Language of document : ECLI:EU:C:2023:843

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

9. November 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 15 – Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes – Berücksichtigung von Anhaltspunkten, die sich auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers sowie die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen – Humanitäre Lage“

In der Rechtssache C‑125/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande) mit Entscheidung vom 22. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2022, in dem Verfahren

X,

Y,

ihre sechs minderjährigen Kinder

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Y, X und ihren sechs minderjährigen Kindern, vertreten durch S. Rafi, P. J. Schüller und J. W. J. van den Broek, Advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen, A. Hanje und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den libyschen Staatsangehörigen X, Y und ihren sechs minderjährigen Kindern auf der einen und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der anderen Seite über dessen Ablehnung ihrer Anträge auf internationalen Schutz.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 12, 16 und 34 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(12)      Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(16)      Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [(im Folgenden: Charta)] anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden.

(34)      Es müssen gemeinsame Kriterien eingeführt werden, die als Grundlage für die Anerkennung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, als Anspruchsberechtigte auf subsidiären Schutz dienen. Diese Kriterien sollten völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Rechtsakten im Bereich der Menschenrechte und bestehenden Praktiken in den Mitgliedstaaten entsprechen.

4        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben e und g;

b)      ‚Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde‘ eine Person, der die Flüchtlingseigenschaft gemäß Buchstabe e oder der subsidiäre Schutzstatus gemäß Buchstabe g zuerkannt wurde;

f)      ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

g)      ‚subsidiärer Schutzstatus‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat;

h)      ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht;

i)      ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist;

…“

5        Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie 2011/95, der sich in deren Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) befindet, bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind …;

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(4)      Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

(5)      Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

a)      der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;

b)      alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

c)      festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;

d)      der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und

e)      die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“

6        Art. 8 („Interner Schutz“) Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Bei Prüfung der Frage, ob ein Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht, oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in einem Teil seines Herkunftslandes gemäß Absatz 1 in Anspruch nehmen kann, berücksichtigen die Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers gemäß Artikel 4. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, eingeholt werden.“

7        Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) der Richtlinie 2011/95, der sich in deren Kapitel V („Voraussetzungen für subsidiären Schutz“) befindet, lautet:

„Als ernsthafter Schaden gilt

a)      die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)      Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)      eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

8        Art. 18 („Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt, den subsidiären Schutzstatus zu.“

 Niederländisches Recht

9        Art. 29 der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht in Abs. 1 vor:

„(1)      Die befristete Aufenthaltserlaubnis … kann einem Ausländer erteilt werden, der

a)      Flüchtlingsstatus hat oder

b)      nachgewiesen hat, dass er stichhaltige Gründe für die Annahme hat, dass er im Fall einer Ausweisung tatsächlich Gefahr läuft, dass

1.      gegen ihn die Todesstrafe verhängt oder vollstreckt wird,

2.      er Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt ist oder

3.      er einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Am 28. Januar 2018 stellten X und Y, Eheleute mit libyscher Staatsangehörigkeit, auch im Namen ihrer sechs minderjährigen Kinder, beim Staatssekretär Anträge auf internationalen Schutz und machten dabei geltend, dass sie im Fall einer Rückkehr nach Libyen tatsächlich Gefahr liefen, einen „ernsthaften Schaden“ im Sinne von Art. 15 Buchst. b und/oder Buchst. c der Richtlinie 2011/95 zu erleiden.

11      Zur Begründung ihrer Anträge auf internationalen Schutz führten X und Y Tatsachen an, die sich sowohl auf ihre persönliche Situation als auch auf die allgemeine Lage in ihrem Herkunftsland bezogen, insbesondere auf das allgemeine Ausmaß der Gewalt in Libyen und die daraus resultierende humanitäre Lage.

12      Insbesondere erklärte X, er habe von 2012 bis Juni 2017 in Tripoli (Libyen) als Leibwächter für hochrangige Politiker, darunter zwei Premierminister, einen Vize-Premierminister und mehrere Minister, gearbeitet. Er behauptete, dass außerhalb seiner Arbeitszeit auf ihn geschossen worden sei, wobei er am Kopf getroffen und durch einen Kugelsplitter an seiner linken Wange verletzt worden sei. In der Folgezeit sei er in Telefongesprächen bedroht worden, die einmal etwa fünf Monate und ein anderes Mal ein bis zwei Jahre, nachdem auf ihn geschossen worden sei, stattgefunden hätten. X habe einen Verdacht hinsichtlich der für diese Handlungen Verantwortlichen, könne diesen jedoch nicht beweisen. Außerdem führte X an, dass sein Bruder ihm berichtet habe, dass Milizen versuchten, sich ein Stück Land anzueignen, das er von seinem Vater geerbt habe, und gedroht hätten, jeden zu töten, der sich ihnen in den Weg stelle. Schließlich erklärte X, dass seine Abreise aus Libyen auch den schwierigen Lebensbedingungen in Tripoli geschuldet gewesen sei, insbesondere dem Fehlen von Brennstoff, Trinkwasser und Strom. Y begründete ihren Antrag auf internationalen Schutz mit der Furcht, die sich aus der persönlichen Erfahrung von X sowie aus der allgemeinen unsicheren Lage in Libyen ergebe, die bei ihr auch gesundheitliche Probleme verursacht habe.

