Language of document : ECLI:EU:T:2019:567

URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)

10. September 2019(*)

„Erdgasbinnenmarkt – Richtlinie 2009/73/EG – Beschluss der Kommission über die Genehmigung der Änderung der Bedingungen für die Befreiung der OPAL-Gasfernleitung von den Unionsregeln über den Netzzugang Dritter und die Entgeltregulierung – Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 – Grundsatz der Energiesolidarität“

In der Rechtssache T‑883/16

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, K. Rudzińska und M. Kawnik als Bevollmächtigte,

Klägerin,

unterstützt durch

Republik Lettland, vertreten durch I. Kucina, G. Bambāne und V. Soņeca als Bevollmächtigte,

und

Republik Litauen, zunächst vertreten durch D. Kriaučiūnas, R. Dzikovič und R. Krasuckaitė, dann durch R. Dzikovič, als Bevollmächtigte,

Streithelferinnen,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch O. Beynet und K. Herrmann als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Bundesrepublik Deutschland, zunächst vertreten durch T. Henze und R. Kanitz, dann durch R. Kanitz, als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2016) 6950 final der Kommission vom 28. Oktober 2016 zur Überprüfung der nach der Richtlinie 2003/55/EG gewährten Ausnahme der Ostseepipeline-Anbindungsleitung von den Anforderungen für den Netzzugang Dritter und die Entgeltregulierung

erlässt

DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin I. Pelikánová (Berichterstatterin) sowie der Richter V. Valančius, P. Nihoul, J. Svenningsen und U. Öberg,

Kanzler: F. Oller, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Oktober 2018

folgendes

Urteil

I.      Rechtlicher Rahmen

1        Die Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. 2003, L 176, S. 57) wurde durch die Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94) aufgehoben und ersetzt.

2        Art. 32 der Richtlinie 2009/73 bestimmt, gleichlautend wie Art. 18 der Richtlinie 2003/55:

„Zugang Dritter

(1)      Die Mitgliedstaaten gewährleisten die Einführung eines System für den Zugang Dritter zum Fernleitungs- und Verteilernetz und zu den LNG-Anlagen auf der Grundlage veröffentlichter Tarife; die Zugangsregelung gilt für alle zugelassenen Kunden und wird nach objektiven Kriterien und ohne Diskriminierung zwischen den Netzbenutzern angewandt. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese Tarife oder die Methoden zu ihrer Berechnung gemäß Artikel 41 von einer in Artikel 39 Absatz 1 genannten Regulierungsbehörde vor deren Inkrafttreten genehmigt werden und dass die Tarife und – soweit nur die Methoden einer Genehmigung unterliegen – die Methoden vor ihrem Inkrafttreten veröffentlicht werden.

(2)      Die Betreiber der Fernleitungsnetze erhalten zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben, auch im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Fernleitung, gegebenenfalls Zugang zu den Fernleitungsnetzen anderer Betreiber.

(3)      Die Bestimmungen dieser Richtlinie stehen dem Abschluss von langfristigen Verträgen nicht entgegen, sofern diese mit den Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft im Einklang stehen.“

3        In Art. 36 der Richtlinie 2009/73, der Art. 22 der Richtlinie 2003/55 ersetzt hat, heißt es:

„Neue Infrastruktur

(1)      Große neue Erdgasinfrastrukturen, d. h. Verbindungsleitungen, LNG- und Speicheranlagen, können auf Antrag für einen bestimmten Zeitraum von den Bestimmungen der Artikel 9, 32, 33 und 34 sowie des Artikels 41 Absätze 6, 8 und 10 unter folgenden Voraussetzungen ausgenommen werden:

a)      [D]urch die Investition werden der Wettbewerb bei der Gasversorgung und die Versorgungssicherheit verbessert;

b)      das mit der Investition verbundene Risiko ist so hoch, dass die Investition ohne eine Ausnahmegenehmigung nicht getätigt würde;

c)      die Infrastruktur muss Eigentum einer natürlichen oder juristischen Person sein, die zumindest der Rechtsform nach von den Netzbetreibern getrennt ist, in deren Netzen die Infrastruktur geschaffen wird;

d)      von den Nutzern dieser Infrastruktur werden Gebühren erhoben; und

e)      die Ausnahme wirkt sich nicht nachteilig auf den Wettbewerb oder das effektive Funktionieren des Erdgasbinnenmarktes oder das effiziente Funktionieren des regulierten Netzes aus, an das die Infrastruktur angeschlossen ist.

(3)      Die [nationale] Regulierungsbehörde kann von Fall zu Fall über Ausnahmen nach den Absätzen 1 und 2 entscheiden.

(6)      Eine Ausnahme kann sich auf die gesamte Kapazität der neuen Infrastruktur oder der vorhandenen Infrastruktur, deren Kapazität erheblich vergrößert wurde, oder bestimmte Teile der Infrastruktur erstrecken.

Bei der Entscheidung über die Gewährung einer Ausnahme wird in jedem Einzelfall der Notwendigkeit Rechnung getragen, Bedingungen für die Dauer der Ausnahme und den nichtdiskriminierenden Zugang zu der neuen Infrastruktur aufzuerlegen. Bei der Entscheidung über diese Bedingungen werden insbesondere die neu zu schaffende Kapazität oder die Änderung der bestehenden Kapazität, der Zeithorizont des Vorhabens und die einzelstaatlichen Gegebenheiten berücksichtigt.

(8)      Die Regulierungsbehörde übermittelt der Kommission eine Kopie aller Anträge auf Gewährung einer Ausnahme unverzüglich nach ihrem Eingang. Die zuständige Behörde teilt der Kommission unverzüglich die Entscheidung zusammen mit allen für die Entscheidung bedeutsamen Informationen mit. Diese Informationen können der Kommission in einer Zusammenfassung übermittelt werden, anhand deren die Kommission eine fundierte Entscheidung treffen kann. Die Informationen enthalten insbesondere Folgendes:

a)      eine ausführliche Begründung der durch die Regulierungsbehörde oder den Mitgliedstaat gewährten oder abgelehnten Ausnahme unter genauem Verweis auf Absatz 1 und den oder die Buchstaben jenes Absatzes, der der Entscheidung zugrunde liegt, einschließlich finanzieller Informationen, die die Notwendigkeit der Ausnahme rechtfertigen;

b)      eine Untersuchung bezüglich der Auswirkungen der Gewährung der Ausnahme auf den Wettbewerb und das effektive Funktionieren des Erdgasbinnenmarkts;

c)      eine Begründung der Geltungsdauer der Ausnahme sowie des Anteils an der Gesamtkapazität der Gasinfrastruktur, für die die Ausnahme gewährt wird;

d)      sofern sich die Ausnahme auf eine Verbindungsleitung bezieht, das Ergebnis der Konsultation der betroffenen Regulierungsbehörden;

e)      Angaben dazu, welchen Beitrag die Infrastruktur zur Diversifizierung der Gasversorgung leistet.

