyl und Einwanderung – Im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Einreise- und Aufenthaltsverbot -Drittstaatsangehöriger Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers – Gefahr für die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit – Art. 25 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Konsultationspflicht – Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 – Ausschreibung zur Verweigerung der Einreise in den Schengen-Raum“
1. Im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geht es u. a. um die Frage, ob das Unionsrecht (einschließlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, im Folgenden: Charta) mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot(2) für das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vereinbar ist, das dessen Behörden gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt haben, ohne offenbar seine persönlichen Umstände, insbesondere den Umstand, dass er Vater eines in diesem Staat ansässigen minderjährigen Unionsbürgers ist, zu beurteilen.
2. Aus dieser Frage ergeben sich zwei Probleme, die mit
– der Anwendung der Richtlinie 2008/115/EG(3), wenn sich der Drittstaatsangehörige zu dem Zeitpunkt, zu dem die Behörden des Mitgliedstaats das Einreiseverbot verhängen, außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats befindet, und
– der Verhältnismäßigkeit, von der nach der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006(4) die Aufnahme einer „Ausschreibung“ zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung in das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (im Folgenden: SIS II) abhängig ist, in Zusammenhang stehen.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen(5)
3. Art. 25 Abs. 2 bestimmt:
„Stellt sich heraus, dass der Drittausländer, der über einen von einer der Vertragsparteien erteilten gültigen Aufenthaltstitel verfügt, zum Zwecke der Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, konsultiert die ausschreibende Vertragspartei die Vertragspartei, die den Aufenthaltstitel erteilt hat, um zu prüfen, ob ausreichende Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels vorliegen.
Wird der Aufenthaltstitel nicht eingezogen, so zieht die ausschreibende Vertragspartei die Ausschreibung zurück, wobei es ihr unbenommen bleibt, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen.“
2. Verordnung Nr. 1987/2006
4. Art. 21 („Verhältnismäßigkeit“) bestimmt:
„Vor einer Ausschreibung stellt der Mitgliedstaat fest, ob Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung des Falles eine Aufnahme der Ausschreibung in das SIS II rechtfertigen.
…“
5. Art. 24 („Voraussetzungen für Ausschreibungen zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung“) legt fest:
„1. Die Daten zu Drittstaatsangehörigen, die zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung ausgeschrieben sind, werden aufgrund einer nationalen Ausschreibung eingegeben, die auf einer Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichte beruht, wobei die Verfahrensregeln des nationalen Rechts zu beachten sind; diese Entscheidung darf nur auf der Grundlage einer individuellen Bewertung ergehen. Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen richten sich nach den nationalen Rechtsvorschriften.
2. Eine Ausschreibung wird eingegeben, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt. …
3. Eine Ausschreibung kann auch eingegeben werden, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 darauf beruht, dass der Drittstaatsangehörige ausgewiesen, zurückgewiesen oder abgeschoben worden ist, wobei die Maßnahme nicht aufgehoben oder ausgesetzt worden sein darf, ein Verbot der Einreise oder gegebenenfalls ein Verbot des Aufenthalts enthalten oder davon begleitet sein muss und auf der Nichtbeachtung der nationalen Rechtsvorschriften über die Einreise oder den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen beruhen muss.“
3. Richtlinie 2008/115
6. Im sechsten Erwägungsgrund heißt es:
„Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. …“
7. Der 14. Erwägungsgrund erläutert:
„Die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen sollte durch die Einführung eines Einreiseverbots, das die Einreise in das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet, europäischen Zuschnitt erhalten. …“
8. Nach Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Nr. 2 bezeichnet der Ausdruck „illegaler Aufenthalt“ „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex[(6)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats“.
9. In Art. 3 Nr. 6 wird „Einreiseverbot“ definiert als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht“.
10. Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) sieht vor:
„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:
a) das Wohl des Kindes,
b) die familiären Bindungen,
…“
11. Art. 11 („Einreiseverbot“) Abs. 1 legt fest:
„(1) Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,
a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder
b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.
In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.“
B. Nationales Recht
12. In der vorliegenden Rechtssache sind einschlägig:
– §§ 33 und 42 der A szabad mozgás és tartózkodás jogával rendelkező személyek beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. Évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Personen, die über das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt verfügen, im Folgenden: Gesetz Nr. I von 2007) (Magyar Közlöny 2007/1);
– §§ 43, 44 und 45 der A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. Évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, im Folgenden: Gesetz Nr. II von 2007) (Magyar Közlöny 2007/2).
13. § 17 der 2018. Évi CXXXIII. törvény az egyes migrációs tárgyú és kapcsolódó törvények módosításáról (Gesetz Nr. CXXXIII von 2018 zur Änderung einiger die Migration betreffender Gesetze und einiger ergänzender Gesetze) vom 21. Dezember 2018 (Magyar Közlöny 2018/133), das seit dem 1. Januar 2019 in Kraft ist, ergänzt das Gesetz Nr. I von 2007 um den § 94, der Folgendes bestimmt:
„…
(4) Die Aufenthaltskarte oder ständige Aufenthaltskarte eines als Familienangehöriger eines ungarischen Staatsangehörigen über eine gültige Aufenthaltskarte oder ständige Aufenthaltskarte verfügenden Drittstaatsangehörigen ist zu widerrufen
…
b) wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns verletzt.
…“
II. Sachverhalt(7) des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
14. M. D., ein serbisch-kosovarischer Staatsangehöriger, gelangte im Jahr 2002 nach Ungarn, wo er seitdem mit seiner Mutter, seiner Lebensgefährtin ungarischer Staatsangehörigkeit und seinem minderjährigen Kind ungarischer Staatsangehörigkeit lebt. Er bestreitet den Unterhalt der Familie.
