Language of document : ECLI:EU:C:2023:844

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

9. November 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 6 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Art. 6 Abs. 4 – Änderung der gegebenen Informationen – Änderung der Beurteilung der Straftat – Verpflichtung, die beschuldigte Person rechtzeitig zu informieren und ihr Gelegenheit zu geben, zu der beabsichtigten neuen Beurteilung Stellung zu nehmen – Wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte – Faires Verfahren – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 3 – Unschuldsvermutung – Art. 7 Abs. 2 – Recht, sich nicht selbst zu belasten – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Erfordernis der Unparteilichkeit des Strafrichters – Neubeurteilung der Straftat auf Initiative des Strafrichters oder auf Vorschlag der beschuldigten Person“

In der Rechtssache C‑175/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 8. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen

BK,

Beteiligte:

Spetsializirana prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: T. Ćapeta,

Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der tschechischen Regierung, durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, durch E. Rousseva und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. Mai 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das gegen BK wegen einer Tat geführt wird, die in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ursprünglich als Bestechlichkeit beurteilt wurde, für die das vorlegende Gericht aber eine Einordnung als Betrug oder als illegale Einflussnahme in Betracht zieht.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2012/13

3        In den Erwägungsgründen 3, 9, 14 und 27 bis 29 der Richtlinie 2012/13 heißt es:

„(3)      Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern.

(9)      Artikel 82 Absatz 2 [AEUV] sieht die Festlegung von in den Mitgliedstaaten anwendbaren Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension vor. Dort werden ‚die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren‘ als einer der Bereiche genannt, in denen Mindestvorschriften festgelegt werden können.

(14)      Die vorliegende Richtlinie … legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der Charta verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. …

(27)      Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.

(28)      Die Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, sollte umgehend erfolgen und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde und ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen. Eine Beschreibung der Umstände der strafbaren Handlung, deren die Person verdächtigt oder beschuldigt wird, einschließlich, sofern bekannt, der Zeit und des Ortes sowie der möglichen rechtlichen Beurteilung der mutmaßlichen Straftat sollte – je nach Stadium des Strafverfahrens, in der sie gegeben wird – hinreichend detailliert gegeben werden, so dass ein faires Verfahren gewährleistet und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.

(29)      Verändern sich im Laufe des Strafverfahrens die Einzelheiten des Tatvorwurfs so weit, dass die Stellung der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen in beträchtlichem Umfang betroffen ist, so sollte ihnen dies mitgeteilt werden, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, und zwar so rechtzeitig, dass eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.“

4        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2012/13 lautet:

„Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. Mit dieser Richtlinie werden auch Bestimmungen über das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt.“

5        Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

a)      das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

b)      den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;

c)      das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

d)      das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen;

e)      das Recht auf Aussageverweigerung.“

6        Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“

 Richtlinie (EU) 2016/343

7        Die Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) hat nach Art. 1 Buchst. a zum Gegenstand, „gemeinsame Mindestvorschriften“ für „bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren“ festzulegen.

8        Art. 3 („Unschuldsvermutung“) dieser Richtlinie sieht vor:

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“

9        Art. 7 („Recht, die Aussage zu verweigern, und Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen“) Abs. 2 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, sich nicht selbst belasten zu müssen.“

 Bulgarisches Recht

10      Art. 287 Abs. 1 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) bestimmt:

„Die Staatsanwaltschaft erhebt eine neue Anklage, wenn sie während der gerichtlichen Untersuchung Gründe für eine wesentliche Änderung des Sachverhaltsteils der Anklageschrift oder für die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes feststellt.“

11      Nach Art. 301 Abs. 1 Nr. 2 NPK prüft und entscheidet das zuständige Gericht bei der Urteilsfindung darüber, ob die Handlung eine Straftat ist und wie sie rechtlich einzuordnen ist.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12      Am 26. Februar 2021 erhob die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) beim vorlegenden Gericht Anklage gegen BK wegen einer als Bestechlichkeit eingeordneten Tat, die BK im Zusammenhang mit seinen Aufgaben als polizeilicher Ermittlungsbeamter begangen haben soll.