(9)      Die Kommission kann innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten ab dem Tag nach dem Eingang einer Meldung beschließen, von der Regulierungsbehörde die Änderung oder den Widerruf der Entscheidung über die Gewährung der Ausnahme zu verlangen. Die Zweimonatsfrist kann um weitere zwei Monate verlängert werden, wenn die Kommission zusätzliche Informationen anfordert. Diese weitere Frist beginnt am Tag nach dem Eingang der vollständigen Informationen. Auch die erste Zweimonatsfrist kann mit Zustimmung der Kommission und der Regulierungsbehörde verlängert werden.

Die Regulierungsbehörde kommt dem Beschluss der Kommission zur Änderung oder zum Widerruf der Entscheidung über die Gewährung einer Ausnahme innerhalb von einem Monat nach und setzt die Kommission davon in Kenntnis.

…“

4        § 28a Abs. 1 des Gesetzes über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz – EnWG) vom 7. Juli 2005 (BGBl. I S. 1970, 3621, im Folgenden: EnWG) in seiner auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache anzuwendenden Fassung erlaubt es der Bundesnetzagentur (BNetzA) u. a., die Verbindungsleitungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und anderen Staaten von den Bestimmungen über den Zugang Dritter auszunehmen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 28a EnWG entsprechen im Wesentlichen denen von Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73.

II.    Sachverhalt

5        Am 13. März 2009 übermittelte die BNetzA als deutsche Regulierungsbehörde der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zwei Entscheidungen vom 25. Februar 2009, mit denen die grenzüberschreitenden Transportkapazitäten des Gasfernleitungsvorhabens Ostseepipeline-Anbindungsleitung (im Folgenden: OPAL) von der Anwendung der in Art. 18 der Richtlinie 2003/55 vorgesehenen Regeln über den Netzzugang Dritter und der in Art. 25 Abs. 2 bis 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Regeln über die Entgeltregulierung ausgenommen wurden. Die OPAL-Gasfernleitung ist die im Westen gelegene terrestrische Anbindung der Gasfernleitung Nord Stream 1, deren Einspeisepunkt bei der Ortschaft Lubmin in der Nähe von Greifswald (Deutschland) und deren Ausspeisepunkt in Brandov (Tschechische Republik) liegt. Die beiden Entscheidungen betrafen die von den beiden Miteigentümern der OPAL-Gasfernleitung jeweils gehaltenen Bruchteilseigentumsanteile.

6        Die OPAL-Gasfernleitung liegt im Eigentum der WIGA Transport Beteiligungs-GmbH & Co. (im Folgenden: WIGA, vormals W & G Beteiligungs-GmbH & Co. KG, vormals Wingas GmbH & Co. KG), die einen Anteil von 80 % an der Gasfernleitung hält, und der E.ON Ruhrgas AG (im Folgenden: E.ON Ruhrgas) mit einem Anteil von 20 %. WIGA wird von OAO Gazprom und BASF SE gemeinsam kontrolliert. Die Gesellschaft, die den der WIGA gehörenden Anteil der OPAL-Gasfernleitung betreibt, ist die OPAL Gastransport GmbH & Co. (im Folgenden: OGT).

7        Mit der Entscheidung K(2009) 4694 vom 12. Juni 2009 (im Folgenden: ursprüngliche Entscheidung) forderte die Kommission die BNetzA gemäß Art. 22 Abs. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/55 (nunmehr Art. 36 Abs. 9 der Richtlinie 2009/73) auf, die Entscheidungen vom 25. Februar 2009 durch Einfügung folgender Bedingungen abzuändern:

„a)      Ein Unternehmen, das in einem oder mehreren der relevanten vor- oder nachgelagerten Erdgasmärkte, welche die Tschechische Republik umfassen, marktbeherrschend ist, darf, vorbehaltlich der Regelung in Buchstabe (b), in keinem Jahr mehr als 50 % der Ausspeisekapazität der OPAL-Pipeline an der tschechischen Grenze buchen. Die Buchungen von Unternehmen, die zur selben Unternehmensgruppe gehören wie Gazprom und Wingas, werden zusammen betrachtet. Buchungen von marktbeherrschenden Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, zwischen denen langfristige und wesentliche Gasliefervereinbarungen bestehen …, werden aggregiert betrachtet. …

b)      Die Kapazitätsobergrenze von 50 % darf überschritten werden, wenn das betroffene Unternehmen … auf der OPAL eine Gasmenge von 3 Mrd. m3/a dem Markt in einem offenen, transparenten und nichtdiskriminierenden Verfahren anbietet (‚Gas-Release-Programm‘). Die Betreibergesellschaft bzw. das (die) Unternehmen, welche(s) zur Ausführung des Gas-Release-Programms verpflichtet ist (sind), muss (müssen) die Verfügbarkeit korrespondierender Transportkapazität mit frei wählbarem Ausspeisepunkt gewährleisten (‚Capacity-Release-Programm‘). Die Ausgestaltung des Gas-Release- und des Capacity-Release-Programms ist von der BNetzA zu genehmigen.“

8        Am 7. Juli 2009 änderte die BNetzA ihre Entscheidungen vom 25. Februar 2009 und passte sie den vorstehend in Rn. 7 zitierten, in der ursprünglichen Entscheidung vorgesehenen Bedingungen an. Die BNetzA gewährte die Ausnahme von den Regelungen für die Dauer von 22 Jahren.

9        Die OPAL-Gasfernleitung wurde am 13. Juli 2011 in Betrieb genommen und hat in ihrem nördlichen Teil, zwischen Greifswald und dem Einspeisepunkt Groß-Köris südlich von Berlin (Deutschland), eine jährliche Kapazität von rund 36,5 Mrd. m3. Der südliche Teil der OPAL-Gasfernleitung, zwischen Groß-Köris und dem Ausspeisepunkt Brandov, hat eine jährliche Kapazität von 32 Mrd. m3. Die Differenz von 4,5 Mrd. m3 pro Jahr war zum Absatz im Marktgebiet Gaspool vorgesehen, das den Norden und Osten Deutschlands umfasst.

10      Aufgrund der ursprünglichen Entscheidung und der Entscheidungen der BNetzA vom 25. Februar 2009 in der durch deren Entscheidungen vom 7. Juli 2009 geänderten Fassung wurde die gesamte Kapazität der OPAL-Gasfernleitung von der Anwendung der Bestimmungen über den regulierten Netzzugang Dritter und der Entgeltregulierung gemäß der Richtlinie 2003/55 ausgenommen.

