Language of document : ECLI:EU:T:2008:461

Rechtssache T‑256/07

People’s Mojahedin Organization of Iran

gegen

Rat der Europäischen Union

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus – Einfrieren von Geldern – Nichtigkeitsklage – Verteidigungsrechte – Begründung – Gerichtliche Überprüfung“

Leitsätze des Urteils

1.      Verfahren – Entscheidung oder Rechtsvorschrift, die die angefochtene Handlung während des Verfahrens ersetzt

2.      Handlungen der Organe – Gültigkeitsvermutung – Inexistenter Rechtsakt – Begriff

(Art. 249 EG)

3.      Nichtigkeitsklage – Nichtigkeitsurteil – Wirkungen – Verpflichtung, Durchführungsmaßnahmen zu erlassen

(Art. 233 EG)

4.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang

(Art. 253 EG; Gemeinsamer Standpunkt 2001/931 des Rates, Art. 1 Abs. 6; Verordnung Nr. 2580/2001 des Rates, Art. 2 Abs. 3)

5.      Europäische Union – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus

(Gemeinsamer Standpunkt 2001/931 des Rates, Art. 1; Verordnung Nr. 2580/2001 des Rates, Art. 2 Abs. 3)

6.      Europäische Union – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus

(Gemeinsamer Standpunkt 2001/931 des Rates, Art. 1 Abs. 4 und 6; Verordnung Nr. 2580/2001 des Rates, Art. 2 Abs. 3)

7.      Europäische Gemeinschaften – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe

(Art. 60 EG, 301 EG und 308 EG)

1.      Wird eine Entscheidung oder eine Rechtsvorschrift, die einen Einzelnen unmittelbar und individuell betrifft, während des Verfahrens durch eine Handlung mit gleichem Gegenstand ersetzt, so ist diese als neue Tatsache anzusehen, die den Kläger zur Anpassung seiner Anträge und Klagegründe berechtigt. Es wäre nämlich mit einer geordneten Rechtspflege und dem Erfordernis der Prozessökonomie unvereinbar, wenn der Kläger eine weitere Klage erheben müsste. Außerdem wäre es ungerecht, wenn das betreffende Gemeinschaftsorgan den Rügen in einer beim Gemeinschaftsrichter gegen eine Handlung eingereichten Klageschrift dadurch begegnen könnte, dass es die angefochtene Handlung anpasst oder durch eine andere ersetzt und sich im Verfahren auf diese Änderung oder Ersetzung beruft, um es der Gegenpartei unmöglich zu machen, ihre ursprünglichen Anträge und Klagegründe auf die spätere Handlung auszudehnen oder gegen diese ergänzende Anträge zu stellen und zusätzliche Angriffsmittel vorzubringen.

(vgl. Randnr. 46)

2.      Für die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane spricht, selbst wenn sie fehlerhaft sind, grundsätzlich eine Vermutung der Gültigkeit, und sie entfalten daher Rechtswirkungen, solange sie nicht zurückgenommen, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für nichtig erklärt oder infolge eines Vorabentscheidungsersuchens oder einer Rechtswidrigkeitseinrede für ungültig erklärt worden sind.

Als Ausnahme von diesem Grundsatz ist bei Rechtsakten, die mit einem Fehler behaftet sind, dessen Schwere so offensichtlich ist, dass er von der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht geduldet werden kann, davon auszugehen, dass sie keine – auch nur vorläufige – Rechtswirkung entfaltet haben, d. h., dass sie als rechtlich inexistent zu betrachten sind. Diese Ausnahme soll das Gleichgewicht zwischen zwei grundlegenden, manchmal jedoch widerstreitenden Erfordernissen wahren, denen eine Rechtsordnung genügen muss, nämlich der Stabilität der Rechtsbeziehungen und der Wahrung der Rechtmäßigkeit Die Schwere der Folgen, die mit der Feststellung der Inexistenz eines Rechtsakts der Gemeinschaftsorgane verbunden sind, verlangt, dass diese Feststellung aus Gründen der Rechtssicherheit ganz außergewöhnlichen Fällen vorbehalten bleibt.

(vgl. Randnrn. 55-57)

3.      Einem Nichtigkeitsurteil kommt das Organ, das den für nichtig erklärten Akt erlassen hat, nur dann nach, und es führt das Urteil nur dann voll durch, wenn es nicht nur den Tenor des Urteils beachtet, sondern auch die Gründe, die ihn in dem Sinne tragen, dass sie zur Bestimmung der genauen Bedeutung des Tenors unerlässlich sind. Diese Gründe benennen zum einen die konkrete Bestimmung, die als rechtswidrig angesehen wird, und lassen zum anderen die konkreten Gründe der im Tenor festgestellten Rechtswidrigkeit erkennen, die das betreffende Organ bei der Ersetzung des für nichtig erklärten Aktes zu beachten hat.

