Language of document : ECLI:EU:T:2024:26

Rechtssache T602/22

Veneziana Energia Risorse Idriche Territorio Ambiente Servizi SpA (Veritas)

gegen

Europäische Kommission

 Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 24. Januar 2024

„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Dokument, das im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens zur Erstattung der Mehrwertsteuer übermittelt wurde – Aus einem Mitgliedstaat stammendes Dokument – Verweigerung des Zugangs – Vorherige Zustimmung des Mitgliedstaats – Ausnahme zum Schutz von Gerichtsverfahren – Begründungspflicht“

1.      Nichtigkeitsklage – Klagegründe – Fehlende oder unzureichende Begründung – Klagegrund, der sich von dem die materielle Rechtmäßigkeit betreffenden Klagegrund unterscheidet

(Art. 263 und 296 AEUV)

(vgl. Rn. 18)

2.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Begründungspflicht – Anwendungsbereich

(Art. 296 AEUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4)

(vgl. Rn. 21)

3.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Aus einem Mitgliedstaat stammende Dokumente – Möglichkeit für den Mitgliedstaat, das Organ zu ersuchen, Dokumente nicht zu verbreiten – Pflicht des Mitgliedstaats, ein spezielles förmliches Ersuchen einzureichen, um einen Widerspruch zu erheben – Fehlen

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 5)

(vgl. Rn. 23)

4.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Aus einem Mitgliedstaat stammende Dokumente – Pflichten des betreffenden Organs bei der Konsultation des Mitgliedstaats vor Erlass eines Beschlusses – Verstoß – Folgen

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 4 und 5)

(vgl. Rn. 24, 25)

5.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Aus einem Mitgliedstaat stammende Dokumente – Möglichkeit für den Mitgliedstaat, das Organ zu ersuchen, Dokumente nicht zu verbreiten – Anwendungsbereich

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1 bis 3 und 5)

(vgl. Rn. 33, 35-37)

6.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Aus einem Mitgliedstaat stammende Dokumente – Möglichkeit für den Mitgliedstaat, das Organ zu ersuchen, Dokumente nicht zu verbreiten – Auswirkungen auf das Verfahren – Dem Mitgliedstaat und dem Unionsorgan obliegende Pflicht zur Begründung der Entscheidung über die Zugangsverweigerung – Anwendungsbereich

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1 bis 3 und 5)

(Rn. 38-41, 48-50)

7.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Aus einem Mitgliedstaat stammende Dokumente – Möglichkeit für den Mitgliedstaat, das Organ zu ersuchen, Dokumente nicht zu verbreiten – Zuständigkeit des Unionsrichters, die Stichhaltigkeit der Begründung zu prüfen – Umfassende Prüfung der Anwendbarkeit der Ausnahmen, die auf der Grundlage der materiellen Beurteilung durch diesen Mitgliedstaat angeführt wurden

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1 bis 3 und 5)

(vgl. Rn. 52)

8.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz von Gerichtsverfahren – Anwendungsbereich – Dokumente, die nicht nur für die Zwecke eines Gerichtsverfahrens erstellt wurden, die aber die Verteidigungsmöglichkeiten der nationalen Behörden in diesem Verfahren beeinträchtigen können – Einbeziehung – Voraussetzungen

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich)

(vgl. Rn. 54-58, 61, 62, 64-67)

9.      Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz von Gerichtsverfahren – Anwendungsbereich – Dokumente, die nicht nur für die Zwecke eines Gerichtsverfahrens erstellt wurden, die aber die Verteidigungsmöglichkeiten der nationalen Behörden in diesem Verfahren beeinträchtigen können – Gewährleistung der Waffengleichheit in den nationalen Gerichtsverfahren – Beurteilungskriterien – Wahrscheinlichkeit, dass ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen stellt – Ausschluss

(Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich)

(vgl. Rn. 69-71)