15. M. D. spricht gut Ungarisch und besitzt in Ungarn ein Unternehmen, eine Immobilie und mehrere Kraftfahrzeuge. Außerdem verfügt er über eine Niederlassung in der Slowakei, und aus diesem Grund wurde ihm ein Aufenthaltstitel für Geschäftszwecke für dieses Land erteilt(8).
16. M. D. besaß seit dem 31. Mai 2003 eine Aufenthaltserlaubnis für Ungarn, die mehrfach verlängert wurde. Später erhielt er im Hinblick auf sein minderjähriges Kind ungarischer Staatsangehörigkeit eine bis zum 20. Mai 2021 befristete Aufenthaltskarte.
17. Am 12. Juni 2018 stellte M. D. in Ungarn einen Antrag auf eine Daueraufenthaltskarte.
18. Der Antrag wurde in erster Instanz auf der Verwaltungsebene von der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Budapesti és Pest Megyei Regionális Igazgatósága (Nationale Generaldirektion der Ausländerpolizei, Regionaldirektion Budapest und Komitat Pest, Ungarn)(9) abgelehnt.
19. Der Bescheid stützte sich auf die Stellungnahme des Alkotmányvédelmi Hivatal (Amt für Verfassungsschutz, Ungarn), wonach das Verhalten von M. D. eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, so dass er das Land verlassen müsse(10).
20. Am 27. August 2018 stellte die Ausländerpolizei fest, dass das Aufenthaltsrecht von M. D. erloschen sei, was von derselben Behörde am 26. November 2018 auf der Verwaltungsebene in zweiter Instanz bestätigt wurde.
21. Am 28. Mai 2019 hob der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) den Bescheid vom 26. November 2018 auf(11) und verpflichtete die Ausländerbehörde zur Durchführung eines neuen Verfahrens, bei dem es alle Umstände des Falls abzuwägen und dabei in erster Linie zu berücksichtigen habe, dass M. D. und seine Lebensgefährtin in Ungarn in einem Haushalt mit ihrem minderjährigen Kind ungarischer Staatsangehörigkeit lebten.
22. Im Rahmen des neuen Verfahrens verweigerte die Ausländerpolizei M. D. am 29. August 2019 die Aufenthaltskarte. Sie wies darauf hin, dass das Verfahren in Anbetracht der am 1. Januar 2019 erfolgten Gesetzesänderung aufgrund der Bestimmung des § 94 Abs. 4 Buchst. b des Gesetzes Nr. I von 2007(12) durchgeführt worden sei. Die Ausländerpolizei betonte dabei außerdem, dass sie nicht von den Stellungnahmen des als Fachbehörde auftretenden Amts für Verfassungsschutz abweichen könne und über kein Ermessen verfüge.
23. M. D. erhob gegen den Bescheid der Ausländerpolizei Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof). Das Gericht wies seine Klage mit der Begründung ab, die Ausländerbehörde sei verpflichtet, die Stellungnahme der Fachbehörde einzuholen, und an diese gebunden.
24. Das Urteil des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) wurde von der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) bestätigt. Angesichts der als Verschlusssache eingestuften Dokumente, auf denen die Stellungnahme der Fachbehörde beruht, sah es die Kúria (Oberster Gerichtshof) als erwiesen an, dass der Aufenthalt von M. D. in Ungarn eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Aus diesem Grund habe die Beurteilung seiner persönlichen Situation zu keiner anderen Entscheidung führen können.
25. Am 24. September 2020(13) verließ M. D. das ungarische Hoheitsgebiet.
26. Am 14. Oktober 2020 ordnete die Ausländerpolizei gegen M. D. ein dreijähriges Einreiseverbot sowie die entsprechende Ausschreibung im SIS II an.
27. Das Verbot wurde wie folgt begründet:
– Der Aufenthalt von M. D. in Ungarn stelle eine Gefahr für die nationale Sicherheit Ungarns dar(14).
– Das Amt für Verfassungsschutz habe am 30. September 2020 die Ausweisung von M. D. und den Erlass eines zehnjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots empfohlen.
28. M. D. erhob gegen das Einreiseverbot Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof). Nach seiner Ansicht hat die Ausländerpolizei in Bezug auf den Sachverhalt und die in ihrem Bescheid angeführten Vorschriften gegen ihre Aufklärungs‑, Ermessens- und Begründungspflichten verstoßen und sich ausschließlich auf den Vorschlag einer anderen Behörde gestützt. Neben den nationalen Rechtsvorschriften beruft sich M. D. auf Art. 11 der Richtlinie 2008/115.
29. Die Ausländerpolizei beantragt die Abweisung der Klage. Sie habe ihren Bescheid aufgrund der zwingenden Bestimmung des § 43 des Gesetzes Nr. II von 2007 erlassen, der die selbständige Anordnung eines Einreiseverbots gegenüber einem Drittstaatsangehörigen mit Aufenthalt im Ausland, dessen Einreise und Aufenthalt die nationale Sicherheit beeinträchtige, sowie die Verbindlichkeit der Vorschläge der Behörden der nationalen Sicherheit vorsehe. Da die (wegen seiner familiären Bindungen ausgestellte) Aufenthaltserlaubnis von M. D. bereits entzogen gewesen sei, sei die Ausländerpolizei rechtlich auch nicht verpflichtet gewesen, die familiäre Situation in die Abwägung einzustellen.