Wenn die Feststellung der Rechtswidrigkeit in den Gründen des Nichtigkeitsurteils das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, auch in erster Linie verpflichtet, diese Rechtswidrigkeit in dem Akt zu beseitigen, der an die Stelle des für nichtig erklärten Aktes treten soll, so kann sie doch für dieses Organ auch weitere Folgen nach sich ziehen, soweit sie eine Bestimmung feststehenden Inhalts auf einem gegebenen Sachgebiet zum Gegenstand hat.

Geht es um die Nichtigerklärung eines nach Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus einer regelmäßigen Überprüfung zu unterziehenden Beschlusses über das Einfrieren von Geldern wegen Form- und Verfahrensfehlern, so ist das erlassende Organ zunächst verpflichtet, darauf zu achten, dass eventuelle spätere, nach dem Nichtigkeitsurteil zu erlassende Beschlüsse über das Einfrieren von Geldern für spätere Zeiträume nicht die gleichen Fehler aufweisen.

Ist jedoch ein Akt wegen Form- oder Verfahrensfehlern für nichtig erklärt worden, so ist das betreffende Organ berechtigt, erneut einen Akt gleichen Inhalts, diesmal unter Berücksichtigung der fraglichen Form- und Verfahrensvorschriften und sogar rückwirkend zu erlassen, wenn dies zur Verwirklichung des verfolgten, im Allgemeininteresse liegenden Ziels notwendig ist und der Vertrauensschutz der Beteiligten gebührend beachtet ist. Wenn die sich nach Art. 233 EG aus einem Nichtigkeitsurteil ergebenden Maßnahmen dazu führen können, dass das Organ die Rechtsakte, die den für nichtig erklärten Beschluss nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung gegebenenfalls aufgehoben und ersetzt haben, ändert oder zurücknimmt, ist das betreffende Organ berechtigt, diese Rechtsakte während des Zeitraums in Kraft zu lassen, der zwingend erforderlich ist, um einen neuen Rechtsakt unter Einhaltung der betreffenden Form- und Verfahrensvorschriften zu erlassen.

(vgl. Randnrn. 60-62, 64-66)

4.      Sowohl die Begründung eines Ausgangsbeschlusses über das Einfrieren von Geldern als auch die Begründung der Folgebeschlüsse müssen sich nicht nur auf die rechtlichen Voraussetzungen der Anwendung der Verordnung Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, insbesondere das Vorliegen eines nationalen Beschlusses einer zuständigen Behörde, beziehen, sondern auch auf die besonderen und konkreten Gründe, aus denen der Rat in Ausübung seines Ermessens annimmt, dass der Betroffene einer Maßnahme des Einfrierens von Geldern zu unterwerfen ist.

Außerdem ergibt sich Art. 1 Abs. 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, auf den auch Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 verweist, dass die Überprüfung der Situation des Betroffenen, die vor Erlass der Folgebeschlüsse über das Einfrieren von Geldern durchgeführt werden muss, nicht nur mit dem Ziel vorgenommen wird, festzustellen, ob er weiterhin terroristische Aktivitäten ausübt, sondern um sich zu vergewissern, dass sein Verbleib auf der im Anhang der genannten Verordnung enthaltenen Liste, gegebenenfalls auf der Grundlage neuer Informationen oder Beweise, nach wie vor gerechtfertigt ist. Insoweit kann, wenn die Gründe für einen Folgebeschluss über das Einfrieren von Geldern im Wesentlichen die gleichen sind wie die, die schon in einem vorausgehenden Beschluss geltend gemacht wurden, eine einfache dahin gehende Erklärung ausreichen, insbesondere wenn es sich bei dem Betroffenen um eine Vereinigung oder Körperschaft handelt.

(vgl. Randnrn. 81-82)

5.      Weder Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus noch Art. 1 Abs. 2, 3 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus verbietet es, gegen Personen oder Körperschaften, die in der Vergangenheit terroristische Handlungen begangen haben, restriktive Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Umstände es rechtfertigen, auch wenn Beweise dafür fehlen, dass sie gegenwärtig solche Handlungen begehen oder daran teilnehmen.

Erstens wird zwar in Art. 1 Abs. 2 des genannten Gemeinsamen Standpunkts für die Definition des Ausdrucks „Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an terroristischen Handlungen beteiligt sind“ das Präsens Indikativ verwendet („Personen, die … begehen“), doch geschieht dies in dem gesetzlichen Definitionen und Straftatbeständen eigenen gnomischen Sinn und nicht als Bezugnahme auf einen bestimmten Zeitraum. Dies gilt ebenfalls für das Partizip Präsens in der französischen („les personnes … commettant“) und englischen („persons committing“) Fassung von Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001, wie die Verwendung des Präsens Indikativ in der entsprechenden Formulierung anderer Sprachfassungen bestätigt. Zudem erlaubt Art. 1 Abs. 4 dieses Gemeinsamen Standpunkts restriktive Maßnahmen u. a. gegenüber Personen, die wegen terroristischer Handlungen verurteilt worden sind, was normalerweise eine terroristische Tätigkeit voraussetzt, die in der Vergangenheit liegt und zu dem Zeitpunkt, zu dem sie in dem Urteil festgestellt wird, nicht mehr aktiv ausgeübt wird. Schließlich sieht Art. 1 Abs. 6 vor, dass die Namen von Personen oder Körperschaften, die in der streitigen Liste aufgeführt sind, mindestens einmal pro Halbjahr einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen werden, um sicherzustellen, dass ihr Verbleib auf der Liste nach wie vor gerechtfertigt ist. Soll dieser Vorschrift nicht ihre praktische Wirksamkeit genommen werden, ist davon auszugehen, dass sie es erlaubt, Personen oder Körperschaften, die während des Halbjahrs oder der Halbjahre vor der Überprüfung keine neue terroristische Handlung begangen haben, auf der streitigen Liste zu belassen, wenn ihr Verbleib im Hinblick auf die Gesamtheit der maßgeblichen Umstände weiterhin gerechtfertigt ist.