11      In der derzeitigen technischen Konfiguration kann Erdgas am Einspeisepunkt dieser Gasfernleitung bei Greifswald nur über die Gasfernleitung Nord Stream 1 angeliefert werden, die von der Gazprom-Gruppe genutzt wird, um Gas aus russischen Gasfeldern zu transportieren. Da Gazprom das in der ursprünglichen Entscheidung genannte Gas-Release-Programm nicht umgesetzt hatte, wurden die nicht gebuchten 50 % der Kapazität dieser Gasfernleitung nie genutzt, so dass nur 50 % der Transportkapazität der OPAL-Gasfernleitung genutzt wurden.

12      Am 12. April 2013 beantragten OGT, OAO Gazprom sowie Gazprom Eksport LLC bei der BNetzA offiziell, bestimmte Bedingungen der 2009 gewährten Ausnahme zu ändern.

13      Am 13. Mai 2016 teilte die BNetzA der Kommission gemäß Art. 36 der Richtlinie 2009/73 ihre Absicht mit, auf Antrag von OGT, OAO Gazprom und Gazprom Eksport LLC bestimmte Bedingungen der 2009 gewährten Ausnahme in Bezug auf den von OGT betriebenen Teil der OPAL-Gasfernleitung zu ändern, und zwar durch Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags, der nach deutschem Recht einem Verwaltungsakt gleichsteht.

14      Im Wesentlichen bestand die von der BNetzA beabsichtigte Änderung darin, die nach der ursprünglichen Entscheidung vorgegebene Begrenzung der von marktbeherrschenden Unternehmen buchbaren Kapazitäten (siehe oben, Rn. 7) durch die der OGT auferlegte Verpflichtung zu ersetzen, mindestens 50 % der von ihr betriebenen Transportkapazität, d. h. 15 864 532 kWh/h (ca. 12,3 Mrd. m3/Jahr) in Auktionen anzubieten, davon 14 064 532 kWh/h (ca. 10,98 Mrd. m3/Jahr) als feste dynamisch zuordenbare Kapazitäten (im Folgenden: DZK) und 1 800 000 kWh/h (ca. 1,38 Mrd. m3/Jahr) als feste frei zuordenbare Kapazitäten (im Folgenden: FZK) am Ausspeisepunkt Brandov. Für den Fall, dass die Nachfrage nach FZK-Verbindungskapazitäten in zwei aufeinanderfolgenden Jahren das anfängliche Angebot von 1 800 000 kWh/h überstiege, wurde OGT verpflichtet, das Angebot dieser Kapazitäten unter bestimmten Bedingungen bis zu einer Obergrenze von 3 600 000 kWh/h (ca. 2,8 Mrd. m3/Jahr) zu erhöhen.

15      Am 28. Oktober 2016 erließ die Kommission auf der Grundlage von Art. 36 Abs. 9 der Richtlinie 2009/73 den Beschluss C(2016) 6950 final zur Überprüfung der nach der Richtlinie 2003/55 gewährten Ausnahme der Ostseepipeline-Anbindungsleitung von den Anforderungen für den Netzzugang Dritter und die Entgeltregulierung (im Folgenden: angefochtener Beschluss), der an die BNetzA gerichtet ist. Das in Art. 36 der Richtlinie 2009/73 vorgesehene Verfahren entspricht im Wesentlichen demjenigen des Art. 22 der Richtlinie 2003/55, der Rechtsgrundlage der ursprünglichen Entscheidung war. Der angefochtene Beschluss wurde am 3. Januar 2017 auf der Website der Kommission veröffentlicht.

16      In den Erwägungsgründen 18 bis 21 des angefochtenen Beschlusses wies die Kommission zunächst darauf hin, dass sich aus allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts ableiten lasse, dass Entscheidungen mit langfristigen Auswirkungen Gegenstand einer Überprüfung sein könnten, auch wenn Art. 36 der Richtlinie 2009/73 keine Bestimmung enthalte, die es ausdrücklich ermögliche, eine Ausnahme wie die, die Gegenstand der ursprünglichen Entscheidung und nach Art. 22 der Richtlinie 2003/55 genehmigt worden sei, abzuändern. In Anbetracht des Grundsatzes der Parallelität der Form und um Rechtssicherheit zu gewährleisten, sei es angebracht, im vorliegenden Fall den von der BNetzA vorgelegten Vorschlag für eine Änderung der ursprünglichen Freistellung nach dem in Art. 36 der Richtlinie 2009/73 für neue Anlagen vorgesehenen Verfahren zu prüfen. In Bezug auf die sachlichen Voraussetzungen für eine solche Änderung führte die Kommission aus, dass, wenn spezielle Überprüfungsklauseln fehlten, Änderungen des Anwendungsbereichs einer Freistellung oder der mit einer Freistellungsentscheidung verbundenen Bedingungen begründet werden müssten und dass neue faktische Entwicklungen, die nach der ursprünglichen Freistellungsentscheidung eingetreten seien, ein triftiger Grund für eine Überprüfung dieser ursprünglichen Entscheidung sein könnten.

17      In der Sache genehmigte die Kommission mit dem angefochtenen Beschluss die von der BNetzA geplanten Änderungen der Ausnahmeregelung vorbehaltlich bestimmter Änderungen, nämlich u. a.:

–        die anfänglich zur Versteigerung angebotene Kapazität sollte sich auf 3 200 000 kWh/h (ca. 2,48 Mrd. m³/Jahr) an FZK-Verbindungskapazitäten und auf 12 664 532 kWh/h (ca. 9,83 Mrd. m³/Jahr) an DZK-Verbindungskapazitäten belaufen;

–        eine Erhöhung der zur Versteigerung angebotenen FZK-Verbindungskapazitäten für das folgende Jahr sollte erfolgen, sobald die Nachfrage bei einer jährlichen Versteigerung 90 % der angebotenen Verbindungskapazitäten überschreitet, und sollte in Tranchen von 1 600 000 kWh/h (ca. 1,24 Mrd. m³/Jahr) bis zu einer Obergrenze von 6 400 000 kWh/h (ca. 4,97 Mrd. m3/Jahr) vorgenommen werden;

–        Unternehmen oder Gruppen von Unternehmen, die eine marktbeherrschende Stellung in der Tschechischen Republik innehaben oder mehr als 50 % des in Greifswald ankommenden Gases kontrollieren, können Gebote für FZK-Kapazitäten nur zum Basispreis abgeben, der nicht höher sein darf als der durchschnittliche regulierte Basispreis im Fernleitungsnetz aus dem Gaspool-Marktgebiet in die Tschechische Republik für vergleichbare Produkte im selben Jahr.