30. Vor diesem Hintergrund hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) dem Gerichtshof vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, von denen ich die ersten beiden wiedergebe:
1. Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 und Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7, 20, 24 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die vorschreibt, die Änderung der Rechtsvorschrift, in deren Folge der drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers einer erheblich strengeren Verfahrensregelung unterworfen wird, auch auf in früher eingeleiteten Verfahren angeordnete wiederholte Verfahren anzuwenden, und zwar so weit, dass er seine bisherige, in Bezug auf die Dauer seines Aufenthalts erreichte Rechtsstellung, dass er nicht einmal aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der nationalen Sicherheit ausgewiesen werden kann, verliert, und daraufhin aufgrund desselben Sachverhalts und Gründen der nationalen Sicherheit sein Antrag auf eine Daueraufenthaltskarte abgelehnt wird, die ihm ausgestellte Aufenthaltskarte entzogen wird, gegen ihn sodann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt wird, ohne dass in einem Verfahren seine persönlichen und familiären Umstände abgewogen werden würden, damit zusammenhängend insbesondere der Umstand, dass es auch eine von ihm Unterhalt beziehende minderjährige Person ungarischer Staatsangehörigkeit gibt, für die infolge der Entscheidungen sich entweder der Familienverband auflöst oder die Familienangehörigen des Drittstaatsangehörigen mit Unionsbürgerschaft, unter ihnen ein minderjähriges Kind, verpflichtet wären, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen?
2. Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 und Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, in deren Rahmen vor Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots die persönlichen und familiären Umstände des Drittstaatsangehörigen unter Verweis darauf nicht geprüft werden, dass der Aufenthalt eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
31. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 26. August 2021 beim Gerichtshof eingegangen. Es wurde entschieden, die Rechtssache vorrangig zu behandeln.
32. Die tschechische und die ungarische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
33. Am 25. März 2022 hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht um Erläuterungen ersucht, und dieses hat die Fragen an die Parteien des Ausgangsrechtsstreits weitergeleitet. Sowohl M. D. als auch die Ausländerpolizei haben die übersandten Fragen beantwortet.
34. An der mündlichen Verhandlung vom 21. September 2022 haben die ungarische Regierung und die Kommission teilgenommen.
IV. Würdigung
35. Auf Wunsch des Gerichtshofs beziehen sich die vorliegenden Schlussanträge auf die ersten beiden Vorlagefragen.
36. Aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten werde ich die beiden Fragen zusammen betrachten. Im Wesentlichen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 7, 20, 24 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, das Aufenthaltsrecht zu entziehen und ein Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet mit der Begründung zu verhängen, dass sein Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, ohne die persönlichen und familiären Umstände des Drittstaatsangehörigen zu prüfen, obwohl dieser ein minderjähriges Kind hat, das die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats besitzt.
37. Das vorlegende Gericht gibt an, es sei eine für Drittstaatsangehörige nachteilige Gesetzesänderung zur Anwendung gekommen, nachdem das Verfahren während der Gültigkeit der früheren Gesetzesvorschriften eingeleitet worden sei. Meiner Meinung nach hat dieser zeitliche Faktor aus Sicht des Unionsrechts keinen Einfluss auf die Antwort. Nach den vorstehenden Sachverhaltsangaben kam die Gesetzesänderung bei der Entscheidung über die Ablehnung des Aufenthaltstitels zur Anwendung, die aufgrund der genannten Gerichtsentscheidungen rechtskräftig ist.
A. Zulässigkeit
38. Gerade aufgrund des letztgenannten Umstands macht die ungarische Regierung geltend, es bestehe kein Zusammenhang zwischen den Vorlagefragen und dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens. Die Vorlagefragen bezögen sich auf Vorschriften, die in einem früheren und endgültig abgeschlossenen Verfahren zur Anwendung gekommen seien, das sich von dem vorliegend anhängigen Verfahren unterscheide. Das Vorabentscheidungsersuchen sei daher hypothetischer Natur(15).
39. Im Ausgangsverfahren richte sich die Klage gegen eine autonome Entscheidung über die Einreise und den Aufenthalt in Ungarn, auf die weder die Richtlinie 2008/115 noch die Charta zur Anwendung komme, so dass die Auslegung dieser Vorschriften für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit nicht erforderlich sei.
40. Der Einwand der ungarischen Regierung hat insofern seine Berechtigung, als, wie ich dargestellt habe, die nationalen Gerichtsurteile, wonach M. D. keinen Anspruch auf Erteilung oder Aufrechterhaltung der ihm zuvor zustehenden Erlaubnis zum Aufenthalt in Ungarn habe(16), rechtskräftig sind, ohne dass die zuständigen Gerichte im Rechtsmittelverfahren ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hätten.
41. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Vorlagefragen für den Rechtsstreit nicht entscheidungserheblich wären: Soweit sich der Rechtsstreit auf die Gültigkeit des Einreiseverbots nach Ungarn beschränkt(17), sind die geäußerten Zweifel selbst dann berechtigt, wenn, wie ich vertreten werde, die Richtlinie 2008/115 und die Charta (insofern sie von ihr abhängig ist) nicht zur Anwendung kommen.
B. Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115
42. Aus dem Wortlaut der Vorlagefragen geht hervor, dass das vorlegende Gericht nicht an der Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115 zweifelt. Die Kommission und die ungarische Regierung hingegen vertreten aus teilweise übereinstimmenden Gründen den Standpunkt, die Richtlinie gelte nicht für eine Situation wie die vorliegende:
– Nach Ansicht der Kommission ist die Richtlinie 2008/115 anwendbar auf Drittstaatsangehörige, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten. Dies sei nicht der Fall, wenn sich der Drittstaatsangehörige zum Zeitpunkt des Erlasses des Einreiseverbots nicht mehr im Mitgliedstaat aufhalte(18).
– Die ungarische Regierung argumentiert ähnlich(19). Sie fügt hinzu, die Gründe für das Verbot ständen in keinem Zusammenhang mit der Migration, und verweist auf das Rückkehr-Handbuch(20), dessen Nr. 11 sie zur Unterstützung ihres Standpunkts anführt(21). Bei dem Einreiseverbot handele es sich um eine autonome Entscheidung(22), die sich als solche nach den nationalen Rechtsvorschriften richte.
43. Meines Erachtens kommen auf einen Drittstaatsangehörigen, der sich in einem Mitgliedstaat zuerst legal und nach dem Entzug der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis illegal aufhält, die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 zur Anwendung.