13      Nach den Feststellungen in der Anklageschrift verlangte BK von zwei Verdächtigen einen Geldbetrag, um im Rahmen der Ausübung seiner dienstlichen Aufgaben die beiden folgenden Handlungen vorzunehmen. Zum einen habe BK vorgeschlagen, eine befürwortende Stellungnahme zu den Anträgen der Verdächtigen auf Rückgabe von Fahrzeugen, die möglicherweise als Tatwerkzeug genutzt worden seien, abzugeben und ihnen diese Fahrzeuge nach Genehmigung durch die Staatsanwaltschaft zurückzugeben. Zum anderen habe er den beiden Verdächtigen auch angeboten, sie wegen der Zuwiderhandlung, deren sie verdächtigt würden, nicht als Beschuldigte heranzuziehen.

14      Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft) ordnete die Tat als Bestechlichkeit eines polizeilichen Ermittlungsbeamten im Wege der Erpressung unter Amtsmissbrauch ein. Diese Straftat wird mit einer Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren, einer Geldstrafe von bis zu 25 000 bulgarischen Lewa (BGN) (etwa 12 500 Euro), der Einziehung von bis zur Hälfte des Vermögens der verurteilten Person sowie eines Verlusts von Rechten belegt.

15      BK widersprach dieser Einordnung. Die inkriminierten Handlungen könnten nicht als Diensthandlungen angesehen werden, da sie nicht in die Zuständigkeit des polizeilichen Ermittlungsbeamten, sondern in die des Staatsanwalts fielen. Die Tat sei daher als Betrug einzuordnen.

16      Das vorlegende Gericht hat hierzu ausgeführt, dass die geltend gemachte Form des Betrugs, die vorliege, wenn der Täter einen Vermögensvorteil zulasten des Opfers erlange, indem er einen Irrtum des Opfers, dessen Unerfahrenheit oder Unkenntnis ausnutze, mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht sei.

17      Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft) hielt jedoch an der Einordnung als Bestechlichkeit fest. Das vorlegende Gericht hat erläutert, dass es nach dem nationalen Verfahrensrecht allein Sache des Staatsanwalts sei, den Tatvorwurf zu bestimmen, ohne dass das zuständige Gericht ihm insoweit Anweisungen erteilen könne.

18      Daher hätten sich sowohl die Verfahrensbeteiligten als auch das Gericht im Ausgangsverfahren allein auf den Nachweis bzw. die Widerlegung des Vorwurfs der Bestechlichkeit konzentriert. Das Gericht sei verpflichtet, über den Tatvorwurf zu entscheiden, wie er vom Staatsanwalt formuliert worden sei, also den Vorwurf der Bestechlichkeit. Allerdings hätte es, falls es insoweit auf Freispruch erkenne, die Möglichkeit, eine Neubeurteilung der Tat in Betracht zu ziehen.

19      Art. 301 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit Art. 287 Abs. 1 NPK werde in der nationalen Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass das zuständige Gericht befugt sei, den Angeklagten auf der Grundlage einer anderen als der ursprünglich in der Anklageschrift vorgenommenen Beurteilung für schuldig zu erklären, sofern diese neue Beurteilung zum einen keine wesentliche Änderung des Sachverhaltsteils der Anklageschrift bedeute und zum anderen keine schwerere Strafe zur Folge habe als die Straftat, die sich aus der ursprünglichen Beurteilung durch die Staatsanwaltschaft ergebe.

20      Nach dieser Rechtsprechung stehe es dem vorlegenden Gericht frei, die Tat im Rahmen des Ausgangsverfahrens, wie von BK vorgeschlagen, als Betrug einzuordnen, da diese Straftat mit einer milderen Strafe als die der Bestechlichkeit geahndet werde.

21      Das vorlegende Gericht könnte auch erwägen, die verfolgte Tat als unerlaubte Einflussnahme zu würdigen. Es ließe sich nämlich vertreten, dass BK von den Verdächtigen die Zahlung eines Geldbetrags verlangt habe, um die Entscheidungen des Staatsanwalts im Rahmen der Ausübung von dessen Diensttätigkeit zu beeinflussen und ihn damit zur Genehmigung der Rückgabe der Fahrzeuge und zur Nichterhebung einer Anklage zu bewegen. Die für die Straftat der unerlaubten Einflussnahme angedrohte Strafe sei ebenfalls milder als die für die Straftat der Bestechlichkeit, nämlich Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren oder Geldstrafe von bis zu 5 000 BGN (etwa 2 500 Euro).

22      Allerdings fehle es an einer Garantie zum Schutz der Verteidigungsrechte, wenn das zuständige Gericht beschließe, den Angeklagten auf der Grundlage einer anderen als der ursprünglich in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vorgenommenen Beurteilung der Tat zu verurteilen. Insbesondere sei das Gericht weder verpflichtet, den Angeklagten vorab zu informieren, noch, ihm Gelegenheit zu geben, zu der beabsichtigten Neubeurteilung Stellung zu nehmen. In der Praxis erlange der Angeklagte von dieser neuen Einordnung erst mit seiner Verurteilung Kenntnis.