13      Mit gesonderten Entscheidungen vom 24. Dezember 2020 lehnte der Staatssekretär die von X und Y gestellten Anträge auf internationalen Schutz als unbegründet ab. Zum einen war er der Auffassung, dass die Antragsteller keinen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 zu befürchten hätten. Die beiden angeblichen Drohungen seien nämlich nicht glaubhaft gewesen, und X habe nicht belegt, dass die Schießerei, deren Opfer er geworden sei, speziell gegen ihn gerichtet gewesen sei oder dass es einen Zusammenhang zwischen dieser Gewalt und seiner beruflichen Tätigkeit als Leibwächter hochrangiger Politiker gebe. Zum anderen war der Staatssekretär der Ansicht, dass es seine Aufgabe sei, gefährdete Gruppen zu ermitteln und festzustellen, ob eine Gefahrensituation wie die von Art. 15 Buchst. c dieser Richtlinie erfasste vorliege. Da er es aber nicht für notwendig erachtete, die allgemeine Sicherheitslage in Libyen zu beurteilen, kam er zu dem Schluss, dass die Antragsteller auch keinen ernsthaften Schaden im Sinne dieser zweiten Bestimmung zu befürchten hätten.

14      X und Y erhoben bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande) Klage gegen diese Entscheidungen.

15      Dieses Gericht führt zunächst aus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge auf internationalen Schutz sowohl auf individuelle und persönliche Umstände der Kläger als auch durch den Verweis auf die allgemeine Gewaltsituation und die humanitäre Lage infolge dieser Gewalt im Herkunftsland gestützt würden. Es sei jedoch nicht ersichtlich, dass solche Gesichtspunkte, getrennt betrachtet, den Grad der Individualisierung des ernsthaften Schadens und die Schwelle der Schwere der willkürlichen Gewalt erreichten, die erforderlich seien, um den in Art. 15 Buchst. b bzw. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 gewährten subsidiären Schutz in Anspruch nehmen zu können.

16      Es stelle sich daher die Frage, ob Art. 15 dieser Richtlinie dahin auszulegen sei, dass die in diesem Art. 15 angeführten Erscheinungsformen eines ernsthaften Schadens streng getrennt beurteilt werden müssten, mit der Folge, dass die vom Antragsteller behaupteten Tatsachen und Umstände nur relevant wären, um die Befürchtung eines dieser ernsthaften Schäden zu belegen, oder ob vielmehr alle relevanten Anhaltspunkte, die sich sowohl auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers als auch auf die allgemeine Lage im Herkunftsland bezögen, immer vollständig und im Zusammenhang beurteilt werden müssten, bevor geklärt werde, welche Erscheinungsform eines ernsthaften Schadens durch diese Tatsachen und Umstände belegt werden könne.

17      Das vorlegende Gericht ist insoweit der Auffassung, dass Ausgangspunkt der Beurteilung des Vorliegens einer tatsächlichen Gefahr ernsthafter Schäden das Schutzbedürfnis des Antragstellers sei und dass die erste in der vorstehenden Randnummer dargestellte Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 zu einer Lücke in dem von dieser Bestimmung gebotenen Schutz führe, die die praktische Wirksamkeit der in ihr vorgesehenen subsidiären Schutzregelung beeinträchtige. Die zweite in der vorstehenden Randnummer dargestellte Auslegung von Art. 15 stehe in Einklang mit der Systematik dieser Richtlinie und den mit ihr verfolgten Zielen sowie mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Auslegung von Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), der gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung von Art. 4 der Charta zu berücksichtigen sei.

18      Sodann ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung hinsichtlich der Art und Weise, in der die Gründe betreffend die persönlichen Umstände des Antragstellers, wie sie im Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94), genannt worden seien, bei der Beurteilung im Hinblick auf Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 zu berücksichtigen seien. In diesem Zusammenhang wünscht dieses Gericht insbesondere eine Klarstellung seitens des Gerichtshofs, ob die Berücksichtigung der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers über die Voraussetzung der Individualisierung, wie sie sich aus dem Urteil des EGMR vom 17. Juli 2008, NA./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407, § 115), ergebe, hinausgehe, d. h. ob individuelle Umstände, die über die bloße Tatsache hinausgingen, aus einem Gebiet eines bestimmten Landes zu stammen, in dem sich die „extremsten Fälle allgemeiner Gewalt“ im Sinne des letztgenannten Urteils ereigneten, eine Furcht vor einem ernsthaften Schaden gemäß dieser Bestimmung belegen könnten.

19      Falls ja, bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auskunft, ob einerseits persönliche Faktoren oder die Gefahr, aufgrund einer Situation willkürlicher Gewalt Opfer von „Gewalt im strafrechtlichen Sinne“ zu werden, und andererseits individuelle, nicht persönliche Umstände wie die Ausübung bestimmter Berufe und/oder die Orte, an denen diese ausgeübt würden, oder die Tatsache, dass man sich an Orte begeben müsse, um grundlegende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, zu berücksichtigen seien.

20      Dieses Gericht möchte ferner wissen, inwiefern das Ausmaß der willkürlichen Gewalt gemäß Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 im Herkunftsland des Antragstellers in die Beurteilung des Vorliegens eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. a und b einzubeziehen sei. Insbesondere möchte es wissen, ob das umgekehrte Verhältnis zwischen der Fähigkeit des Antragstellers, zu belegen, dass er aufgrund von Anhaltspunkten im Zusammenhang mit seinen persönlichen Umständen spezifisch betroffen sei, und dem Grad der willkürlichen Gewalt, der erforderlich sei, damit ihm subsidiärer Schutz zuerkannt werde, das sich aus dem Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 39), ergebe, auch auf die Beurteilung in Bezug auf ernsthafte Schäden gemäß Art. 15 Buchst. b anwendbar sei, wenn im Herkunftsland des Antragstellers ein hohes allgemeines Gewaltniveau vorliege, dies für sich genommen aber die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht rechtfertige.