44. Jedoch finden sich in der Richtlinie 2008/115 keine ausdrücklichen Bestimmungen dazu, wie es sich auf die Anwendbarkeit der Vorschrift auswirkt, wenn der illegal aufhältige Ausländer das Hoheitsgebiet verlässt.
45. Meiner Meinung nach deckt die Richtlinie 2008/115 diesen Fall nicht ab, da sie, wie sie selbst festlegt, nur auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige(23) zur Anwendung kommt.
46. Die Voraussetzung des Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ergibt sich implizit aus Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie, deren Anwendungsbereich „illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige“ umfasst.
47. Der „illegale Aufenthalt“(24) der Drittstaatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet ist somit unabdingbare Voraussetzung für die Richtlinie 2008/115. Für die Einstufung als „illegal“ ist der Grund für den Aufenthalt oder dessen Dauer unerheblich(25).
48. Die Richtlinie 2008/115 verpflichtet die Mitgliedstaaten, gegen, wie ich wiederholen möchte, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige vorzugehen(26). Stellen sie fest, dass sich jemand illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhält, müssen sie diesen Aufenthalt so schnell wie möglich beenden(27). Nach Art. 6 Abs. 1 wird in der Regel eine Rückkehrentscheidung erlassen(28) „[u]nbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5“(29).
49. Missverständnisse können dadurch entstehen, dass es zwei Arten von Einreiseverboten für Drittstaatsangehörige gibt: a) Einreiseverbote, die mit den gemäß der Richtlinie 2008/115 getroffenen Rückkehrentscheidungen einhergehen, und b) Einreiseverbote, die unabhängig von der Richtlinie aus Gründen der nationalen Sicherheit oder aus sonstigen vergleichbaren Gründen verhängt werden.
50. Zur Unterscheidung beider Kategorien ist es ratsam, die Einreiseverbote gemäß der Richtlinie 2008/115 sowie die nicht der Richtlinie unterliegenden Einreiseverbote voneinander abzugrenzen.
1. Einreiseverbote gemäß der Richtlinie 2008/115
51. Die Richtlinie 2008/115 beinhaltet das Instrumentarium zur Umsetzung der Unionspolitik bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung von Drittstaatsangehörigen.
52. Ihr Ziel ist es, gemeinsame Normen für die Rückkehr, Abschiebung, Anwendung von Zwangsmaßnahmen und Inhaftnahme sowie für Einreiseverbote festzulegen, um zu gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird(30).
53. Die Richtlinie 2008/115 sieht mehrere eng miteinander verzahnte Verfahren vor: ein zentrales Verfahren, das sich auf die Rückkehrentscheidung bezieht, und weitere Verfahren für Maßnahmen, die mit der Entscheidung zusammenhängen und ihr folgen können bzw. müssen.
54. Zweck dieser Maßnahmen ist die Vorbereitung und Sicherstellung der Rückkehr: a) die Festlegung der Frist für die freiwillige Erfüllung der Rückkehrverpflichtung, b) die Sicherstellung der Bedingungen für eine erzwungene Rückführung und c) die Durchsetzung der Rückkehranordnung im Schengen-Gebiet durch in das SIS II eingegebene Einreiseverbote(31).
55. Innerhalb dieses Systems stellt ein Einreiseverbot somit ein Mittel dar, um die Effizienz der Rückkehrpolitik der Union zu erhöhen: Ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger kann nach seiner Abschiebung während eines bestimmten Zeitraums nicht legal in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zurückkehren(32). Durch das Verbot erhält die Rückkehranordnung einen europäischen Zuschnitt(33).
56. Nach der Richtlinie 2008/115 gilt für ein Einreiseverbot Folgendes:
– Das Einreiseverbot hängt von einer Rückkehrentscheidung ab, d. h., wenn keine Rückkehrentscheidung vorliegt, kann kein Einreiseverbot ausgesprochen werden(34). Dies geht aus Art. 3 Abs. 6 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie hervor.
– Das Einreiseverbot geht zwangsläufig mit einer Rückkehrentscheidung einher, falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde(35).
– Das Einreiseverbot entfaltet erst mit der freiwilligen Erfüllung oder der erzwungenen Vollstreckung der Rückkehrentscheidung die ihm eigene rechtliche Wirkung(36).
– Das Einreiseverbot kann nach der Aufhebung der Rückkehrentscheidung nicht aufrechterhalten werden(37).
2. Einreiseverbote, die nicht unter die Richtlinie 2008/115 fallen
57. Die Mitgliedstaaten sind befugt, auch in Fällen, in denen keine Rückkehrentscheidung gemäß der Richtlinie 2008/115 erlassen wurde, Drittstaatsangehörigen aufgrund der Illegalität ihrer Situation die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu verweigern.
58. Wie bereits dargestellt, sind diese Fälle (in denen das Verhalten der betroffenen Person, die sich nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufhält, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt oder die internationalen Beziehungen beeinträchtigt) nicht von der Richtlinie 2008/115 gedeckt.
59. Diese Einreiseverbote sind unabhängig von den in der Richtlinie 2008/115 geregelten Rückkehrentscheidungen. Sie richten sich nach den nationalen Rechtsvorschriften (die sich eventuell aus dem Völkerrecht oder bestimmten Entscheidungen der Union ableiten)(38) und nicht, wie ich betonen möchte, nach der Richtlinie 2008/115(39).
60. Da ein Verbot dieser Art auf der Gefahr durch den Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats beruht, rechtfertigt es auch die Ausschreibung der Person zur Einreiseverweigerung im SIS II. Die Eingabe der Ausschreibung in das SIS II ist in einem solchen Fall verpflichtend(40).