18      Am 28. November 2016 änderte die BNetzA im Einklang mit dem angefochtenen Beschluss die mit ihrer Entscheidung vom 25. Februar 2009 gewährte Ausnahme hinsichtlich des von OGT betriebenen Anteils der OPAL-Gasfernleitung, indem sie mit OGT einen öffentlich-rechtlichen Vertrag schloss, der nach deutschem Recht einem Verwaltungsakt gleichsteht.

III. Verfahren und Anträge der Parteien

19      Mit Klageschrift, die am 16. Dezember 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Republik Polen die vorliegende Klage erhoben.

20      Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Republik Polen einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, der mit Beschluss vom 21. Juli 2017, Polen/Kommission (T‑883/16 R, EU:T:2017:542), zurückgewiesen wurde. Die Kostenentscheidung blieb vorbehalten.

21      Mit Schriftsätzen, die am 19. Januar, 20. und 29. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, hat die Bundesrepublik Deutschland beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden, während die Republik Lettland und die Republik Litauen beantragt haben, als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge der Republik Polen zugelassen zu werden. Die Parteien haben keine Einwände erhoben, und die Präsidentin der Ersten Kammer des Gerichts hat diesen Streithilfeanträgen stattgegeben.

22      Die Klagebeantwortung ist am 3. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen.

23      Nach der Veröffentlichung des angefochtenen Beschlusses am 3. Januar 2017 hat die Republik Polen mit Schriftsatz, der am 13. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, weitere Ausführungen zur Klage gemacht und einen zusätzlichen Klagegrund vorgebracht.

24      Mit Schriftsatz, der am 9. Juni 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission zu dem Schriftsatz der Republik Polen vom 13. März 2017 Stellung genommen.

25      Die Erwiderung und die Gegenerwiderung sind am 2. Juni und 31. August 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen.

26      Mit Schriftsatz, der am 22. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Republik Polen gemäß Art. 28 Abs. 1 und 5 der Verfahrensordnung des Gerichts beantragt, die Rechtssache an die Große Kammer oder zumindest an eine mit fünf Richtern besetzte Kammer zu verweisen. Am 16. Februar 2018 hat das Gericht beschlossen, keine Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer vorzuschlagen, und festgestellt, dass die Rechtssache gemäß Art. 28 Abs. 5 der Verfahrensordnung der Ersten erweiterten Kammer zugewiesen ist.

27      Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen hat das Gericht die Republik Polen und die Kommission aufgefordert, bestimmte Schriftstücke vorzulegen und bestimmte Fragen zu beantworten. Die Republik Polen und die Kommission sind dieser Aufforderung nachgekommen.

28      Die Parteien und die Streithelferinnen haben in der Sitzung vom 23. Oktober 2018 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.

29      Die Republik Polen beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

30      Die Republik Lettland beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

31      Die Republik Litauen beantragt, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären.

32      Die Kommission, unterstützt durch die Bundesrepublik Deutschland, beantragt,

–        den Schriftsatz der Republik Polen vom 13. März 2017 wegen Unzulässigkeit nicht zu berücksichtigen;

–        die Klage abzuweisen;

–        der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

IV.    Rechtliche Würdigung

A.      Zur Zulässigkeit des Schriftsatzes der Republik Polen vom 13. März 2017

33      Die Republik Polen hat am 16. Dezember 2016 allein auf Grundlage der Pressemitteilung zu dem angefochtenen Beschluss, die von der Kommission am Tag seines Erlasses, d. h. am 28. Oktober 2016, veröffentlicht wurde, Klage erhoben. Der angefochtene Beschluss selbst wurde am 3. Januar 2017 auf der Website der Kommission veröffentlicht.

34      Die Republik Polen trägt vor, sie habe erst nach der Veröffentlichung des angefochtenen Beschlusses auf der Website der Kommission von seinem genauen Inhalt Kenntnis nehmen können. So habe sie, nachdem sie den angefochtenen Beschluss in der veröffentlichten Fassung geprüft habe, am 13. März 2017 eine „Ergänzung zur Klageschrift“ eingereicht (im Folgenden: ergänzender Schriftsatz), in der sie zum einen zusätzliche Argumente zur Stützung ihres ersten Klagegrundes vorgebracht und zum anderen einen zusätzlichen Klagegrund geltend gemacht habe.

35      Die Kommission hält den ergänzenden Schriftsatz für unzulässig. Sie trägt erstens vor, dass die Republik Polen mit der am 16. Dezember 2016 eingereichten Klageschrift ihr Klagerecht nach Art. 263 AEUV erschöpft habe, indem sie die durch den Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Inhalt des angefochtenen Beschlusses bestimmte Klagefrist in Gang gesetzt habe, und dass ihr nicht aufgrund dessen späterer Veröffentlichung eine neue Klagefrist zustehen könne. Zweitens sei die Möglichkeit, eine Klageschrift zu „ergänzen“, in der Verfahrensordnung nicht vorgesehen, und neue, auf später zutage getretene rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte gestützte Angriffs- und Verteidigungsmittel könnten gemäß Art. 84 Abs. 2 der Verfahrensordnung in der Erwiderung geltend gemacht werden. Drittens macht die Kommission geltend, dass der ergänzende Schriftsatz, mit dem eine neue Klagefrist geltend gemacht werde, eine Form der „ergänzenden Klage“ sei, die wegen Rechtshängigkeit unzulässig sei, insbesondere da die Erhebung der Klage am 16. Dezember 2016 es der Republik Polen ermöglicht habe, wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einschließlich einstweiliger Anordnungen zu erhalten.

36      Nach Art. 263 Abs. 6 AEUV sind die in diesem Artikel vorgesehenen Klagen binnen zwei Monaten zu erheben; diese Frist läuft je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.

37      Da im vorliegenden Fall der angefochtene Beschluss am 3. Januar 2017 veröffentlicht wurde, begann daher die Klagefrist an diesem Tag. Gemäß Art. 60 der Verfahrensordnung wird diese Frist um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen verlängert. Folglich ist die Klagefrist in der vorliegenden Rechtssache am 13. März 2017 abgelaufen.

38      Der ergänzende Schriftsatz, der am 13. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, ist also am letzten Tag der Klagefrist und somit vor Ablauf der Frist eingereicht worden. Folglich ist er für zulässig zu erklären.

39      Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen der Kommission nicht in Frage gestellt.

40      Erstens kann das Argument der Kommission, die Republik Polen habe ihr Klagerecht erschöpft, indem sie die durch den Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Inhalt des angefochtenen Beschlusses bestimmte Klagefrist in Gang gesetzt habe, keinen Erfolg haben.