21      Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen humanitäre Umstände, die, im Gegensatz zu der Situation in der Rechtssache, in der das Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452), ergangen ist, eine unmittelbare oder mittelbare Folge von Gewaltakten seien, die ein Akteur, von dem ein ernsthafter Schaden ausgehe, im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts begangen habe, und die zu einem Verstoß gegen Art. 1, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta führen könnten, bei der Beurteilung eines Antrags auf subsidiären Schutz zu berücksichtigen seien. Insoweit stellt das vorlegende Gericht klar, dass es sich sowohl auf die humanitäre Lage beziehe, die von einem Akteur, von dem ein ernsthafter Schaden ausgehe, absichtlich herbeigeführt werde, als auch auf die Lage, die durch die Gleichgültigkeit eines solchen Akteurs gegenüber den Folgen eines bewaffneten Konflikts für die Zivilbevölkerung verursacht werde.

22      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 15 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. g und Art. 4 dieser Richtlinie sowie Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass bei der Frage, ob ein Antragsteller subsidiären Schutz benötigt, alle relevanten Anhaltspunkte, die sich sowohl auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers als auch auf die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen, immer vollständig und im wechselseitigen Zusammenhang geprüft und beurteilt werden müssen, bevor geklärt wird, welche befürchtete Erscheinungsform eines ernsthaften Schadens anhand dieser Anhaltspunkte belegt werden kann?

2.      Ist bei Verneinung der ersten Frage durch den Gerichtshof die Beurteilung der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers im Rahmen der Beurteilung gemäß Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95, zu der der Gerichtshof bereits klargestellt hat, dass diese dabei zu berücksichtigen sind, umfassender als die Prüfung anhand des Individualisierungserfordernisses im Sinne des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Juli 2008, NA./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407)? Können diese Anhaltspunkte im Rahmen desselben Antrags auf subsidiären Schutz sowohl bei der Beurteilung gemäß Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 als auch gemäß Art. 15 Buchst. c dieser Richtlinie berücksichtigt werden?

3.      Ist Art. 15 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass bei der Beurteilung des subsidiären Schutzbedürfnisses die sogenannte gleitende Skala, zu der der Gerichtshof bereits klargestellt hat, dass sie bei der Beurteilung einer behaupteten Furcht, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 Buchst. c dieser Richtlinie zu erleiden, anzuwenden ist, auch bei der Beurteilung einer behaupteten Furcht, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 Buchst. b dieser Richtlinie zu erleiden, angewandt werden muss?

4.      Ist Art. 15 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 1, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass humanitäre Umstände, die eine (un)mittelbare Folge des Handelns und/oder Unterlassens eines Akteurs sind, von dem ein ernsthafter Schaden ausgeht, bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind, ob ein Antragsteller subsidiären Schutz benötigt?

23      Durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. April 2022 ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung bis zum Erlass der das Verfahren in der Rechtssache C‑579/20, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Begriff ernsthafte individuelle Bedrohung), beendenden Entscheidung ausgesetzt worden.

24      Nach der Rücknahme des Vorabentscheidungsersuchens in dieser Rechtssache und deren anschließender Streichung durch Beschluss vom 18. Mai 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Begriff ernsthafte individuelle Bedrohung), ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache am 20. Mai 2022 fortgesetzt worden.

 Zum Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens

25      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

26      Zur Begründung seines Antrags hat dieses Gericht im Wesentlichen geltend gemacht, dass der Aufenthalt der Kläger zwar bis zur endgültigen Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit rechtmäßig sei, die minderjährigen Kinder von X und Y sich jedoch in einer Lage der Unsicherheit befänden. Hierzu führte es aus, dass fünf der sechs minderjährigen Kinder von X und Y seit dem 22. April 2020 erzieherische Unterstützung erhielten und dass diese Kinder in ihrer Entwicklung ernsthaft gefährdet seien und in einem gefährlichen und instabilen erzieherischen Umfeld aufwüchsen, in dem sie Zeugen und Opfer von Übergriffen würden und unter einem Gefühl der emotionalen und körperlichen Vernachlässigung litten. Außerdem hat das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass sich nach Ansicht von X und Y der fragliche Zusammenhang der Unsicherheit auch aus der Länge des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahrens sowie aus der Ungewissheit über dessen Ausgang ergebe.

27      Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

28      Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 20. Mai 2022 nach Anhörung der Berichterstatterin und des Generalanwalts beschlossen, den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Antrag zurückzuweisen.