3. Begrenzter geografischer Geltungsbereich des Einreiseverbots
61. Unabhängig davon, aus welchem Grund ein Mitgliedstaat ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt, ist der geografische Geltungsbereich begrenzt, wenn die Person, gegen die das Verbot verhängt wird, über einen Aufenthaltstitel verfügt, der ihr den legalen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat ermöglicht.
62. Da die Durchführung und in der Praxis die Entfaltung der „gesamteuropäischen“ Wirkung des Einreiseverbots mit der Eingabe einer darauf beruhenden Ausschreibung in das SIS II einhergehen, ist die entsprechende Ausschreibung aus dem SIS II zu löschen, wenn das Verbot diese Wirkung nicht entfalten soll.
63. Für den Fall, dass der Drittstaatsangehörige über einen Aufenthaltstitel für einen zu den Vertragsparteien des SIS II gehörenden Staat verfügt, sieht Art. 25 Abs. 2 SDÜ ein Konsultationssystem zwischen dem Staat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat, und dem Staat, der die Ausschreibung in das SIS II aufgenommen hat(41), vor, um zu prüfen, ob ausreichende Gründe für die Einziehung des Aufenthaltstitels vorliegen. Wird der Aufenthaltstitel nicht eingezogen, so zieht der ausschreibende Mitgliedstaat die Ausschreibung zurück.
64. In einem solchen Fall bleibt es dem Mitgliedstaat unbenommen, den betroffenen Drittausländer in die nationale Ausschreibungsliste aufzunehmen(42).
4. Verlassen des Hoheitsgebiets vor Erlass der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbots aus Gründen der nationalen Sicherheit
65. Verlässt eine Person, die sich in einem Mitgliedstaat illegal aufhält, diesen Staat, bevor seine Behörden eine entsprechende Entscheidung getroffen haben, wird die in der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Rückkehranordnung überflüssig: Da sich der Drittstaatsangehörige nicht mehr im Hoheitsgebiet des Staats aufhält, ist ihr Erlass nicht mehr erforderlich(43).
66. Dies geht meines Erachtens aus den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 hervor, da diese a) den „illegalen Aufenthalt“ als „Anwesenheit“ von Drittstaatsangehörigen, die nicht (oder nicht mehr) die Einreise- oder Aufenthaltsvoraussetzungen erfüllen, im Hoheitsgebiet definieren und b) das Verfahren regeln, das auf eine Person zur Anwendung kommt, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats „aufhält“.
67. Dieser Ansatz steht im Einklang mit einem System, das alle Mitgliedstaaten verpflichtet, einen illegalen Aufenthalt, den sie in ihrem Hoheitsgebiet feststellen, so schnell wie möglich zu beenden.
68. Meiner Ansicht nach ist das Ergebnis unabhängig davon das gleiche, ob die Ausreise des Betroffenen vor der Einleitung eines Verfahrens zur Entscheidung über den illegalen Aufenthalt oder im Laufe eines solchen Verfahrens, aber vor Erlass eines Bescheids erfolgt. Im letzteren Fall wird das Verfahren gegenstandslos: Es liegt (in dem Mitgliedstaat, in dem das Verfahren eingeleitet wurde) kein illegaler Aufenthalt vor, der durch Erlass einer Rückkehranordnung bzw. bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen in sonstiger Weise beendet werden müsste.
69. Die verfahrensrechtlichen Folgen dieses Ergebnisses auf nationaler Ebene (Einstellung, Erledigung etc.) richten sich grundsätzlich nach den nationalen Rechtsvorschriften(44).
70. Die beschriebene Situation ist nicht mit der eines Drittstaatsangehörigen zu verwechseln, dessen Aufenthaltsort unbekannt ist, für den jedoch Anzeichen vorliegen, dass er sich noch im Hoheitsgebiet aufhält. In einem solchen Fall ist meiner Auffassung nach eine Rückkehrentscheidung im Rahmen eines in Abwesenheit betriebenen Verfahrens zu erlassen(45).
71. Liegt aus den genannten Gründen keine Rückkehrentscheidung vor, kann ohne Weiteres der Schluss gezogen werden, dass der Erlass eines Einreiseverbots gemäß Art. 11 der Richtlinie 2008/115 nicht möglich ist(46).
72. Unter diesen Umständen kann ein Mitgliedstaat, der es aus Gründen der nationalen Sicherheit für erforderlich hält, einem Drittstaatsangehörigen, der sich nicht mehr in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die Einreise zu verweigern, dies, wie ich bereits dargestellt habe, nach seinen nationalen Rechtsvorschriften tun.
73. Meines Erachtens ist dieser Standpunkt gegenüber der Auffassung vorzuziehen, die Richtlinie 2008/115 sei weiterhin auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar, der nach Entzug der Erlaubnis zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats den illegalen Aufenthalt beende (d. h. zurückkehre), bevor ein entsprechender Bescheid ergehe.
74. Nach jener Auffassung richtet sich das Einreiseverbot nach der Richtlinie 2008/115, da es eine gewisse Kontinuität zu den in der Richtlinie geregelten Verfahren aufweise.
75. Der Ansatz ist vielversprechend: Der Betroffene fiele so unter eine harmonisierte Regelung, wonach das Einreiseverbot, selbst wenn es nicht durch illegale Einwanderung begründet ist, gemäß den Grundsätzen und (verfahrens- und materiell-rechtlichen) Voraussetzungen der Richtlinie 2008/115 erlassen werden muss.
76. Eine solche Auslegung bringt jedoch auch Nachteile mit sich. Problematisch ist erstens der Verstoß gegen Art. 2 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, auf die ich bereits verwiesen habe. Ziel der Richtlinie ist die Beendigung des illegalen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen und nicht die Entscheidung über Fälle, in denen ein Eingreifen der Behörde nicht (mehr) erforderlich ist, weil ein illegaler Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet gerade nicht mehr gegeben ist.