41      Zum einen sind die Klagefristen nach ständiger Rechtsprechung zwingenden Rechts und stehen nicht zur Disposition der Parteien und des Gerichts, da sie zur Gewährleistung der Klarheit und Sicherheit der Rechtsverhältnisse und zur Vermeidung jeder Diskriminierung oder willkürlichen Behandlung bei der Gewährung von Rechtsschutz eingeführt wurden (vgl. Urteil vom 18. September 1997, Mutual Aid Administration Services/Kommission, T‑121/96 und T‑151/96, EU:T:1997:132, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn also der Kläger eine Klage erhebt, bevor die Frist gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV zu laufen begonnen hat, so hat das nicht zur Folge, dass die in dieser Vorschrift festgesetzte Frist verändert würde. Folglich hat im vorliegenden Fall der Lauf der Klagefrist nicht am Tag der Klageerhebung begonnen, sondern gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV am Tag der Veröffentlichung des angefochtenen Beschlusses (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2013, PPG und SNF/ECHA, C‑626/11 P, EU:C:2013:595, Rn. 38 und 39).

42      Zum anderen kann der Tag der Veröffentlichung einer etwaigen Pressemitteilung, in der auf den Erlass eines Beschlusses hingewiesen wird, jedenfalls nicht als Beginn der Klagefrist angesehen werden. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Lektüre einer solchen Pressemitteilung, die nur eine kurze Zusammenfassung des betreffenden Beschlusses enthält, einer „Kenntnis“ des angefochtenen Beschlusses im Sinne von Art. 263 Abs. 6 AEUV entspricht.

43      Zweitens ist zu dem Argument, die Verfahrensordnung sehe nicht die Möglichkeit vor, nach der Einreichung der Klageschrift einen diese ergänzenden Schriftsatz vorzulegen, darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft ist, in der die Organe der Kontrolle daraufhin unterliegen, ob ihre Handlungen mit dem Vertrag vereinbar sind, und dass die Verfahrensmodalitäten für die beim Unionsrichter anhängigen Klagen so weit wie möglich so ausgelegt werden müssen, dass diese Modalitäten zur Erreichung des Ziels beitragen, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten (Urteil vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, EU:C:2008:422, Rn. 45).

44      Somit kann der Umstand allein, dass die Verfahrensordnung nicht ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, nach Einreichung der Klageschrift einen diese ergänzenden Schriftsatz vorzulegen, nicht dahin ausgelegt werden, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen ist, sofern dieser Schriftsatz vor Ablauf der Klagefrist eingereicht wird.

45      Auch wenn Art. 84 Abs. 2 der Verfahrensordnung vorsieht, dass im Fall des Vorliegens neuer Umstände, die während des Verfahrens zutage getreten sind, neue Klage- und Verteidigungsgründe oder Argumente im zweiten Schriftsatzwechsel vorgebracht werden müssen, ergibt sich aus dieser Bestimmung nicht, dass ein vom Kläger wie im vorliegenden Fall vor Ablauf der Klagefrist und vor Einreichung einer Erwiderung vorgelegter gesonderter Schriftsatz unzulässig wäre, mit dem er Klagegründe und Argumente zu dem nach Eingang seiner Klage veröffentlichten angefochtenen Beschluss erhebt.

46      Im vorliegenden Fall ist die Kommission in die Lage versetzt worden, auf die Klagegründe und das Vorbringen der Republik Polen in ihrem ergänzenden Schriftsatz zu antworten. Auf Ersuchen des Gerichts hat sie am 9. Juni 2017 ihre Stellungnahme zum ergänzenden Schriftsatz eingereicht. Unter diesen Umständen beeinträchtigt es nicht die Möglichkeit der Kommission, auf die Klagegründe und Argumente der Klägerin im vorliegenden Fall zu antworten, wenn der ergänzende Schriftsatz für zulässig erklärt wird.

47      In Anbetracht dessen ist der von der Republik Polen am 13. März 2017 – also vor Ablauf der Klagefrist – eingereichte ergänzende Schriftsatz für zulässig zu erklären.

B.      Zur Begründetheit

48      Die Republik Polen stützt ihre Klage auf sechs Gründe: erstens einen Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 in Verbindung mit Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV und gegen den Grundsatz der Solidarität; zweitens, fehlende Zuständigkeit der Kommission und Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73; drittens, Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2009/73; viertens, Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchst. a und e der Richtlinie 2009/73; fünftens, Verstoß gegen völkerrechtliche Abkommen, deren Vertragspartei die Union ist, und sechstens Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

49      Zunächst ist auf den ersten Klagegrund einzugehen.

1.      Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 in Verbindung mit Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV und gegen den Grundsatz der Solidarität

50      In den Erwägungsgründen 49 bis 53 des angefochtenen Beschlusses erinnerte die Kommission zunächst daran, dass sie in der ursprünglichen Entscheidung zu dem Ergebnis gelangt war, dass die OPAL-Gasfernleitung die Versorgungssicherheit verbessern werde, und prüfte sodann, ob die von der BNetzA vorgeschlagenen Änderungen der Betriebsregelung zu einer anderen Beurteilung führen könnten. Sie gelangte zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall sei, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die zusätzliche Kapazität, die auf der Gasfernleitung Nord Stream 1 im Anschluss an die Erhöhung der tatsächlich genutzten Kapazität der Opal-Gasfernleitung tatsächlich genutzt werden könne, nicht ausreiche, um die bis dahin durch die Gasfernleitungen Braterstwo und Yamal transportierten Gasmengen vollständig zu ersetzen.

51      Die Republik Polen, unterstützt durch die Republik Litauen, macht geltend, dass der angefochtene Beschluss gegen den Grundsatz der Energiesicherheit sowie gegen den Grundsatz der Energiesolidarität und somit gegen Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 in Verbindung mit Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV verstoße. Die Gewährung einer neuen Ausnahme für die OPAL-Gasfernleitung bedrohe die Sicherheit der Gasversorgung in der Union und vor allem in Mitteleuropa. Insbesondere könne die Verringerung der Gastransporte über die Gasfernleitungen Yamal und Braterstwo zu einer Schwächung der Versorgungssicherheit in Polen führen und die Diversifizierung der Versorgungsquellen erheblich behindern.

a)      Zum behaupteten Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73

52      Die Republik Polen weist darauf hin, dass nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 für eine neue große Erdgasinfrastruktur nur dann eine Ausnahmeregelung gewährt werden könne, wenn die Investition in die betreffende Infrastruktur die Sicherheit der Erdgasversorgung verbessere, und dass dieses Kriterium im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/67/EG des Rates (ABl. 2010, L 295, S. 1) und im Licht des Hauptzwecks der Energiepolitik der Union gemäß Art. 194 Abs. 1 AEUV, nämlich der Gewährleistung der Energiesicherheit der Union in ihrer Gesamtheit und ihrer einzelnen Mitgliedstaaten, auszulegen sei.