29      Das beschleunigte Verfahren ist nämlich ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 13. Juli 2023, Azienda Ospedale-Università di Padova, C‑765/21, EU:C:2023:566, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Das vorlegende Gericht hat jedoch nicht alle Angaben gemacht, anhand deren sich das Vorliegen einer solchen außerordentlichen Dringlichkeitssituation und insbesondere die Gefahren, die entstünden, wenn diese Vorlage dem ordentlichen Verfahren folgte, beurteilen ließen. Dieses Gericht hat zwar auf Gefahren für die Entwicklung der minderjährigen Kinder von X und Y hingewiesen, die sich aus dem familiären, sozialen und erzieherischen Umfeld, in dem sie leben, ergeben, es hat jedoch nicht dargetan, dass zwischen der Dauer des Verfahrens vor dem Gerichtshof und der Verlängerung der Situation der Unsicherheit, in der sich diese Kinder befänden, ein Zusammenhang besteht. Außerdem hat das vorlegende Gericht auch nicht dargelegt, warum die Anwendung des beschleunigten Verfahrens auf die vorliegende Rechtssache es ermöglichen würde, solche Gefahren zu vermeiden oder eine solche Situation der Unsicherheit zu beheben, da die Rechtsunsicherheit, die für die Kinder hinsichtlich des Ausgangs des Ausgangsverfahrens besteht, für sich allein die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens nicht rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. Juni 2016, S., C‑283/16, EU:C:2016:482, Rn. 11 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Darüber hinaus spricht, ohne für sich genommen entscheidend zu sein, der erhebliche Zeitraum zwischen der Stellung der Anträge auf internationalen Schutz der Kläger und den Entscheidungen des Staatssekretärs, mit denen diese Anträge abgelehnt wurden, einerseits und der Einreichung der Vorlage zur Vorabentscheidung andererseits nicht für den Erlass einer Entscheidung, mit der diese Vorlage einem beschleunigten Verfahren unterworfen wird (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. Juni 2016, S., C‑283/16, EU:C:2016:482, Rn. 12).

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

32      Vor der Beantwortung der Vorlagefragen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2011/95, da sie namentlich auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. b AEUV erlassen wurde, u. a. eine einheitliche Regelung für den subsidiären Schutz eingeführt werden soll. Insoweit besteht, wie aus den Erwägungsgründen 12 und 34 dieser Richtlinie hervorgeht, eines der wesentlichen Ziele der Richtlinie darin, zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, indem ihnen ein angemessener Status verliehen wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 22 und 34).

33      Sodann ergibt sich aus Art. 18 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit der Definition des Begriffs „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ in Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie und des Begriffs „subsidiärer Schutzstatus“ in Art. 2 Buchst. g der Richtlinie, dass der in dieser Richtlinie vorgesehene subsidiäre Schutzstatus grundsätzlich allen Drittstaatsangehörigen bzw. allen Staatenlosen zu gewähren ist, die bei ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland oder in das Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr laufen, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie zu erleiden (Urteil vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Schließlich wurde durch die Richtlinie 2011/95 mit Wirkung vom 21. Dezember 2013 die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) aufgehoben. Da diese Normänderung aber weder an der gesetzlichen Regelung für die Gewährung von subsidiärem Schutz noch an der Nummerierung der betreffenden Bestimmungen etwas geändert hat, ist die zur Richtlinie 2004/83 ergangene Rechtsprechung für die Auslegung der Richtlinie 2011/95 relevant. Insbesondere ist, da Art. 15 der Richtlinie 2011/95 denselben Wortlaut hat wie Art. 15 der Richtlinie 2004/83, die zu der letzteren Vorschrift ergangene Rechtsprechung auf die erstgenannte übertragbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 24).

 Zur ersten Frage

35      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die zuständige nationale Behörde zum Zweck der Feststellung, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz Anspruch auf subsidiären Schutz hat, alle relevanten Anhaltspunkte zu prüfen hat, die sich sowohl auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers als auch auf die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen, bevor geklärt wird, welche Art von ernsthaftem Schaden anhand dieser Anhaltspunkte möglicherweise belegt werden kann.

36      Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass dieser Art. 15 drei Arten eines „ernsthaften Schadens“ vorsieht, die geeignet sind, zugunsten einer Person, die bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland oder in das Land, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, tatsächlich Gefahr liefe, einen solchen Schaden zu erleiden, die Gewährung subsidiären Schutzes zu rechtfertigen.

37      Was erstens die Gründe in Art. 15 Buchst. a, d. h. die Gefahr der „Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe“, und in Art. 15 Buchst. b, nämlich die Gefahr der „Folter oder [einer] unmenschliche[n] oder erniedrigende[n] Behandlung oder Bestrafung“ betrifft, so erfassen diese Fälle eines „ernsthaften Schadens“ Situationen, in denen der den subsidiären Schutz Beantragende spezifisch der Gefahr ausgesetzt ist, einen Schaden ganz bestimmter Art zu erleiden (Urteile vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 32 und 38, sowie vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Folglich setzt die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 voraus, dass es stichhaltige und erweisliche Gründe für die Annahme gibt, dass der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder in das Land, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, spezifisch und individuell der tatsächlichen Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, der Folter oder einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt wäre.

39      Jedoch sind bei der Beurteilung des Vorliegens einer solchen Gefahr auch die Anhaltspunkte zu prüfen, die sich auf die allgemeine Situation des betreffenden Landes beziehen, darunter auch diejenigen, die das allgemeine Niveau der Gewalt und der Unsicherheit in diesem Land betreffen. Ein solcher allgemeiner Kontext ermöglicht es nämlich, genauer zu beurteilen, inwieweit der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 Buchst. a oder b der Richtlinie 2011/95 zu erleiden.