23      Das vorlegende Gericht äußert daher Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Praxis mit dem Unionsrecht. Konkret möchte es mit seiner ersten Frage wissen, ob es mit Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 vereinbar ist, ein Strafurteil auf der Grundlage einer Beurteilung der verfolgten Tat zu erlassen, über die der Angeklagte nicht vorab unterrichtet wurde.

24      Die zweite Frage betrifft die Anforderungen, die sich aus Art. 47 Abs. 2 der Charta ergeben.

25      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte die ihm aufgrund der Antwort auf die erste Frage obliegende Verpflichtung, den Angeklagten über die Möglichkeit einer anderen als der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vertretenen Beurteilung der Tat zu informieren, seine Unparteilichkeit und die Fairness des Verfahrens in Frage stellen. Das vorlegende Gericht zieht insoweit zwei Fallgestaltungen in Betracht.

26      Zum einen würde das zuständige Gericht, wenn es den Angeklagten darüber unterrichtete, dass es eine andere Einordnung, wie im Ausgangsverfahren eine Einordnung als unerlaubte Einflussnahme, in Betracht ziehe, faktisch die Funktion des Anklägers übernehmen. Es ließe sich jedoch an der Unparteilichkeit eines Gerichts zweifeln, das von sich aus eine neue rechtliche Einordnung vorschlage und anschließend eine Verurteilung auf der Grundlage dieser Einordnung ausspreche, und zwar auch dann, wenn es dem Angeklagten zuvor Gelegenheit gegeben habe, sich insoweit zu verteidigen.

27      Zum anderen könnte, wenn das zuständige Gericht den Angeklagten von der Möglichkeit in Kenntnis setzte, eine von diesem selbst vorgeschlagene Einordnung der Tat, wie im Ausgangsverfahren die Einordnung als Betrug, zugrunde zu legen, dies zu einer Verletzung des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, und der Regeln eines fairen Verfahrens führen.

28      Allerdings habe BK im Rahmen des Ausgangsverfahrens hinsichtlich des Betrugsdelikts keinerlei Schuld anerkannt, sondern sich auf den Hinweis beschränkt, dass die Tat, so wie sie von der Staatsanwaltschaft dargestellt sei, als Betrug und nicht als Bestechlichkeit einzuordnen sei.

29      Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 einer Auslegung nationaler Rechtsvorschriften – Art. 301 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit Art. 287 Abs. 1 NPK – durch die Rechtsprechung, wonach das Gericht in seinem Urteil eine von der Anklageschrift abweichende rechtliche Beurteilung der Tat vornehmen darf, sofern keine Einordnung als schwerer bestrafte Tat erfolgt, aus dem Grund entgegen, dass der Angeklagte vor der Urteilsverkündung nicht ordnungsgemäß über die neue, andere rechtliche Beurteilung unterrichtet wurde und sich nicht dagegen verteidigen konnte?

2.      Falls die Frage bejaht wird: Untersagt Art. 47 Abs. 2 der Charta dem Gericht, den Angeklagten darüber zu unterrichten, dass es seine Entscheidung in der Sache selbst auf der Grundlage einer anderen rechtlichen Beurteilung der Tat erlassen könnte, und ihm außerdem die Möglichkeit zu geben, seine Verteidigung dazu vorzubereiten, weil die Initiative für diese andere rechtliche Beurteilung nicht von der Staatsanwaltschaft ausgegangen ist?

30      Mit Schreiben vom 5. August 2022 teilte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mit, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden sei und bestimmte bei diesem anhängige Strafsachen einschließlich des Ausgangsverfahrens zu diesem Zeitpunkt an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) verwiesen worden seien.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

31      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, wenn die neue Beurteilung nicht zur Verhängung einer schwereren Strafe führen kann, und zwar ohne die beschuldigte Person vorab über die beabsichtigte neue Beurteilung zu unterrichten und damit ohne ihr Gelegenheit zu geben, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf die zugrunde gelegte neue Straftat konkret und wirksam auszuüben.

32      Wie sich aus Art. 1 der Richtlinie 2012/13 ergibt, werden mit dieser auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassenen Richtlinie gemeinsame Mindestnormen bezüglich der Belehrung über die Rechte und der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, festgelegt.

