Rechtssache C‑110/21 P
Universität Bremen
gegen
Europäische Exekutivagentur für die Forschung (REA)
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 14. Juli 2022
„Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union – Vertretung nicht privilegierter Parteien in Klageverfahren vor den Unionsgerichten – Hochschullehrer – Hochschullehrer, der an der in diesem Klageverfahren vertretenen Hochschule lehrt und Koordinator sowie Teamleiter des streitgegenständlichen Projekts ist – Unabhängigkeitsvoraussetzung – Vorliegen eines unmittelbaren und persönlichen Interesses am Ausgang des Rechtsstreits“
Gerichtliches Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Voraussetzungen betreffend den Unterzeichnenden – Eigenschaft eines Dritten im Verhältnis zu den Parteien – Universität, die von einem mit ihr durch ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis verbundenen Hochschullehrer vertreten wird – Zulässigkeit im Hinblick auf das Unabhängigkeitserfordernis – Hochschullehrer, der Koordinator und Teamleiter des streitgegenständlichen Projekts ist – Keine Auswirkung
(Satzung des Gerichtshofs, Art. 19)
(vgl. Rn. 55-58, 61-64, 66, 67)
Zusammenfassung
Die Universität Bremen ist Koordinatorin eines Forschungskonsortiums, das mehrere europäische Universitäten umfasst und rechtsvergleichende interdisziplinäre Forschung im Bereich des Wohnungsrechts und der Wohnungspolitik in der gesamten Union betreibt.
Am 17. März 2019 reichte die Universität Bremen auf eine Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen bei der Europäischen Exekutivagentur für die Forschung (REA) einen Projektvorschlag ein. Er erhielt eine Note, mit der er auf Platz zehn der eingereichten Bewerbungen kam. Mit Entscheidung vom 16. Juli 2019(1) lehnte die REA den Vorschlag ab, da sie aufgrund von begrenzten Haushaltsmitteln nur die Projekte auf den Plätzen 1 bis 3 auswählen konnte. Am 25. September 2019 erhob die Universität Bremen Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung.
Mit Beschluss vom 16. Dezember 2020(2) wies das Gericht die Klage als offensichtlich unzulässig ab(3), weil der die betreffende Universität vertretende Hochschullehrer im Verhältnis zu dieser kein Dritter sei und daher die in der Satzung des Gerichtshofs(4) vorgesehene Voraussetzung der Unabhängigkeit nicht erfülle.
Auf das von der Universität Bremen eingelegte Rechtsmittel hebt der Gerichtshof den Beschluss des Gerichts auf und stellt fest, dass dieses die Klage zu Unrecht als offensichtlich unzulässig abgewiesen hat. Dabei gibt er Klarstellungen zu der für Vertreter nicht privilegierter Parteien(5) in Klageverfahren vor den Unionsgerichten geltenden Unabhängigkeitsvoraussetzung.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Unionsgerichte bei der Anwendung der unionsrechtlichen Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vertreter nicht privilegierter Parteien eine eingeschränkte Kontrolle ausüben, die darauf beschränkt ist, bei ihnen anhängige Rechtsbehelfe nur dann für unzulässig zu erklären, wenn der betreffende Vertreter offensichtlich nicht in der Lage ist, seine Aufgabe – nämlich seinen Mandanten durch den bestmöglichen Schutz seiner Interessen zu verteidigen – zu erfüllen, so dass er im Interesse des Mandanten von der Vertretung auszuschließen ist.
Sodann prüft der Gerichtshof, ob die in der Rechtsprechung für Anwälte entwickelte Unabhängigkeitsvoraussetzung auch für postulationsfähige Hochschullehrer gilt.
Er stellt fest, dass die beiden Berufe in Bezug auf die Aufgabenbeschreibung nicht vergleichbar sind – der Anwalt hat die Interessen seines Mandanten zu schützen und zu verteidigen, während der Hochschullehrer, dessen Beruf durch die Freiheit der Lehre geschützt ist, unabhängig lehrt und forscht. Wenn Hochschullehrer eine Partei vor den Unionsgerichten vertreten, sind sie dort jedoch nicht in ihrer Eigenschaft als Lehrkraft und Forschende tätig, sondern sie erfüllen die Aufgabe, die auch ein Anwalt wahrnimmt: Sie vertreten eine nicht privilegierte Partei. Außerdem haben Hochschullehrer, die nach dem Recht ihres Mitgliedstaats postulationsfähig sind, die Rechtsstellung, die den Anwälten durch die Satzung des Gerichtshofs(6) eingeräumt wird.