77. Zweitens ist zu beachten, dass unmittelbarer Zweck der Richtlinie 2008/115 nicht der Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit und der nationalen Sicherheit der Mitgliedstaaten ist, auch wenn diese Interessen in der Richtlinie berücksichtigt werden(47). Mit der Annahme, dass die Richtlinie für Einreiseverbote gelte, die auf diesen Gründen beruhten, bei denen aber zuvor keine Rückkehranordnung ergangen sei, würde der in Art. 1 der Richtlinie verankerte Zweck der Richtlinie mit der unmittelbaren Wahrung dieser Interessen gleichgesetzt.
78. Drittens hat die Richtlinie 2008/115 nicht zum Ziel, die nationalen Rechtsvorschriften über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren, sondern nur den Erlass von Rückkehrentscheidungen (oder besser gesagt von Entscheidungen, die einen illegalen Aufenthalt beenden) und deren Vollstreckung(48). Die hier erörterte Auslegung würde für die Mitgliedstaaten bedeuten, dass ein Einreiseverbot, das aus anderen als aus einwanderungsrechtlichen Gründen erlassen wird und nicht mit einer Rückkehranordnung einhergeht,
– keine anderen Merkmale (Dauer, subjektiver Geltungsbereich) als die in der Richtlinie 2008/115 festgelegten Merkmale aufweisen dürfte und
– nicht unter anderen als den in der Richtlinie festgelegten Umständen ergehen dürfte,
sobald sich das Verbot gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der sich im Hoheitsgebiet illegal aufgehalten hat, sich jedoch nicht mehr dort aufhält.
79. Das erste Problem könnte in gewissem Maße gelöst werden, da die Richtlinie 2008/115, wie ich wiederholen möchte, in ihrer aktuellen Fassung auf die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit und die nationale Sicherheit verweist (u. a. Art. 11 Abs. 2), die die Dauer des Einreiseverbots und den subjektiven Anwendungsbereich beeinflussen können(49).
80. In der Richtlinie 2008/115 sind diese Begriffe allerdings autonom, wie alle Begriffe des Unionsrechts, deren Definition der Gesetzgeber, auch wenn die Richtlinie sie nicht selbst definiert, nicht den Mitgliedstaaten überlässt. Ob diese Begriffe mit den Begriffen aus den nationalen Rechtsvorschriften übereinstimmen oder zumindest hinsichtlich ihrer Wirkungsweise identisch sind, kann mit Recht hinterfragt werden, da sich der Kontext unterscheidet: auf der einen Seite das Unionsrecht(50), auf der anderen Seite die nationalen Rechtsvorschriften.
81. Der zweite Nachteil besteht, wie ich betonen möchte, darin, dass die Richtlinie 2008/115 nur Einreiseverbote regelt, die mit einer Rückkehranordnung einhergehen. Sie regelt nicht den Fall, dass der Drittstaatsangehörige, der sich illegal im Hoheitsgebiet aufhält, über einen Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaats verfügt(51) oder ein anderer Mitgliedstaat als der, in dem der Drittstaatsangehörige aufgegriffen wird, ihn aufgrund einer Vereinbarung wieder aufnimmt(52).
82. Ein Mitgliedstaat kann jedoch weiterhin ein Interesse daran haben (oder sogar dazu verpflichtet sein), einem Drittstaatsangehörigen, der sein Hoheitsgebiet „in Erfüllung“ der in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 genannten Verpflichtung verlässt, die Einreise in sein Hoheitsgebiet zu verbieten, und dies unabhängig davon, wie ein anderer Mitgliedstaat in Bezug auf diese Person entscheidet, nachdem er sie aufgenommen hat. Unter Wahrung der vom Gerichtshof genannten Bedingungen liegt die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im eigenen Hoheitsgebiet und für den Schutz der inneren und äußeren Sicherheit bei jedem einzelnen Mitgliedstaat(53).
5. In der Ausgangsrechtssache
83. Den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge verließ M. D. das ungarische Hoheitsgebiet, bevor gegen ihn eine Rückkehranordnung erlassen wurde. Sollte dies zutreffen, so bestätigen die vorstehenden Erwägungen meiner Ansicht nach, dass die Richtlinie 2008/115 auf das später gegen ihn verhängte Verbot der Einreise nach Ungarn nicht anwendbar war.
84. Falls M. D. über einen Aufenthaltstitel der Slowakei verfügte, als gegen ihn das Verbot der Einreise nach Ungarn verhängt wurde, hätten die zuständigen Behörden beider Mitgliedstaaten spätestens nach Eingabe der auf dem Einreiseverbot beruhenden Ausschreibung in das SIS II die nach Art. 25 Abs. 2 SDÜ vorgesehenen Konsultationen vornehmen müssen(54).
85. Um eine widersprüchliche Situation zu vermeiden, sollte Ungarn, falls die Slowakei nach der Konsultation den Aufenthaltstitel von M. D. nicht formell einzieht, die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS II zurückziehen. Ungarn könnte jedoch die Aufnahme in seine nationale Ausschreibungsliste beibehalten.
C. Einreiseverbot und vorherige Beurteilung der persönlichen und familiären Situation
86. Kann einem Drittstaatsangehörigen die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus Gründen der nationalen Sicherheit untersagt werden, ohne dass dabei seine persönlichen und familiären Umstände berücksichtigt werden?
87. Diese Frage ist meiner Auffassung nach zu verneinen, und zwar sowohl, wenn sich das Verbot nach der Richtlinie 2008/115 richtet, als auch unabhängig von der Richtlinie, wenn der Betroffene Vater eines Minderjährigen ist, der die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats besitzt, der das Einreiseverbot erlässt.
88. Als klassischer Ausdruck ihrer Souveränität können die Staaten die Freizügigkeit ausländischer Staatsangehöriger durch Verweigerung der Einreise oder durch Ausweisung aus ihrem Hoheitsgebiet beschränken.