33      Aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 6 der Richtlinie 2012/13 ergibt sich, dass das in deren Art. 1 genannte Recht auf Information mindestens zwei gesonderte Rechte betrifft. Zum einen müssen Verdächtige oder beschuldigte Personen gemäß Art. 3 der Richtlinie zumindest über die verschiedenen, dort aufgeführten Verfahrensrechte belehrt werden, die das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts, den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sowie das Recht auf Aussageverweigerung umfassen. Zum anderen enthält Art. 6 der Richtlinie Bestimmungen über das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf (vgl. in diesem Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, С-646/17, EU:C:2019:489, Rn. 43).

34      Diese Bestimmungen sollen, wie die Erwägungsgründe 27 bis 29 der Richtlinie 2012/13 bestätigen, ein faires Verfahren gewährleisten und die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 89).

35      Dieses Ziel verlangt u. a., dass die beschuldigte Person, wie in Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie vorgesehen, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat, rechtzeitig erhält, d. h. zu einem Zeitpunkt, der es ihr ermöglicht, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 90).

36      Das genannte Ziel und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens setzen voraus, dass die beschuldigte Person oder ihr Rechtsanwalt genau darüber informiert wird, welcher Sachverhalt ihr zur Last gelegt wird und wie dieser Sachverhalt rechtlich gewürdigt wird, um sich im Einklang mit dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit sinnvoll an der Verhandlung beteiligen und ihren Standpunkt wirksam geltend machen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 92 und 93).

37      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Formulierung der ersten Frage und den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, wie weit die Verpflichtung eines in einem Strafverfahren in der Sache entscheidenden Gerichts geht, die beschuldigte Person über die Änderung der rechtlichen Beurteilung der verfolgten Tat zu informieren.

38      Insoweit hat der Gerichtshof bereits anerkannt, dass die der Verteidigung übermittelten Informationen zum Tatvorwurf, insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Würdigung des zur Last gelegten Sachverhalts, später abgeändert werden können. Solche Änderungen müssen der beschuldigten Person oder ihrem Rechtsanwalt allerdings so rechtzeitig mitgeteilt werden, dass diese noch die Möglichkeit haben, wirksam zu reagieren, bevor das Gericht in die abschließende Beratung eintritt. Diese Möglichkeit ist in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 vorgesehen, wonach Änderungen der gemäß diesem Artikel im Lauf des Strafverfahrens gegebenen Informationen der beschuldigten Person umgehend mitgeteilt werden müssen, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten (Urteil vom 21. Oktober 2021, ZX [Berichtigung der Anklageschrift], C‑282/20, EU:C:2021:874, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Im 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 heißt es darüber hinaus, dass, wenn sich im Lauf des Strafverfahrens die Einzelheiten des Tatvorwurfs so weit verändern, dass die Stellung der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen in beträchtlichem Umfang betroffen ist, ihnen dies mitgeteilt werden sollte, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, und zwar so rechtzeitig, dass eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.

40      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Mitteilung der rechtlichen Beurteilung der Straftat von entscheidender Bedeutung für die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ist. Diese Mitteilung an die beschuldigte Person oder ihren Rechtsanwalt ist nämlich unerlässlich, um diese Person in die Lage zu versetzen, zu verstehen, was ihr vorgeworfen wird, ihre Verteidigung entsprechend zu organisieren und gegebenenfalls ihre Schuld zu bestreiten, indem sie beweist, dass eines oder mehrere Tatbestandsmerkmale der zugrunde gelegten Straftat nicht gegeben sind.

41      Folglich kann sich jede Änderung der rechtlichen Beurteilung der Tat durch das in einem Strafverfahren in der Sache entscheidende Gericht entscheidend auf die Ausübung der Verteidigungsrechte und die Fairness des Verfahrens im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 auswirken.

42      Dies ist zum einen dann der Fall, wenn die in Betracht gezogene neue Straftat neue Tatbestandsmerkmale enthält, zu denen die beschuldigte Person noch keine Gelegenheit hatte, Argumente vorzubringen.

43      In einer solchen Situation ist es zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, wie es Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 verlangt, offensichtlich erforderlich, dass das in der Sache entscheidende Strafgericht die beschuldigte Person oder ihren Rechtsanwalt rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung unterrichtet, d. h. zu einem Zeitpunkt, der es dieser Person ermöglicht, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und ihr Gelegenheit gibt, insoweit die Verteidigungsrechte konkret und wirksam auszuüben.