40      Was zweitens den in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 definierten Schaden betrifft, der in „einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ des Antragstellers besteht, ist festzustellen, dass diese Bestimmung eine Schadensgefahr „allgemeinerer Art“ als die Schadensgefahren nach Art. 15 Buchst. a und b umfasst. So ist dort in einem weiteren Sinne von „eine[r] … Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ einer Zivilperson statt von bestimmten Gewalteinwirkungen die Rede. Außerdem ergibt sich diese Bedrohung aus einer allgemeinen Lage eines bewaffneten Konflikts, die zu „willkürlicher Gewalt“ führt, was impliziert, dass sie sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Umstände und ihrer Identität erstrecken kann, wenn diese Gewalt ein solches Niveau erreicht, dass stichhaltige und erweisliche Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 26 und 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Hieraus folgt, dass in einer außergewöhnlichen Situation wie der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebenen die Feststellung einer „ernsthaften individuellen Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 nicht voraussetzt, dass der Antragsteller beweist, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 43, sowie vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 27).

42      In anderen, weniger außergewöhnlichen Fällen sind jedoch Anhaltspunkte im Zusammenhang mit der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers relevant. So wird der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 hat, umso geringer sein, je mehr er zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner individuellen Lage oder seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 39, und vom 30. Januar 2014, Diakité, C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 31).

43      Daraus folgt, dass Art. 15 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass sowohl die Umstände, die mit der allgemeinen Lage im Herkunftsland, insbesondere dem allgemeinen Niveau der Gewalt und Unsicherheit in diesem Land, zusammenhängen, als auch die Umstände betreffend die individuelle Lage und die persönliche Situation des Antragstellers relevante Anhaltspunkte für die Prüfung jedes Antrags auf subsidiären Schutz durch die zuständige nationale Behörde darstellen können, unabhängig von der speziellen Art des ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15, die Gegenstand einer solchen Prüfung ist.

44      Insoweit ist noch hervorzuheben, dass zwar jede Art eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. a bis c der Richtlinie 2011/95 einen eigenständigen Grund für die Anerkennung des subsidiären Schutzes darstellt, dessen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes in vollem Umfang erfüllt sein müssen, doch ändert dies, wie der Generalanwalt in den Nrn. 30, 40 und 41 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, nichts daran, dass dieser Artikel keine Rangfolge zwischen diesen verschiedenen Arten des ernsthaften Schadens aufstellt und für die Beurteilung, ob tatsächlich die Gefahr besteht, einen solchen ernsthaften Schaden zu erleiden, keine Reihenfolge vorschreibt. Denn zum einen kann aus ein und demselben Antrag auf internationalen Schutz hervorgehen, dass für den Antragsteller die Gefahr besteht, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder in das Land, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, mehreren Arten eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist. Zum anderen kann ein und derselbe Anhaltspunkt dazu dienen, das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr, mehrere dieser ernsthaften Schäden zu erleiden, zu belegen.

45      Als Zweites wird die in Rn. 43 des vorliegenden Urteils erwähnte Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 durch den normativen Kontext bestätigt, in den sich Art. 15 der Richtlinie 2011/95 einfügt.

46      Insoweit ergibt sich zunächst aus Art. 4 dieser Richtlinie – der zu deren Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) gehört und somit sowohl für Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch für Anträge auf subsidiären Schutz im Sinne dieser Richtlinie gilt –, dass sich die Prüfung der Tatsachen und Umstände, auf die ein Antrag auf internationalen Schutz gestützt wird, in zwei getrennten Abschnitten vollzieht. Der erste Abschnitt betrifft die Feststellung der tatsächlichen Umstände, die Beweise zur Stützung des Antrags darstellen können, während der zweite Abschnitt die rechtliche Würdigung dieser Umstände betrifft, die in der Entscheidung besteht, ob die in Art. 15 dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes in Anbetracht der Umstände, die einen konkreten Fall kennzeichnen, erfüllt sind. (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Zwar können die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 verlangen, dass der Antragsteller im ersten dieser Abschnitte so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darlegt, doch müssen die Behörden der Mitgliedstaaten gegebenenfalls aktiv mit dem Antragsteller zusammenarbeiten, um die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu ermitteln und zu ergänzen, da diese Behörden zudem oft eher Zugang zu bestimmten Arten von Unterlagen haben als der Antragsteller (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 2022, Secretary of State for the Home Department [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑349/20, EU:C:2022:151, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung), wobei bestimmte Aspekte der Aussagen eines Antragstellers, für die Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, keines Nachweises bedürfen, wenn die kumulativen Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 5 Buchst. a bis e der Richtlinie erfüllt sind (Urteil vom 2. Dezember 2014, A u. a., C‑148/13 bis C‑150/13, EU:C:2014:2406, Rn. 58).

48      Folglich ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 34 und 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständige nationale Behörde verpflichtet, im ersten Abschnitt dieser Prüfung alle relevanten tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, die Beweise darstellen können, bevor sie im zweiten Prüfungsabschnitt feststellt, welche in Art. 15 dieser Richtlinie definierte Art von ernsthaftem Schaden diese Anhaltspunkte möglicherweise belegen, ohne dass sie Anhaltspunkte, die für die Beurteilung dieses Antrags möglicherweise relevant sind, allein deshalb unberücksichtigt lassen dürfte, weil der Antragsteller sie zur Stützung einer einzigen in Art. 15 definierten Art eines ernsthaften Schadens vorgebracht hat.

49      Sodann geht aus Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie hervor, dass zu den relevanten Anhaltspunkten, die diese Behörde bei der Beurteilung jedes Antrags auf internationalen Schutz zu berücksichtigen hat, u. a. sowohl „alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die … relevant sind“ im Sinne von Buchst. a dieser Bestimmung als auch die „individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers“ im Sinne von Buchst. c dieser Bestimmung gehören.