Daraus folgt, wie der Gerichtshof feststellt, dass Hochschullehrer entsprechend dem Ziel der wahrgenommenen Vertretungsaufgabe, die vor allem darin besteht, die Interessen des Mandanten bestmöglich zu schützen und zu verteidigen, dieselben Unabhängigkeitskriterien erfüllen müssen wie Anwälte. Diese Kriterien sind sowohl negativ zu definieren, d. h. durch das Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten, als auch positiv, d. h. unter Bezugnahme auf die berufsständischen Pflichten, was u. a. bedeutet, dass es keine Verbindung geben darf, die den Anwalt offensichtlich darin beeinträchtigt, seinen Mandanten unter Beachtung des Gesetzes sowie der Berufsregeln durch den bestmöglichen Schutz seiner Interessen zu verteidigen.
Zur Frage des fehlenden Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Vertreter und seinem Mandanten stellt der Gerichtshof fest, dass der betreffende Hochschullehrer bei der von ihm vertretenen Universität Bremen im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses beschäftigt ist. Durch diese Rechtsstellung ist er – entsprechend den Voraussetzungen und den Vorschriften des nationalen Rechts – nicht nur als Lehrkraft und Forschender, sondern auch als Vertreter nicht privilegierter Parteien vor den Unionsgerichten unabhängig. Da die Vertretung vor Gericht nicht zu den Aufgaben gehört, die dieser Hochschullehrer an der Universität als Lehrkraft oder Forschender wahrnimmt, hängt diese Vertretung in keiner Weise mit seiner akademischen Tätigkeit zusammen und ist daher auch nicht weisungsgebunden, auch wenn es sich bei der vertretenen Partei um die betreffende Universität handeln sollte.
Außerdem stellt der Gerichtshof fest, dass im Licht seiner Rechtsprechung(7) ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis zwischen einem Hochschullehrer und der von ihm vertretenen Universität unzureichend ist, um anzunehmen, dass sich der Hochschullehrer in einer Situation befindet, in der er die Interessen dieser Universität nicht verteidigen kann.
Da die Satzung des Gerichtshofs Hochschullehrern dieselben Rechte verleiht wie Anwälten(8), ist ferner davon auszugehen, dass ein nach nationalem Recht postulationsfähiger Hochschullehrer grundsätzlich die Unabhängigkeitsvoraussetzung erfüllt, und zwar selbst dann, wenn er die Universität vertritt, bei der er seine akademischen Tätigkeiten ausübt.
In Bezug auf das Fehlen einer Verbindung, die die Fähigkeit des Vertreters beeinträchtigt, seinen Mandanten durch den bestmöglichen Schutz seiner Interessen zu verteidigen, entscheidet der Gerichtshof, dass die Beurteilung des Gerichts, dass der Vertreter der betreffenden Universität – der Koordinator und Teamleiter des vorgeschlagenen Projekts sei und innerhalb des Projekts wesentliche Aufgaben und Funktionen übernehmen sollte – eine persönliche Verbindung zum Gegenstand des Rechtsstreits habe, die seine Fähigkeit beeinträchtige, der Universität die benötigte rechtliche Unterstützung zu gewähren, fehlerhaft ist.
Nach Auffassung des Gerichtshofs hatten die Universität Bremen und der betreffende Vertreter und durch die von diesem im Rahmen des streitgegenständlichen Projekts wahrgenommenen Aufgaben zwar gemeinsame Interessen. Diese Interessen führen jedoch nicht dazu, dass der Vertreter die ihm übertragene Vertretung nicht ordnungsgemäß wahrnehmen könnte.
Da im Übrigen kein Gesichtspunkt vorgebracht wurde, aus dem zu schließen wäre, dass diese Interessen der Prozessvertretung der Universität Bremen durch den Vertreter entgegengestanden hätten, hat das Gericht die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Grenzen seiner Nachprüfungsbefugnis überschritten.
Unter diesen Umständen entscheidet der Gerichtshof, dass das Gericht die Klage zu Unrecht aus dem Grund für unzulässig erklärt hat, dass die Universität Bremen durch den betreffenden Hochschullehrer nicht ordnungsgemäß vertreten sei.