44      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das vorlegende Gericht in Erwägung zieht, der ursprünglich von der Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft) vorgenommenen Einordnung als Bestechlichkeit eines polizeilichen Ermittlungsbeamten im Wege der Erpressung unter Amtsmissbrauch nicht zu folgen, sondern stattdessen von einem Betrug oder einer unerlaubten Einflussnahme auszugehen. Die beiden letzteren Straftaten enthalten Tatbestandsmerkmale, zu denen sich BK noch nicht äußern konnte.

45      Zum anderen kann, selbst wenn die in Betracht gezogene neue Straftat im Vergleich zur bisher verfolgten Straftat kein neues Tatbestandsmerkmal enthält und die beschuldigte Person im Lauf des Verfahrens daher Gelegenheit hatte, zu allen Tatbestandsmerkmalen der neuen Straftat Stellung zu nehmen, die Neubeurteilung der Straftat durch das in der Sache entscheidende Strafgericht gleichwohl eine nicht unerhebliche Auswirkung auf die Ausübung der Verteidigungsrechte haben. Es lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass die beschuldigte Person, der die beabsichtigte neue Beurteilung mitgeteilt wird, ihre Verteidigung anders organisiert.

46      In diesem Zusammenhang ist auch völlig unerheblich, dass die neue Beurteilung nicht zur Verhängung einer schwereren Strafe führen kann. Ein faires Verfahren erfordert nämlich, dass die beschuldigte Person ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang ausüben kann. Ob die angedrohte Strafe mehr oder weniger schwer ist, hat jedoch nichts mit der Frage zu tun, ob diese Rechte ausgeübt werden konnten.

47      Daraus folgt, dass ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht, das eine Neubeurteilung der Straftat beabsichtigt, verpflichtet ist, die beschuldigte Person oder ihren Rechtsanwalt rechtzeitig über die neue Beurteilung zu unterrichten, und zwar zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es dieser Person ermöglichen, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und ihr die Gelegenheit geben, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese Beurteilung konkret und wirksam auszuüben, um ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 zu gewährleisten. Ob der beschuldigten Person in einem solchen Zusammenhang eine Frist zu gewähren ist, um ihre Verteidigung vorzubereiten oder zu überprüfen, und wie lang diese Frist sein muss, ist von diesem Gericht anhand aller relevanten Umstände zu bestimmen.

48      Die in der vorstehenden Randnummer vorgenommene Auslegung wird durch die Ziele der Richtlinie 2012/13 bestätigt. Wie sich nämlich aus ihren Erwägungsgründen 3, 9 und 14 ergibt, soll diese Richtlinie durch die Festlegung gemeinsamer Mindestnormen bezüglich der Belehrung über die Rechte und der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten stärken und damit die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen in Strafsachen erleichtern.

49      Wie die Generalanwältin in den Nrn. 59 bis 71 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, trägt die in Rn. 47 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung in Form einer klaren und einfachen Anwendungsregel in Bezug auf die Verpflichtung des in einem Strafverfahren in der Sache entscheidenden Gerichts, die beschuldigte Person rechtzeitig zu informieren, wenn es eine Neubeurteilung der Straftat beabsichtigt, zur Wahrung der Verteidigungsrechte und zu einem fairen Strafverfahren in den Mitgliedstaaten bei. Damit stärkt diese Auslegung im Einklang mit den Zielen der Richtlinie das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und erleichtert damit die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen in Strafsachen.

50      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, ohne die beschuldigte Person rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung zu unterrichten, d. h. zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es ihr ermöglichen, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und damit ohne dieser Person Gelegenheit zu geben, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese neue Beurteilung konkret und wirksam auszuüben. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass diese Beurteilung nicht zur Verhängung einer schwereren Strafe führen kann als die Straftat, derentwegen die Person ursprünglich verfolgt wurde.

 Zur zweiten Frage

51      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht (Urteil vom 22. Dezember 2022, Ministre de la Transition écologique und Premier ministre [Haftung des Staates für die Luftverschmutzung], C‑61/21, EU:C:2022:1015, Rn. 34).

52      Im vorliegenden Fall geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass es im Fall einer Neubeurteilung der Straftat durch das in einem Strafverfahren in der Sache entscheidende Gericht Zweifel an dessen Unparteilichkeit habe, wenn dieses Gericht die Tat von sich aus neu einordne, und an der Wahrung des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, wenn die neue Einordnung von der beschuldigten Person vorgeschlagen worden sei.