50      So hat der Gerichtshof entschieden, dass sich aus Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie ergibt, dass ein Antrag auf internationalen Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie, auch wenn darin keine der Situation des Antragstellers innewohnenden Umstände geltend gemacht werden, Gegenstand einer individuellen Prüfung sein muss, bei der im Rahmen einer umfassenden Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls eine ganze Reihe von in dieser Bestimmung aufgezählten Gesichtspunkten zu berücksichtigen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 40 und 41).

51      Im Übrigen kann nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, grundsätzlich einen stichhaltigen Hinweis darauf darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, so dass diese Umstände, die sich auf die persönliche Situation des Antragstellers beziehen, bei der Beurteilung, ob tatsächlich Gefahr besteht, einen der in Art. 15 der Richtlinie definierten ernsthaften Schäden, gleichviel welchen, zu erleiden, stets zu berücksichtigen sind.

52      Schließlich wird das Erfordernis, einen Antrag auf internationalen Schutz unter Berücksichtigung aller relevanten Anhaltspunkte, darunter die in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannten, zu prüfen und zu diesem Zweck aktiv mit dem Antragsteller zusammenzuarbeiten, durch Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie bestätigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2012, M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 67), da diese Bestimmung die zuständigen nationalen Behörden verpflichtet, bei Prüfung der Frage, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz Zugang zu Schutz vor u. a. ernsthaftem Schaden jeder Art in einem Teil des Herkunftslandes gemäß Abs. 1 in Anspruch nehmen kann, sowohl die dortigen allgemeinen Gegebenheiten als auch die persönlichen Umstände des Antragstellers zu berücksichtigen.

53      Als Drittes und Letztes steht die in den Rn. 43 und 48 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 im Einklang mit den mit dieser Richtlinie verfolgten Zielen, wie sie in Rn. 32 des vorliegenden Urteils dargelegt worden sind. Eine Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz, bei der nicht alle relevanten Umstände des Einzelfalls und insbesondere nicht alle in Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie aufgeführten Anhaltspunkte berücksichtigt würden, bevor die Art des in Art. 15 dieser Richtlinie definierten ernsthaften Schadens, die diese Anhaltspunkte möglicherweise belegen könnten, festgestellt wird, würde nämlich zu einem Verstoß gegen die den Mitgliedstaaten von dieser Richtlinie auferlegte Pflicht führen, die Personen zu bestimmen, die tatsächlich diesen Schutz benötigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juni 2021, Bundesrepublik Deutschland [Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“], C‑901/19, EU:C:2021:472, Rn. 44).

54      Eine solche Auslegung steht im Übrigen im Einklang mit vom vorlegenden Gericht angeführten Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta, die das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung bzw. den Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung betreffen. Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die in diesen Bestimmungen garantierten Grundrechte zwar bei der Umsetzung der Richtlinie 2011/95 und somit auch bei der Prüfung der Anträge auf subsidiären Schutz anhand von Art. 15 dieser Richtlinie zu beachten sind, diese Bestimmungen jedoch im Rahmen der Antwort auf die vorliegende Vorlagefrage keine zusätzlichen spezifischen Hinweise zur Tragweite des Erfordernisses enthalten, bei einer solchen Prüfung systematisch alle relevanten Anhaltspunkte zu prüfen, die sich sowohl auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers als auch auf die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen (vgl. entsprechend Urteile vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 129, und vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 64).

55      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 15 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die zuständige nationale Behörde zum Zweck der Feststellung, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz Anspruch auf subsidiären Schutz hat, alle relevanten Anhaltspunkte zu prüfen hat, die sich sowohl auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers als auch auf die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen, bevor geklärt wird, welche Art von ernsthaftem Schaden anhand dieser Anhaltspunkte möglicherweise belegt werden kann.

 Zur zweiten Frage

56      Die zweite Frage ist nur für den Fall gestellt worden, dass die erste Frage verneint wird. Auch wenn sich die Antwort auf den zweiten Teil der zweiten Frage in der Tat aus der Bejahung der ersten Frage in dem Sinne ergibt, dass die Umstände betreffend die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers für die Prüfung der Begründetheit eines Antrags auf internationalen Schutz sowohl im Hinblick auf Art. 15 Buchst. b als auch im Hinblick auf Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 relevant sein können, ändert dies allerdings nichts daran, dass der erste Teil der zweiten Frage weiterhin relevant ist.

57      Das vorlegende Gericht möchte nämlich wissen, ob die zuständige nationale Behörde bei der Beurteilung, ob eine tatsächliche Gefahr besteht, eine „ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c dieser Richtlinie zu erleiden, neben den verschiedenen relevanten Anhaltspunkten im Zusammenhang mit der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers zusätzliche Anhaltspunkte zu berücksichtigen hat, die über den bloßen Umstand hinausgehen, dass der Antragsteller aus einem Gebiet eines bestimmten Landes kommt, in dem im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, insbesondere seines Urteils vom 17. Juli 2008, NA./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407, § 115), die „extremsten Fälle allgemeiner Gewalt“ auftreten, d. h. aus einem Gebiet, in dem der Grad der Gewalt ein solches Ausmaß erreicht, dass die Ausweisung einer Person in dieses Land eine Verletzung des in Art. 3 EMRK garantierten Verbots der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung darstellt.

58      Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die zuständige nationale Behörde bei der Beurteilung, ob tatsächlich die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden, wie er in dieser Bestimmung definiert ist, zu erleiden, andere Anhaltspunkte der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers berücksichtigen können muss als den bloßen Umstand, dass er aus einem Gebiet eines bestimmten Landes kommt, in dem im Sinne des Urteils des EGMR vom 17. Juli 2008, NA./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407, § 115), die „extremsten Fälle allgemeiner Gewalt“ auftreten.