Zusammenfassung

Das Gericht, das mit einer Klage auf Nichtigerklärung einer Entscheidung der Europäischen Kommission über die Verweigerung des Zugangs zu einem aus einem Mitgliedstaat stammenden Dokument befasst ist, präzisiert mit seinem Urteil die Unterscheidung zwischen dem formellen Erfordernis der Begründung der Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten und der materiellen Rechtmäßigkeit einer solchen Verweigerung. Im Übrigen werden darin die Modalitäten für den Erhalt der in Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001(1) vorgesehenen vorherigen Zustimmung zur Verbreitung von aus Mitgliedstaaten stammenden Dokumenten sowie die Voraussetzungen für die Anwendung der Ausnahme zum Schutz von Gerichtsverfahren vor den nationalen Gerichten(2) bei Vorliegen solcher Dokumente und im Kontext eines möglichen Vorabentscheidungsersuchens festgelegt.

Im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens(3), das aufgrund einer Beschwerde der Klägerin, der Veneziana Energia Risorse Idriche Territorio Ambiente Servizi SpA (Veritas), eingeleitet wurde, ersuchte die Kommission die italienischen Behörden um Klarstellungen zu den Modalitäten der Erstattung der zu Unrecht auf die italienische Umwelthygienegebühr (TIAI) erhobenen Mehrwertsteuer. Nachdem ihr von der Kommission mitgeteilt wurde, dass letztere angesichts des Antwortschreibens der italienischen Behörden beschlossen habe, kein Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtbeachtung des Unionsrechts durch diese Behörden einzuleiten, ersuchte die Klägerin die Kommission um eine Kopie der Antwort der italienischen Behörden.

In ihrer ursprünglichen Antwort verweigerte die Kommission den Zugang zu diesem Antwortschreiben mit der Begründung, dass seine Verbreitung den Schutz in Italien anhängiger Gerichtsverfahren nach Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 beeinträchtigen würde. Mit der angefochtenen Entscheidung(4) bestätigte die Kommission die Verweigerung des Zugangs zum Schreiben der italienischen Behörden gemäß Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 auf der Grundlage der in Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich dieser Verordnung vorgesehenen Ausnahme.

Würdigung durch das Gericht

Als Erstes weist das Gericht darauf hin, dass es sich bei der Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Ein Rechtsakt ist im Sinne der förmlichen Begründungspflicht unzureichend begründet, wenn er nicht erkennen lässt, warum, auf welcher Grundlage oder aus welchem Grund er erlassen wurde. Es kann sein, dass die Begründung eines Rechtsakts, die die Gründe und die Rechtfertigung für seinen Erlass angibt, zwar hinreichend bekannt und verständlich ist, aber nicht ausreicht, um den Rechtsakt rechtlich zu rechtfertigen, da sie nicht substantiiert, schlüssig oder mit den geltenden Bestimmungen vereinbar ist.

Was als Zweites das Vorbringen der Klägerin in Bezug auf die angeblich rechtswidrige Stützung der angefochtenen Entscheidung auf Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 betrifft, weist das Gericht, da die italienischen Behörden – insbesondere vor der ursprünglichen Antwort der Kommission – der Verbreitung nicht tatsächlich widersprochen hätten, darauf hin, dass es für die Erhebung eines Widerspruchs weder nach dieser Bestimmung noch nach der Rechtsprechung erforderlich ist, dass der Mitgliedstaat, der das fragliche Dokument verfasst hat, zuvor ein spezielles förmliches Ersuchen an das betreffende Organ stellt, und dass es auch nicht erforderlich ist, dass sich der Mitgliedstaat ausdrücklich auf diese Bestimmung beruft. Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001, bei dem es sich um eine verfahrensrechtliche Bestimmung handelt, die das Verfahren für den Erlass einer Entscheidung der Union betrifft, enthält nichts, was darauf hindeutete, dass der Mitgliedstaat ein förmliches Ersuchen stellen muss, ohne das der von ihm geäußerte Widerspruch beim Erlass dieser Entscheidung nicht berücksichtigt werden könnte. Der Mitgliedstaat muss somit nicht, um der Verbreitung eines seiner Dokumente zu widersprechen, in zwei Schritten vorgehen, nämlich zunächst die Kommission auffordern, das fragliche Dokument nicht ohne seine vorherige Zustimmung zu verbreiten, und dann die Zustimmung verweigern.