Zweitens sollen die Verordnung Nr. 2580/2001 und der Gemeinsame Standpunkt 2001/931, ebenso wie die von diesen umgesetzte Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die Bedrohungen des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit durch terroristische Handlungen bekämpfen. Die Verwirklichung dieses Ziels, das von grundlegender Bedeutung für die internationale Gemeinschaft ist, würde gefährdet, wenn das in diesen Rechtsakten vorgesehene Einfrieren von Geldern nur bei Personen, Vereinigungen und Körperschaften möglich wäre, die gegenwärtig terroristische Handlungen begehen oder sie erst in jüngster Vergangenheit begangen haben.

Außerdem beruhen diese Maßnahmen, die im Wesentlichen verhindern sollen, dass solche Handlungen begangen oder wiederholt werden, mehr auf der Einschätzung einer aktuellen oder zukünftigen Bedrohung als auf der Beurteilung eines Verhaltens in der Vergangenheit. Insoweit zeigt die Erfahrung, dass die vorübergehende Unterbrechung der Tätigkeiten einer Organisation mit terroristischer Vergangenheit als solche nicht garantiert, dass diese Organisation die Tätigkeiten nicht jederzeit wieder aufnimmt, und dass einem in diesem Kontext behaupteten Gewaltverzicht nicht unbedingt Glauben zu schenken ist. Daraus folgt, dass das weite Ermessen, über das der Rat bei der Beurteilung der Umstände verfügt, die beim Erlass oder bei der Aufrechterhaltung einer Maßnahme des Einfrierens von Geldern zu berücksichtigen sind, sich auf die Bewertung der Bedrohung erstreckt, die eine Organisation, die in der Vergangenheit terroristische Handlungen begangen hat, unbeschadet der Aussetzung ihrer terroristischen Aktivitäten für einen mehr oder weniger langen Zeitraum, ja sogar der offenbaren Einstellung dieser Tätigkeiten, weiterhin darstellen kann.

(vgl. Randnrn. 107-112)

6.      Die Beweislast dafür, dass das Einfrieren der Gelder einer Person, Vereinigung oder Körperschaft nach Art. 1 Abs. 4 und 6 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und Art. 2 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gerechtfertigt ist oder bleibt, obliegt zwar dem Rat, doch ist der Gegenstand dieser Beweislast auf der Ebene des Gemeinschaftsverfahrens zum Einfrieren von Geldern relativ beschränkt. Im Fall eines Ausgangsbeschlusses über das Einfrieren von Geldern betrifft sie im Wesentlichen das Vorliegen genauer Informationen oder einschlägiger Akten, aus denen sich ergibt, dass eine nationale Behörde gegenüber dem Betroffenen einen Beschluss gefasst hat, der der Definition in Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 entspricht. Darüber hinaus bezieht sich die Beweislast im Fall eines Folgebeschlusses nach Überprüfung im Wesentlichen auf die Frage, ob das Einfrieren der Gelder unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände dieses Falles und insbesondere der Folgemaßnahmen aufgrund dieses Beschlusses der zuständigen nationalen Behörde nach wie vor gerechtfertigt ist.

(vgl. Randnr. 134)

7.      Der Rat verfügt hinsichtlich der bei der Verhängung von wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen auf der Grundlage der Art. 60 EG, 301 EG und 308 EG in Übereinstimmung mit einem im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angenommenen Gemeinsamen Standpunkt zu berücksichtigenden Umstände über ein weites Ermessen. Dieses Ermessen betrifft insbesondere die Zweckmäßigkeitserwägungen, auf denen diese Beschlüsse beruhen.

Der Gemeinschaftsrichter erkennt zwar einen Ermessensspielraum des Rates in diesem Bereich an, doch bedeutet dies nicht, dass er die Auslegung der maßgeblichen Daten durch dieses Organ nicht überprüfen darf. Der Gemeinschaftsrichter muss nämlich nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung der Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen. Im Rahmen dieser Kontrolle darf er jedoch nicht die Zweckmäßigkeitsbeurteilung seitens des Rates durch seine eigene ersetzen.

Außerdem kommt der Kontrolle der Einhaltung bestimmter Verfahrensgarantien in Fällen, in denen ein Gemeinschaftsorgan über ein weites Ermessen verfügt, grundlegende Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und seine Entscheidung hinreichend zu begründen.

(vgl. Randnrn. 137-139)