53      Die Kommission, unterstützt von der Bundesrepublik Deutschland, tritt diesem Vorbringen entgegen.

54      Gemäß Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 können „[g]roße neue Erdgasinfrastrukturen, d. h. die Verbindungsleitungen … auf Antrag für einen bestimmten Zeitraum von den Bestimmungen [insbesondere über den Zugang Dritter] unter folgenden Voraussetzungen ausgenommen werden: a) durch die Investition [wird] die Versorgungssicherheit verbessert“.

55      Vorab ist das Argument der Republik Polen zurückzuweisen, dass dieses Kriterium im vorliegenden Fall deswegen anwendbar sei, weil der angefochtene Beschluss eine neue Ausnahme vom Zugang Dritter gewähre.

56      Im vorliegenden Fall hat die Kommission nämlich mit dem angefochtenen Beschluss nicht die Einführung einer neuen Ausnahme gebilligt, sondern die Änderung einer bestehenden Ausnahme. Nach den Entscheidungen der BNetzA vom 25. Februar 2009 in der durch die Entscheidungen vom 7. Juli 2009 geänderten Fassung (siehe oben, Rn. 5 und 8) sind die grenzüberschreitenden Kapazitäten der OPAL-Gasfernleitung bereits von den in Art. 18 der Richtlinie 2003/55 vorgesehenen Regeln über den Zugang Dritter und der in Art. 25 Abs. 2 bis 4 vorgesehenen Entgeltregulierung ausgenommen. Wie oben in den Rn. 14 und 16 ausgeführt, wurde diese Ausnahme durch die am 13. Mai 2016 von der BNetzA vorgeschlagene Regelung in der gemäß dem angefochtenen Beschluss geänderten Fassung unter Änderung der damit verbundenen Bedingungen grundsätzlich beibehalten.

57      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, die ursprüngliche Entscheidung nicht geändert hat. Nach Art. 36 Abs. 3 der Richtlinie 2009/73 entscheidet nämlich die nationale Regulierungsbehörde über Ausnahmen nach Abs. 1 dieses Artikels. Es war also die BNetzA, die die Ausnahmeentscheidung von 2009 getroffen hat (siehe oben, Rn. 5 und 8) und die 2016 die Bedingungen geändert hat, an die diese Ausnahme geknüpft war, indem sie mit OGT einen öffentlich-rechtlichen Vertrag abschloss (siehe oben, Rn. 18). In beiden Fällen hat die Kommission lediglich die ihr durch Art. 22 Abs. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/55 und dann durch Art. 36 Abs. 9 der Richtlinie 2009/73 eingeräumte Kontrollbefugnis ausgeübt, indem sie die BNetzA aufgefordert hat, an ihren Entscheidungen Änderungen vorzunehmen. Die ursprüngliche Entscheidung und der angefochtene Beschluss stellten daher zwei voneinander unabhängige Entscheidungen dar, die sich jeweils zu einer von den deutschen Behörden geplanten Maßnahme äußerten, nämlich zum einen den Entscheidungen der BNetzA vom 25. Februar 2009 (siehe oben, Rn. 5) und zum anderen dem am 13. Mai 2016 notifizierten öffentlich-rechtlichen Vertrag (siehe oben, Rn. 13), der einem Verwaltungsakt gleichsteht.

58      Was das Kriterium der Verbesserung der Versorgungssicherheit angeht, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73, dass nicht die beantragte Ausnahme, sondern die Investition dieses Kriterium erfüllen muss – d. h. im vorliegenden Fall der Bau der OPAL-Gasfernleitung. Folglich oblag es der Kommission im Rahmen der ursprünglichen Entscheidung, sich zu vergewissern, dass die geplante Investition diesem Kriterium genügte. Dagegen war die Kommission nicht verpflichtet, das genannte Kriterium im Rahmen des angefochtenen Beschlusses zu prüfen, mit dem lediglich eine Änderung der an die Ausnahme geknüpften Bedingungen genehmigt wurde. Da nämlich in diesem Stadium keine neue Investition in Betracht gezogen wurde und die von der BNetzA vorgeschlagene Änderung der Betriebsbedingungen die OPAL-Gasfernleitung als Infrastruktur nicht veränderte, konnte diese Frage im Jahr 2016 nicht anders beantwortet werden als im Jahr 2009.

59      Der Umstand, dass die Kommission in dem angefochtenen Beschluss eine von den anzuwendenden Vorschriften nicht geforderte Prüfung vorgenommen hat, kann aber nicht dazu führen, dass der Unionsrichter diesen Beschluss im Rahmen einer bei ihm anhängigen Klage anhand eines im Gesetz nicht vorgesehenen Kriteriums prüft.

60      Der erste Klagegrund ist daher, soweit er auf Art. 36 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 gestützt wird, als ins Leere gehend zurückzuweisen.

b)      Zum behaupteten Verstoß gegen Art. 194 Abs. 1 AEUV

61      In Bezug auf Art. 194 Abs. 1 AEUV trägt die Republik Polen, unterstützt durch die Republik Litauen, vor, dass der dort genannte Solidaritätsgrundsatz eine der Prioritäten der Union im Bereich der Energiepolitik sei. Dieser Grundsatz verpflichte sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Unionsorgane, die Energiepolitik der Union im Geist der Solidarität umzusetzen. Insbesondere verstießen Maßnahmen der Unionsorgane gegen den Grundsatz der Energiesolidarität, die die Energiesicherheit bestimmter Regionen oder Mitgliedstaaten, einschließlich der Sicherheit ihrer Gasversorgung, gefährdeten.

62      Die Republik Polen führt aus, der angefochtene Beschluss ermögliche es Gazprom und den zur Gazprom-Gruppe gehörenden Gesellschaften, zusätzliche Gasmengen auf den Unionsmarkt zu lenken, indem sie die Gasfernleitung Nord Stream 1 voll auslasteten. In Ermangelung eines nennenswerten Wachstums der Nachfrage nach Erdgas in Mitteleuropa habe dies zwangläufig zur Folge, dass die Bedingungen für die Erbringung und Nutzung von Transportleistungen auf den mit der OPAL-Gasfernleitung konkurrierenden Gasfernleitungen, d. h. den Gasfernleitungen Braterstwo und Yamal, in der Weise beeinflusst würden, dass der Gastransport mittels dieser beiden Gasfernleitungen verringert oder sogar vollständig unterbrochen würde.

63      Insoweit befürchtet die Republik Polen erstens, dass eine solche Verringerung oder Unterbrechung des Transports durch die Gasfernleitung Braterstwo die Fortführung der Versorgung auf polnischem Gebiet durch diese Gasfernleitung von der Ukraine aus verhindere, was zur Folge hätte, dass die Versorgung der Kunden auf polnischem Gebiet nicht mehr gewährleistet werden könnte, mit den folgenden, von der Kommission offenbar nicht geprüften Folgen:

–        Unmöglichkeit für die damit beauftragten Unternehmen, ihre Garantiepflicht in Bezug auf die Erdgasversorgung geschützter Kunden zu erfüllen;

–        Unmöglichkeit des ordnungsgemäßen Funktionierens des Gassystems und Beeinträchtigung der Möglichkeiten der kommerziellen Nutzung von Gasspeichern;

–        beträchtliche Erhöhung der Gestehungskosten für Gas.