59      Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 grundsätzlich relevant ist. Zum einen ergibt sich nämlich aus Art. 6 Abs. 3 EUV, dass das in Art. 3 EMRK garantierte Grundrecht zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Für die Auslegung der Tragweite dieses Rechts in der Unionsrechtsordnung ist daher auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 28).

60      Zum anderen geht aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 hervor, dass die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie unter Beachtung der in der Charta anerkannten Grundrechte, darunter insbesondere Art. 4 der Charta, erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2018, MP [Subsidiärer Schutz eines Opfers früherer Folterungen], C‑353/16, EU:C:2018:276, Rn. 36). Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta haben aber die in Art. 4 der Charta garantierten Rechte, da sie den durch Art. 3 EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in Art. 3 EMRK verliehen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung), was jedoch nicht ausschließt, dass das Unionsrecht den genannten Rechten einen weiter gehenden Schutz gewährt. Bei der Auslegung der in Art. 4 der Charta garantierten Rechte sind daher die entsprechenden durch Art. 3 EMRK in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Rechte als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2023, K.B. und F.S. [Prüfung von Amts wegen im Strafverfahren], C‑660/21, EU:C:2023:498, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Im Übrigen geht aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervor, dass mit dem Recht in Art. 19 Abs. 2 der Charta, wonach niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht, die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK, dem Art. 19 Abs. 2 im Wesentlichen entspricht, übernommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, M’Bodj, C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 47). Diese Rechtsprechung ist daher auch für die Auslegung dieses Rechts einschlägig.

62      Allerdings hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 im Wesentlichen Art. 3 EMRK entspricht. Dagegen handelt es sich bei Art. 15 Buchst. c dieser Richtlinie um eine Bestimmung, deren Inhalt sich von dem von Art. 3 EMRK unterscheidet und deren Auslegung daher autonom vorzunehmen ist, um u. a. einen eigenen Anwendungsbereich dieser Bestimmung unter Wahrung der durch die Charta und die EMRK garantierten Grundrechte zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 28 und 36).

63      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 zwar die Ausnahmesituation erfasst, in der der Grad willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts so hoch ist, dass stichhaltige und erweisliche Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine Zivilperson, die in das betreffende Land oder in die betreffende Region zurückgeschickt wird, allein aufgrund ihrer Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Landes oder in dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

64      Wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kann diese Bestimmung jedoch auch andere Situationen erfassen, in denen das Zusammenwirken eines niedrigeren Grads willkürlicher Gewalt als desjenigen, der eine solche außergewöhnliche Situation kennzeichnet, und Anhaltspunkten aus den persönlichen Umständen des Antragstellers geeignet ist, die tatsächliche Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne dieser Bestimmung zu konkretisieren.

65      Daraus folgt, dass in diesen anderen Fällen die Anhaltspunkte, die sich auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers beziehen, die die zuständige nationale Behörde zu berücksichtigen hat, zwangsläufig über den Umstand hinausgehen, dass er aus einem Gebiet eines bestimmten Landes kommt, in dem die „extremsten Fälle allgemeiner Gewalt“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, insbesondere seines Urteils vom 17. Juli 2008, NA/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407, § 115), auftreten.

66      Somit gewährt die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 Personen, die internationalen Schutz beantragen, einen weiter gehenden Schutz als Art. 3 EMRK, und dies völlig in Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu diesem Art. 3 (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 44).

67      In Anbetracht der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen und in Rn. 19 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Fragen ist noch klarzustellen, dass die in Art. 4 Abs. 3 Buchst. c dieser Richtlinie enthaltene Aufzählung relevanter Anhaltspunkte im Zusammenhang mit der individuellen Lage und den persönlichen Umständen des Antragstellers nicht abschließend ist, so dass in den in Rn. 64 des vorliegenden Urteils genannten Fällen die für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes zuständige nationale Behörde eine Einzelfallprüfung vorzunehmen hat, wobei sie gegebenenfalls jeden anderen die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers betreffenden Anhaltspunkt zu berücksichtigen hat, die dazu beitragen können, die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 Buchst. c dieser Richtlinie zu erleiden, unter Berücksichtigung des Ausmaßes der willkürlichen Gewalt in dem betreffenden Land oder in der betreffenden Region zu konkretisieren. In diesem Zusammenhang könnten insbesondere Aspekte des Privat‑, Familien- oder Berufslebens des Antragstellers als relevant angesehen werden, von denen vernünftigerweise angenommen werden kann, dass sie die Gefahr erhöhen, dass er im Fall seiner Rückkehr in sein Herkunftsland oder in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts einen solchen ernsthaften Schaden erleidet.

68      Außerdem ist es, wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 Sache der zuständigen nationalen Behörde, den Umstand zu berücksichtigen, dass der Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder insoweit unmittelbar bedroht war, es sei denn, es gibt stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass er erneut von einem solchen Schaden bedroht wird.

69      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die zuständige nationale Behörde bei der Beurteilung, ob tatsächlich die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden, wie er in dieser Bestimmung definiert ist, zu erleiden, andere Anhaltspunkte der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers berücksichtigen können muss als den bloßen Umstand, dass er aus einem Gebiet eines bestimmten Landes kommt, in dem im Sinne des Urteils des EGMR vom 17. Juli 2008, NA./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407, § 115), die „extremsten Fälle allgemeiner Gewalt“ auftreten.