53      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Unschuldsvermutung und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, in Art. 3 bzw. in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 garantiert sind.

54      Folglich ist in Anbetracht der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 3 und 7 der Richtlinie 2016/343 sowie Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht von sich aus oder auf Vorschlag der beschuldigten Person eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, und zwar auch dann, wenn es die beschuldigte Person rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung unterrichtet hat, d. h. zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es ihr ermöglicht haben, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und dieser Person damit Gelegenheit gegeben hat, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese neue Beurteilung konkret und wirksam auszuüben.

55      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Rechtsvorschrift, nach der ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht eine Straftat neu beurteilen darf, als solche nicht geeignet ist, die in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 garantierte Unschuldsvermutung oder die Unparteilichkeit dieses Gerichts im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta in Frage zu stellen, und zwar auch dann nicht, wenn es die neue Beurteilung von sich aus vorgenommen hat.

56      Insoweit hat der Gerichtshof bereits anerkannt, dass das Recht eines Mitgliedstaats den Strafgerichten, die für die Sachentscheidung zuständig sind, die Befugnis verleihen kann, den ihnen ordnungsgemäß zur Beurteilung unterbreiteten Sachverhalt anders einzustufen, sofern sie sich vergewissern, dass die Beschuldigten die Gelegenheit zur tatsächlichen und effektiven Ausübung ihrer diesbezüglichen Verteidigungsrechte hatten und rechtzeitig vom Gegenstand der Anklage in Kenntnis gesetzt wurden, d. h. nicht nur über die gegen sie erhobenen tatsächlichen Vorwürfe, auf denen die Anklage beruht, sondern auch in detaillierter Weise über die rechtliche Beurteilung dieser Vorwürfe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, С-646/17, EU:C:2019:489, Rn. 55).

57      Der Umstand, dass ein in der Sache entscheidendes Gericht beschließt, die Straftat ohne entsprechendes Tätigwerden der Staatsanwaltschaft neu zu beurteilen, zeigt, dass dieses Gericht der Ansicht ist, dass die verfolgte Tat, sollte sie erwiesen sein, dieser neuen Beurteilung entsprechen könnte, nicht aber, dass es bereits zur Schuld der beschuldigten Person Stellung genommen hat.

58      Was zweitens das in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 genannte Recht betrifft, sich nicht selbst belasten zu müssen, bedeutet der Umstand, dass die beschuldigte Person eine neue Beurteilung der ihr vorgeworfenen Tat vorschlägt, für sich genommen nicht, dass diese Person ihre Schuld im Hinblick auf die neue Beurteilung anerkennt.

59      Im Übrigen hat das vorlegende Gericht im Rahmen des Ausgangsverfahrens darauf hingewiesen, dass BK zwar angegeben habe, dass die von der Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft) dargestellte Tat als Betrug und nicht als Bestechlichkeit einzuordnen sei, er aber in Bezug auf das Betrugsdelikt keinerlei Schuld anerkannt habe.

60      Jedenfalls gibt es keine unionsrechtliche Vorschrift, die es einer beschuldigten Person verböte, zuzugeben, dass sie eine Straftat begangen hat.

61      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 3 und 7 der Richtlinie 2016/343 sowie Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften, nach denen ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht von sich aus oder auf Vorschlag der beschuldigten Person eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, dann nicht entgegenstehen, wenn dieses Gericht die beschuldigte Person rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung unterrichtet hat, d. h. zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es ihr ermöglicht haben, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und dieser Person damit Gelegenheit gegeben hat, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese neue Beurteilung konkret und wirksam auszuüben.

 Kosten

62      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, ohne die beschuldigte Person rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung zu unterrichten, d. h. zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es ihr ermöglichen, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und damit ohne dieser Person Gelegenheit zu geben, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese neue Beurteilung konkret und wirksam auszuüben. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass diese Beurteilung nicht zur Verhängung einer schwereren Strafe führen kann als die Straftat, derentwegen die Person ursprünglich verfolgt wurde.

2.      Die Art. 3 und 7 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sowie Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

sie nationalen Rechtsvorschriften, nach denen ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht von sich aus oder auf Vorschlag der beschuldigten Person eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, dann nicht entgegenstehen, wenn dieses Gericht die beschuldigte Person rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung unterrichtet hat, d. h. zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es ihr ermöglicht haben, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und dieser Person damit Gelegenheit gegeben hat, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese neue Beurteilung konkret und wirksam auszuüben.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.