64      Zweitens besteht aus Sicht der Republik Polen angesichts des Auslaufens des Gastransportvertrags über die Gasfernleitung Yamal nach Westeuropa im Jahr 2020, gefolgt vom Auslaufen des Gasliefervertrags durch diese Gasfernleitung nach Polen im Jahr 2022, die Gefahr einer Verringerung oder gar einer vollständigen Unterbrechung der Gasversorgung über die Gasfernleitung Yamal, mit nachteiligen Auswirkungen auf:

–        die Verfügbarkeit von Einfuhrkapazitäten nach Polen aus Deutschland und der Tschechischen Republik,

–        das Tarifniveau für Transporte aus diesen beiden Ländern,

–        die Diversifizierung der Versorgungsquellen in Polen und in den anderen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten.

65      Die Kommission weist dieses Vorbringen zurück. Insbesondere sei die Energiesolidarität ein politischer Begriff, der in ihren Mitteilungen und Dokumenten erwähnt werde, während der angefochtene Beschluss die in Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 festgelegten rechtlichen Kriterien erfüllen müsse. Der in Art. 194 Abs. 1 AEUV verankerte Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten richte sich zum einen an den Gesetzgeber und nicht an die Verwaltung, die die Rechtsvorschriften anwende, und betreffe zum anderen nur Krisensituationen in der Versorgung oder beim Funktionieren des Erdgasbinnenmarkts, während die Richtlinie 2009/73 die Grundsätze für das normale Funktionieren dieses Marktes festlege. Jedenfalls könne davon ausgegangen werden, dass das in Art. 36 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgestellte Kriterium der Verbesserung der Versorgungssicherheit, das sie in dem angefochtenen Beschluss geprüft habe, den Begriff der Energiesolidarität einschließe. Schließlich sei die Gasfernleitung Nord Stream 1 ein Vorhaben, das in der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 zur Festlegung von Leitlinien für die transeuropäischen Energienetze und zur Aufhebung der Entscheidung 96/391/EG und der Entscheidung Nr. 1229/2003/EG (ABl. 2006, L 262, S. 1) als Vorhaben von gemeinsamem Interesse anerkannt sei, das die Verwirklichung eines vorrangigen Vorhabens von europäischem Interesse darstelle; der Umstand, dass der angefochtene Beschluss zur verstärkten Nutzung einer solchen Infrastruktur führen könne, entspreche dem gemeinsamen und dem europäischen Interesse.

66      Im Übrigen bestreitet die Kommission, dass die mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte Änderung der Betriebsregelung der OPAL-Gasfernleitung die Sicherheit der Versorgung mit Erdgas in Mittel- und Osteuropa allgemein oder in Polen im Besonderen in Frage stellen könne.

1)      Zum Inhalt des Grundsatzes der Energiesolidarität

67      Art. 194 Abs. 1 AEUV lautet wie folgt:

„Die Energiepolitik der Union verfolgt im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen der Verwirklichung oder des Funktionierens des Binnenmarkts und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt folgende Ziele:

a)      Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts;

b)      Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union;

c)      Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und

d)      Förderung der Interkonnektion der Energienetze.“

68      Mit dieser, durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Vorschrift ist eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die Energiepolitik der Union in den AEU‑Vertrag aufgenommen worden, die zuvor u. a. auf dem früheren Art. 95 EG über die Verwirklichung des Binnenmarkts (jetzt Art. 114 AEUV) beruhte.

69      Der in Art. 194 Abs. 1 AEUV genannte „Geist der Solidarität“ ist in diesem Politikbereich der spezifische Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, der u. a. in Art. 2 EUV, in Art. 3 Abs. 3 EUV und in Art. 24 Abs. 2 und 3 EUV sowie in Art. 122 Abs. 1 AEUV und in Art. 222 AEUV erwähnt wird. Dieser Grundsatz liegt gemäß der in Art. 4 Abs. 3 EUV eingegangenen Verpflichtung dem gesamten System der Union zugrunde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 1969, Kommission/Frankreich, 6/69 und 11/69, nicht veröffentlicht, EU:C:1969:68, Rn. 16).

70      Der Grundsatz der Solidarität beinhaltet Rechte und Pflichten sowohl für die Union als auch für die Mitgliedstaaten. Zum einen ist die Union zur Solidarität gegenüber den Mitgliedstaaten verpflichtet, und zum anderen sind die Mitgliedstaaten zur Solidarität untereinander und gegenüber dem gemeinsamen Interesse der Union und ihren Politiken verpflichtet.

71      Im Rahmen der Energiepolitik bedingt dies u. a. gegenseitige Beistandspflichten für den Fall, dass sich, etwa infolge von Naturkatastrophen oder Terrorakten, ein Mitgliedstaat in Bezug auf seine Gasversorgung in einer Notfall- oder Notstandslage befindet. Entgegen dem Vorbringen der Kommission ist der Grundsatz der Energiesolidarität jedoch nicht auf solche außergewöhnlichen Situationen beschränkt, die in die ausschließliche Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers fallen – eine Zuständigkeit, die sekundärrechtlich durch den Erlass der Verordnung Nr. 994/2010 (ersetzt durch die Verordnung [EU] 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung [EU] Nr. 994/2010 [ABl. 2017, L 280, S. 1]) wahrgenommen worden ist.

72      Der Solidaritätsgrundsatz umfasst im Gegenteil auch eine allgemeine Verpflichtung der Union und der Mitgliedstaaten, im Rahmen der Ausübung ihrer jeweiligen Befugnisse die Interessen der anderen Akteure zu berücksichtigen.

73      Was insbesondere die Energiepolitik der Union betrifft, bedeutet dies, dass sich die Union und die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse im Rahmen dieser Politik bemühen müssen, Maßnahmen zu vermeiden, die geeignet sein könnten, die Interessen der Union und der anderen Mitgliedstaaten in Bezug auf die Sicherheit und die wirtschaftliche und politische Tragbarkeit der Versorgung sowie die Diversifizierung der Versorgungsquellen oder der Versorgung zu beeinträchtigen, um ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und faktischen Solidarität Rechnung zu tragen.

74      Im Rahmen von Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 finden diese Erwägungen u. a. Niederschlag in den Begriffen „effektive[s] Funktionieren des Erdgasbinnenmarktes“ und „effiziente[s] Funktionieren des regulierten Netzes …, an das die Infrastruktur angeschlossen ist“ in Buchst. e dieser Vorschrift, ohne sich jedoch hierauf zu beschränken.