89. Weder die völkerrechtlichen Verträge noch das Unionsrecht stellen diesen Grundsatz in Frage. In bestimmten Situationen können sie den Grundsatz jedoch abschwächen oder abändern und die Staaten verpflichten, die individuelle Situation des Betroffenen oder sonstige relevante Faktoren zu beurteilen.
90. Ich werde diese Feststellung, was das Unionsrecht betrifft, von zwei Ausgangspunkten aus begründen.
1. Im Fall der Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115
91. Falls sich das Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nach der Richtlinie 2008/115 richtet, ergibt sich die Antwort ohne Weiteres aus ihrem Art. 5: Bei der Anwendung der Richtlinie hat der Mitgliedstaat zwingend das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen zu berücksichtigen.
92. Dies lässt sich auch verschiedenen Erwägungsgründen der Richtlinie 2008/115 entnehmen(55):
– Der 24. Erwägungsgrund erklärt allgemein, dass die Richtlinie die Grundrechte und Grundsätze wahrt, die namentlich in der Charta verankert sind.
– Der sechste Erwägungsgrund erinnert daran, dass die Mitgliedstaaten ihre Entscheidungen auf Grundlage des Einzelfalls zu treffen haben.
– Nach dem 22. Erwägungsgrund haben die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie vorrangig das „Wohl des Kindes“ und den Schutz des Familienlebens zu berücksichtigen.
93. Diese Vorgaben(56) gelten auch dann, wenn das Einreiseverbot gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 zwingend mit einer Rückkehranordnung einhergeht. Die persönlichen Umstände des Betroffenen spielen außerdem eine Rolle bei der Festlegung der Dauer des Einreiseverbots(57).
94. In diesen Fällen wird die entsprechende Prüfung durch eine andere Prüfung ersetzt: die Prüfung der Rückkehranordnung selbst und, im Fall von Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115, die Prüfung, in deren Rahmen gemäß Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wird.
95. Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 angesichts des verfolgten Zwecks nicht eng ausgelegt werden kann(58). Was speziell das Wohl des Kindes anbetrifft, so erinnere ich daran, dass dieses bei der Anwendung der Richtlinie zu berücksichtigen ist, und zwar selbst dann, wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung um den Vater des Minderjährigen handelt(59).
2. Im Fall der Nichtanwendbarkeit der Richtlinie 2008/115
96. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass sie auch in den Bereichen, die ihrer Zuständigkeit vorbehalten sind, bei der Ausübung dieser Zuständigkeit nicht gegen das Unionsrecht verstoßen(60).
97. Insbesondere dürfen die von den Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen, wenn es um den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet geht, den Unionsbürgern nicht den tatsächlichen Genuss der mit dieser Staatsangehörigkeit verliehenen Rechte verwehren(61).
98. Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft untergraben. Dies ist der Fall, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das bei einer Verweigerung des Aufenthaltsrechts des Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen(62).
99. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass bei der Beurteilung, ob in Bezug auf einen Minderjährigen, der Unionsbürger ist, ein solches Abhängigkeitsverhältnis besteht(63), die Frage des Sorgerechts für das Kind und die Frage, ob die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind von dem einem Drittstaat angehörenden Elternteil ausgeübt wird, zu berücksichtigen sind(64).
100. Wird ein Abhängigkeitsverhältnis bejaht, kann der Drittstaatsangehörige gemäß Art. 20 AEUV ausnahmsweise ein (von dem Recht des Unionsbürgers) abgeleitetes Aufenthaltsrecht erhalten, das sich aus dieser Vorschrift ergibt.
101. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das abgeleitete Aufenthaltsrecht nicht absolut ist. Die Mitgliedstaaten sind befugt, dieses Recht unter bestimmten Umständen, u. a. zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, nicht anzuerkennen(65).
102. Gründe der nationalen Sicherheit sind erst recht geeignet, das abgeleitete Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu beschränken. Dafür haben diese Gründe auf Erwägungen zu beruhen, die den Begriff, so wie er vom Gerichtshof ausgelegt wurde(66), tatsächlich betreffen.
103. Wie der Gerichtshof wiederholt ausgeführt hat, ist diese Eignung jedoch nicht unbegrenzt(67). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof Folgendes entschieden(68):
– Die Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ sind als Rechtfertigung für eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen eng auszulegen(69).
– Die vom Drittstaatsangehörigen ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung muss tatsächlich, gegenwärtig und erheblich sein. Vom Vorliegen einer Gefahr kann nicht allein deshalb ausgegangen werden, weil der Drittstaatsangehörige im betreffenden Mitgliedstaat vorbestraft ist(70).
– Der Mitgliedstaat hat u. a. „das persönliche Verhalten des Betroffenen, Dauer und Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, Art und Schwere der begangenen Straftat, de[n] Grad der gegenwärtigen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Gesellschaft, das Alter etwa betroffener Kinder und ihr[en] Gesundheitszustand sowie ihre familiäre und wirtschaftliche Situation zu berücksichtigen“(71).
104. Wenn nach Prüfung dieser Umstände die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder erst recht für die nationale Sicherheit immer noch überwiegt(72) und dies von den Behörden des Mitgliedstaats sowie eventuell von den Gerichten, die deren Entscheidungen überprüfen, bestätigt wird, ist der Weg frei für die Verhängung eines Einreiseverbots gegen den Drittstaatsangehörigen.
3. In der Ausgangsrechtssache
105. Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, diesen Umstand zu prüfen, doch bin ich angesichts der von den Parteien eingereichten Erklärungen und des Sachverhalts der Ansicht, dass zwischen M. D. und seinem minderjährigen Kind, das die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt, ein Abhängigkeitsverhältnis zu bejahen ist, aufgrund dessen M. D. ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gemäß Art. 20 AEUV geltend machen kann.