Daraus folgt auch, dass der Umstand, dass der betreffende Mitgliedstaat gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1049/2001 konsultiert wird, die anschließende Anwendung von Art. 4 Abs. 5 dieser Verordnung nicht ausschließt. Diese beiden Bestimmungen sind nämlich nicht als einander ausschließend konzipiert worden, sondern vielmehr als eine Bestimmung, die Dritte im Allgemeinen betrifft (Abs. 4), und eine Bestimmung, die für bestimmte Dritte, nämlich die Mitgliedstaaten, gilt und die dem Vertrag von Amsterdam beigefügte Erklärung Nr. 35 wieder aufnimmt (Abs. 5).

Ferner stellt das Gericht fest, dass der betreffende Mitgliedstaat, um die wirksame Anwendung von Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 sicherzustellen, insbesondere um ihm die Möglichkeit zu geben, zu verlangen, dass seine vorherige Zustimmung zur Verbreitung eines von ihm stammenden Dokuments eingeholt wird, darüber informiert werden muss, dass ein Antrag auf Zugang zu diesem Dokument gestellt wurde, was gerade Zweck der in Art. 4 Abs. 4 dieser Verordnung vorgesehenen Konsultation ist.

Als Drittes weist das Gericht das Vorbringen der Klägerin zurück, dass die bloße Behauptung der besonderen Wahrscheinlichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens durch die betreffenden italienischen Gerichte nicht ausreiche, um die Verweigerung der Verbreitung des Schreibens der italienischen Behörden zu rechtfertigen.

Das Gericht weist darauf hin, dass die Anwendbarkeit der Ausnahme zum Schutz von Gerichtsverfahren auf Dokumente, die nicht im Rahmen eines bestimmten Gerichtsverfahrens erstellt wurden, zwar voraussetzt, dass die angeforderten Dokumente zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, mit der der Zugang zu ihnen verweigert wird, einen relevanten Bezug entweder zu einem Gerichtsverfahren, das vor einem Unionsgericht anhängig ist und hinsichtlich dessen sich das betreffende Organ auf die Ausnahme beruft, oder zu einem Verfahren aufweisen, das bei einem nationalen Gericht anhängig ist, sofern in diesem Verfahren eine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts aufgeworfen wird, so dass angesichts des Kontexts der Rechtssache ein Ersuchen um Vorabentscheidung besonders wahrscheinlich ist.

Diese Rechtsprechung betrifft jedoch von den Organen selbst erstellte Dokumente und nicht, wie im vorliegenden Fall, Dokumente, die aus einem Mitgliedstaat stammen und einem Organ übermittelt wurden. Wenn es sich nämlich um ein von einem Organ erstelltes Dokument handelt, können die Waffengleichheit und die Verteidigungsmöglichkeiten des betreffenden Organs nur im Zusammenhang mit Verfahren beeinträchtigt werden, an denen es beteiligt ist, d. h. in Verfahren, die grundsätzlich vor einem Unionsgericht stattfinden.

Dagegen wird im Fall eines Dokuments, das von einem Mitgliedstaat stammt und mit Verfahren zusammenhängt, die bei den nationalen Gerichten anhängig sind und an denen – wie im vorliegenden Fall – der Staat beteiligt ist, die Gewährleistung der Waffengleichheit in diesen nationalen Verfahren berücksichtigt. Daraus folgt, dass die Frage, ob ein Vorabentscheidungsersuchen der mit den fraglichen nationalen Verfahren befassten italienischen Gerichte besonders wahrscheinlich war, hier unerheblich ist.


1      Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43).


2      Gemäß Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1049/2001.


3      EU-Pilotverfahren 9456/19/TAXUD über die Erstattung der Mehrwertsteuer, die zu Unrecht auf die italienische Umwelthygienegebühr (die durch Art. 49 des Decreto legislativo n. 22 [Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 22] vom 5. Februar 1997 eingeführte Tariffa di igiene ambientale) erhoben wurde.


4      Entscheidung C(2022) 5221 final der Kommission vom 15. Juli 2022.