75      In diesem Zusammenhang wurde, wie der Unionsgesetzgeber im vierten Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 347/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 713/2009, (EG) Nr. 714/2009 und (EG) Nr. 715/2009 (ABl. 2013, L 115, S. 39) angeführt hat, auf der Tagung des Europäischen Rates vom 4. Februar 2011 auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Energieinfrastruktur Europas zu modernisieren und auszubauen und über die Grenzen hinweg einen Verbund der Netze zu schaffen, damit die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten in der Praxis funktionieren kann, alternative Versorgungs- bzw. Transitrouten und Energiequellen erschlossen werden und sich erneuerbare Energiequellen entwickeln und mit herkömmlichen Quellen in Wettbewerb treten. Mit Nachdruck wurde verlangt, dass nach 2015 kein Mitgliedstaat mehr von den europäischen Gas- und Stromnetzen abgekoppelt oder mit dem Problem konfrontiert sein sollte, dass seine Energieversorgungssicherheit durch einen Mangel an angemessenen Verbindungen gefährdet ist.

76      Daher ist das von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument zurückzuweisen, wonach im Wesentlichen davon auszugehen sei, dass Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 eine Umsetzung des in Art. 194 Abs. 1 AEUV niedergelegten Solidaritätsprinzips darstelle und sie diesen Grundsatz allein schon dadurch ordnungsgemäß berücksichtigt habe, dass sie die in Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 vorgesehenen Kriterien geprüft habe.

77      Die Anwendung des Grundsatzes der Energiesolidarität bedeutet nicht, dass die Energiepolitik der Union in keinem Fall negative Auswirkungen auf die besonderen Interessen eines Mitgliedstaats im Energiebereich haben darf. Die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten sind aber verpflichtet, bei der Durchführung dieser Politik die Interessen sowohl der Union als auch der verschiedenen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und diese Interessen im Konfliktfall gegeneinander abzuwägen.

78      In Anbetracht dieses Gehalts des Grundsatzes der Solidarität oblag es der Kommission, im Rahmen des angefochtenen Beschlusses zu beurteilen, ob die von der deutschen Regulierungsbehörde vorgeschlagene Änderung der Betriebsregelung der OPAL-Gasfernleitung die Interessen anderer Mitgliedstaaten im Energiebereich beeinträchtigen konnte, und, wenn ja, diese Interessen gegen das Interesse abzuwägen, das die Bundesrepublik Deutschland und gegebenenfalls die Union an der Änderung hatten.

2)      Zur Frage, ob der angefochtene Beschluss gegen den Grundsatz der Energiesolidarität verstößt

79      Es ist festzustellen, dass die oben in Rn. 78 genannte Prüfung in dem angefochtenen Beschluss fehlt. Nicht nur wird der Grundsatz der Solidarität in dem angefochtenen Beschluss gar nicht erwähnt, sondern dieser lässt auch nicht erkennen, dass die Kommission eine Prüfung dieses Grundsatzes in der Sache vorgenommen hätte.

80      Zwar hat die Kommission in Abschnitt 4.2 des angefochtenen Beschlusses (Erwägungsgründe 48 bis 53) zum Kriterium der Verbesserung der Versorgungssicherheit Stellung genommen. So hat sie nach einer Verweisung auf die Prüfung dieses Kriteriums im Rahmen der ursprünglichen Entscheidung, in der sie zu dem Ergebnis gekommen war, dass dieses Kriterium erfüllt sei, festgestellt, dass der ihr von der BNetzA unterbreitete Vorschlag an diesem Ergebnis nichts ändere.

81      Erstens ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sowohl die Prüfung in der ursprünglichen Entscheidung als auch die ergänzende Prüfung in dem angefochtenen Beschluss nur die Auswirkung der Inbetriebnahme und der Erhöhung der tatsächlich genutzten Kapazität der OPAL-Gasfernleitung auf die Versorgung der Union im Allgemeinen betreffen. So hat die Kommission in Abschnitt 4.2 des angefochtenen Beschlusses u. a. ausgeführt, dass zum einen die Verfügbarkeit zusätzlicher Transportkapazitäten an der deutsch-tschechischen Grenze allen Regionen zugutekomme, die von dort über bestehende oder künftige Infrastrukturen angebunden seien, und dass es zum anderen die zusätzliche Kapazität nicht ermögliche, die anderen Transportwege vollständig zu ersetzen. Dagegen hat die Kommission insbesondere keine Prüfung der Auswirkungen der Änderung der Betriebsregelung der OPAL-Gasfernleitung auf die Versorgungssicherheit in Polen vorgenommen.

82      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die weiteren Aspekte des Grundsatzes der Energiesolidarität in dem angefochtenen Beschluss nicht behandelt werden. Insbesondere ist nicht zu erkennen, dass die Kommission geprüft hätte, welche mittelfristigen Folgen die Übertragung eines Teils der zuvor durch die Gasfernleitungen Yamal und Braterstwo transportierten Erdgasmengen auf den Transportweg Nord Stream 1/OPAL insbesondere für die Energiepolitik der Republik Polen haben könnte, noch, dass sie diese Auswirkungen mit der von ihr festgestellten Erhöhung der Versorgungssicherheit auf Unionsebene abgewogen hätte.

83      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss unter Verstoß gegen den Grundsatz der Energiesolidarität erlassen wurde, wie er in Art. 194 Abs. 1 AEUV formuliert ist.

84      Folglich ist dem ersten Klagegrund der Republik Polen stattzugeben, soweit er auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützt ist.

85      Nach alledem ist der Klage stattzugeben und der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären.

2.      Zu den anderen Klagegründen

86      Da der angefochtene Beschluss auf der Grundlage des ersten Klagegrundes für nichtig zu erklären ist, braucht das Gericht über die anderen Klagegründe der Republik Polen nicht mehr zu befinden.

V.      Kosten

87      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

88      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Folglich tragen die Republik Lettland, die Republik Litauen und die Bundesrepublik Deutschland ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss C(2016) 6950 final der Kommission vom 28. Oktober 2016 zur Überprüfung der nach der Richtlinie 2003/55/EG gewährten Ausnahme der Ostseepipeline-Anbindungsleitung von den Anforderungen für den Netzzugang Dritter und die Entgeltregulierung wird für nichtig erklärt.

2.      Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie diejenigen der Republik Polen.

3.      Die Bundesrepublik Deutschland, die Republik Lettland und die Republik Litauen tragen ihre eigenen Kosten.

Pelikánová

Valančius

Nihoul

Svenningsen

 

      Öberg

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. September 2019.

Unterschriften


Inhaltsverzeichnis



*      Verfahrenssprache: Polnisch.