106. Insbesondere stimme ich nicht mit der ungarischen Regierung überein, die das Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses mit dem Argument verneint, dass die Mutter des Minderjährigen ebenfalls in Ungarn lebe und als Inhaberin des elterlichen Sorgerechts zu seinem Unterhalt verpflichtet sei(73).
107. M. D. besaß eine Aufenthaltserlaubnis für die Slowakei, die ihm jedoch anscheinend entzogen wurde. Es ist daher plausibel, dass eine Verweigerung des Aufenthaltsrechts in Ungarn dazu führt, dass sein minderjähriges Kind gezwungen ist, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.
108. Aber selbst wenn M. D. ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zusteht, könnten ihm, wie ich bereits dargestellt habe, die Einreise und der Aufenthalt in Ungarn aus Gründen der nationalen Sicherheit versagt werden, wenn nach der unionsrechtlich gebotenen Abwägung der genannten Umstände, auf die ich bereits Bezug genommen habe, diese Gründe im Ergebnis unweigerlich überwiegen.
109. Ich verfüge nicht über alle relevanten Daten für diese Beurteilung, die Sache der ungarischen Behörden sowie der Gerichte ist, die deren Entscheidungen überprüfen(74).
D. Eingabe einer Ausschreibung in das SIS II. Verhältnismäßigkeit
110. Die Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen, insoweit hier von Bedeutung, die gerichtliche Beurteilung des Einreiseverbots und nicht seine spätere Eingabe in das SIS II.
111. Für den Fall, dass es nach Ansicht des Gerichtshofs, obwohl sich das vorlegende Gericht nicht dazu äußert, von Nutzen sein könnte, ihm Hinweise zur Auswirkung des Einreiseverbots auf das SIS II zu geben, werde ich meinen diesbezüglichen Standpunkt darstellen.
112. Damit das Einreiseverbot seine praktische Wirkung entfalten kann, ist es erforderlich, dass die anderen Mitgliedstaaten darüber in Kenntnis gesetzt werden(75). Um den Mitgliedstaaten den Zugang zu Informationen über die von anderen Mitgliedstaaten in Verbindung mit Rückkehrentscheidungen verhängten Verbote zu ermöglichen, können(76) diese gemäß der Verordnung Nr. 1987/2006(77) in das SIS II aufgenommen werden, sofern zusätzlich zwei Bedingungen erfüllt sind:
– Die Entscheidung, auf der die Ausschreibung beruht, wird von den zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichten getroffen, wobei die Verfahrensregeln des nationalen Rechts zu beachten sind; diese Entscheidung darf nur auf der Grundlage einer individuellen Bewertung ergehen(78).
– Vor einer Ausschreibung hat der informierende Mitgliedstaat festgestellt, dass „Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung des Falles eine Aufnahme der Ausschreibung in das SIS II rechtfertigen“(79).
113. Unter denselben Voraussetzungen ist die Eingabe einer Ausschreibung zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung in das SIS II allerdings zwingend vorgeschrieben, „wenn die Entscheidung … auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt“ (Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1987/2006)(80).
114. Die Aufnahme ist somit auf jeden Fall von der Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 21 der Verordnung Nr. 1987/2006 abhängig. Obwohl in der Verordnung nicht festgelegt, muss die Beurteilung aus Gründen der Zweckmäßigkeit vor der Aufnahme der entsprechenden Ausschreibung erfolgen(81).
115. Diese Voraussetzung ist gerechtfertigt, weil die Eingabe einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung die Rechte, einschließlich der Grundrechte(82), des Einzelnen beeinträchtigen kann. Sie hat offensichtlich Auswirkung auf die Einreise in den Schengen-Raum(83) und in Verbindung damit zumindest potenziell Auswirkung auf andere Rechte wie etwa das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
116. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Eingabe von Ausschreibungen in das SIS II ist jedoch für den Fall, dass die Eingabe (nach Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1987/2006) obligatorisch ist, zu nuancieren. Es könnte der Standpunkt vertreten werden, dass der Unionsgesetzgeber die Verhältnismäßigkeitsprüfung für die in der Bestimmung genannten schwerwiegenden Verstöße selbst ex ante durchgeführt habe.
117. Zu beachten ist, dass sich die in Art. 21 der Verordnung Nr. 1987/2006 vorgeschriebene Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die Eingabe der Ausschreibung beschränkt: Sie betrifft nicht die Entscheidung (das Verbot), auf deren Grundlage die Ausschreibung erfolgt(84).
118. Ein negatives Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann letztlich dazu führen, dass die Eingabe einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung in das SIS II abgelehnt wird.
119. In einem solchen Fall bleibt die der Ausschreibung zugrunde liegende Entscheidung trotz allem gültig. Handelt es sich um ein Einreiseverbot, das gegen einen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung verhängt wurde, er stelle eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die nationale Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen dar, bleibt auch die „paneuropäische“ Dimension unverändert erhalten, und zwar selbst dann, wenn die fehlende Eingabe den anderen Staaten des Schengen-Raums die Kenntnisnahme davon erschwert.
V. Ergebnis
120. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste und die zweite Vorlagefrage des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) wie folgt zu beantworten:
Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass
sie nicht zur Anwendung kommt, wenn die Behörden eines Mitgliedstaats gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich nicht in seinem Hoheitsgebiet aufhält und gegen den sie keine Rückkehrentscheidung erlassen haben, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Begründung erlassen, dass er eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Ebenso wenig findet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Anwendung.
Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass die Behörden des Mitgliedstaats vor dem Erlass eines solchen Einreise- und Aufenthaltsverbots, wenn das minderjährige Kind der betroffenen Person, der Einreise und Aufenthalt versagt werden, die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, die persönlichen und familiären Umstände dieser Person sowie die Auswirkungen des Verbots auf den Genuss der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen oder daraus abgeleiteten Rechte abzuwägen haben.