 Zur dritten Frage

70      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Intensität der willkürlichen Gewalt im Herkunftsland des Antragstellers das Erfordernis der Individualisierung des in dieser Bestimmung definierten ernsthaften Schadens schwächen kann.

71      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie in den Rn. 37 bis 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der in Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 definierte ernsthafte Schaden einen klaren Individualisierungsgrad voraussetzt.

72      Wie in Rn. 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt, erfassen nämlich die in Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie genannten Schäden im Zusammenhang mit der Gefahr der „Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe“ und der „Folter oder unmenschliche[n] oder erniedrigende[n] Behandlung oder Bestrafung“ Situationen, in denen derjenige, der subsidiären Schutz beantragt, spezifisch und individuell der Gefahr eines Schadens besonderer Art ausgesetzt ist.

73      Zwar sind, wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die maßgeblichen Anhaltspunkte betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsland, insbesondere das allgemeine Niveau der Gewalt und Unsicherheit in diesem Land, auch in solchen Fällen zu prüfen, doch ändert dies nichts daran, dass kein Niveau der Gewalt und Unsicherheit in diesem Staat, so hoch es auch sein mag, die Tragweite der Voraussetzung zu schwächen vermag, dass für eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95, gegebenenfalls unter Berücksichtigung eines solchen Gewaltniveaus, nachgewiesen werden muss, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, bei einer Rückkehr in dieses Land spezifisch und individuell einen solchen Schaden zu erleiden.

74      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Intensität der willkürlichen Gewalt im Herkunftsland des Antragstellers das Erfordernis der Individualisierung des in dieser Bestimmung definierten ernsthaften Schadens nicht schwächen kann.

 Zur vierten Frage

75      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 1, Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass humanitäre Umstände, die die unmittelbare oder mittelbare Folge der im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vorgenommenen Handlungen und/oder Unterlassungen eines Akteurs sind, von dem ein ernsthafter Schaden ausgeht, bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne dieses Art. 15 Buchst. c zu berücksichtigen sind.

76      Die Europäische Kommission hält diese Frage für unzulässig und macht im Wesentlichen geltend, dass angesichts der Anhaltspunkte, auf die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge auf internationalen Schutz gestützt seien, die Antwort auf diese Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich sei und dass die Vorlageentscheidung jedenfalls nicht die hierfür erforderlichen Informationen und Erläuterungen enthalte.

77      Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ist aber ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen. Die Rechtfertigung der Vorlage zur Vorabentscheidung liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass die Vorlage für die tatsächliche Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist. Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 167 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

78      So ist es nach Art. 94 Buchst. a der Verfahrensordnung unerlässlich, dass die Vorlageentscheidung u. a. eine kurze Darstellung des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen, enthält (Urteil vom 3. Dezember 2019, Iccrea Banca, C‑414/18, EU:C:2019:1036, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

79      Im vorliegenden Fall gehören, wie in den Rn. 11, 12 und 15 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zu den Anhaltspunkten, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge auf internationalen Schutz stützen, wie sie von den Klägern vorgebracht und von der zuständigen nationalen Behörde sowie vom vorlegenden Gericht festgestellt worden sind, Tatsachen, die sich auf das allgemeine Ausmaß der Gewalt und Unsicherheit in Libyen, die schwierigen Lebensbedingungen in Tripoli sowie die daraus resultierenden „humanitären Umstände“ beziehen.

80      Aus diesen Anhaltspunkten, wie sie im Vorabentscheidungsersuchen dargelegt sind, ergibt sich jedoch keineswegs, dass diese humanitäre Lage die unmittelbare oder mittelbare Folge der im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 begangenen Handlungen und/oder Unterlassungen eines Akteurs ist, von dem ein ernsthafter Schaden ausgeht.

81      Außerdem hat das vorlegende Gericht nicht angegeben, wer der Akteur der fraglichen Handlungen und/oder Unterlassungen sein soll und worin diese Handlungen und/oder Unterlassungen bestehen sollen.

82      Daraus folgt, dass das vorlegende Gericht nicht hinreichend dargelegt hat, inwiefern eine Antwort auf die vierte Frage erforderlich sein soll, um ihm die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zu ermöglichen, und dass es auch die tatsächlichen Umstände, auf denen diese Frage beruht, nicht hinreichend dargelegt hat.

83      Die vierte Frage ist daher unzulässig.

 Kosten

84      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

die zuständige nationale Behörde zum Zweck der Feststellung, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz Anspruch auf subsidiären Schutz hat, alle relevanten Anhaltspunkte zu prüfen hat, die sich sowohl auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers als auch auf die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen, bevor geklärt wird, welche Art von ernsthaftem Schaden anhand dieser Anhaltspunkte möglicherweise belegt werden kann.

2.      Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die zuständige nationale Behörde bei der Beurteilung, ob tatsächlich die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden, wie er in dieser Bestimmung definiert ist, zu erleiden, andere Anhaltspunkte der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers berücksichtigen können muss als den bloßen Umstand, dass er aus einem Gebiet eines bestimmten Landes kommt, in dem im Sinne des Urteils des EGMR vom 17. Juli 2008, NA./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407, § 115), die „extremsten Fälle allgemeiner Gewalt“ auftreten.

3.      Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die Intensität der willkürlichen Gewalt im Herkunftsland des Antragstellers das Erfordernis der Individualisierung des in dieser Bestimmung definierten ernsthaften Schadens nicht schwächen kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.